Nach dem Prozessende

Bundesanwaltschaft und Verteidigung haben Revision eingelegt

Das Urteil im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ist gesprochen: lebenslang für Beate Zschäpe und Haftstrafen für die anderen vier Angeklagten, von denen zur Zeit aber niemand mehr in Haft sitzt. Nach Ende des Prozesses stellt sich die Frage, wie die juristische Aufarbeitung des NSU-Terrors weitergeht.

In der Öffentlichkeit sorgte das Urteil für Kritik: Nicht mit einer Silbe wurden die Betroffenen des NSU-Terrors in der mündlichen Urteilsbegründung bedacht. Mit Ausnahme der Strafen für Zschäpe und für den einzigen voll geständigen Angeklagten, Carsten Schultze, blieb das Strafmaß unter den Forderungen der Bundesanwaltschaft (BAW). André Eminger erhielt sogar einen Teilfreispruch und wurde direkt nach der Urteilsverkündung aus der Haft entlassen. Auf der Empore des Saals A101 brachen die anwesenden Neonazis deshalb in Jubel aus.

Raus aus der Haft

Eminger wurde zwar wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer geringen Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, von den Vorwürfen der Beihilfe zum versuchten Mord und zum bewaffneten Raub aber freigesprochen. Nachdem die BAW in ihrem Plädoyer zwölf Jahre Haft für ihn gefordert hatte, hatte der Senat ihn im September 2017 nochmals in U-Haft genommen. Seine Haftentlassung am Tag der Urteilsverkündung war juristisch folgerichtig. Dass Ralf Wohlleben nicht auch direkt aus der Haft entlassen wurde, macht aus juristischer Sicht hingegen nicht viel Sinn. Wohlleben war zwar wegen der Lieferung der Tatwaffe „Ceska 83“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, saß aber schon seit November 2011 in U-Haft. Vermutlich um in der Öffentlichkeit nicht als zu milde zu wirken, wartete der Senat lieber den unvermeidlichen Antrag der Wohlleben-Verteidigung auf Haftentlassung ihres Mandanten ab.

Keine Woche nach der Urteilsverkündung, am Nachmittag des 17. Juli 2018, konnte Wohlleben die JVA München-Stadelheim still und leise verlassen. In der Begründung des Antrags auf Aufhebung des Haftbefehls hatten Wohllebens Anwält_innen angeführt, ihr Mandant könne nach seiner Entlassung sofort in der Nähe seines Wohnorts eine Arbeitsstelle antreten. Wohlleben lebt nun im sachsen-anhaltinischen Bornitz, einem Ortsteil der Gemeinde Elsteraue.

Dort lebt auch Jens Bauer, Chef der völkischen Artgemeinschaft und einer der eifrigsten Unterstützer Wohllebens während des Prozesses. Bauer besuchte diverse Male den Prozess, er begleitete auch mehrfach Jacqueline Wohlleben. Diese durfte — wie später auch Susann Eminger — als sogenannter rechtlicher Beistand während der Hauptverhandlung neben ihrem Ehemann Platz nehmen. Gemeinsam mit dem Neonazi-Kader Enrico Marx präsentierte Bauer nach Ende des 429. Verhandlungstages auf dem Vorplatz des Münchner Strafjustizzentrums ein Banner mit den Konterfeis von Wohlleben und Eminger und der Aufschrift „Gemeinschaft statt Isolation! Freiheit für Wolle & André“.

Zeit-Online zufolge wurde Wohlleben nach seiner Haftentlassung am Steuer des Wagens von Bauers Firma gesehen. Und auch André Eminger macht — vom Urteil offenbar unbeeindruckt — in der Neonazi-Szene weiter. Nach Recherchen des MDR besuchte er bereits kurz nach seiner Haftentlassung ein von der Neonazi-„Bruderschaft“ Turonen organisiertes Konzert in Kirchheim (Thüringen).

Revisionsverfahren

Aber wie geht es juristisch für Eminger, Wohlleben und die anderen Angeklagten weiter? Alle fünf Angeklagten haben das Urteil angefochten, die BAW nur hinsichtlich des Teilfreispruchs von Eminger. Die Nebenklage kann nur gegen (Teil-)Freisprüche vorgehen, nicht aber gegen die Höhe des Strafmaßes. Daher hat niemand der Nebenkläger_innen Revision eingelegt. Aufgrund der langen Prozessdauer hat der Senat nach der mündlichen Urteilsverkündung theoretisch 93 Wochen Zeit, um das schriftliche Urteil vorzulegen. Angesichts der inhaltlichen Dürftigkeit der mündlichen Zusammenfassung wäre es jedoch überraschend, wenn er so viel Zeit benötigen würde.

Erst nach Zustellung des schriftlichen Urteils, so erläutert es das Blog NSU-Nebenklage, müssen die Prozessbeteiligten ihre Revisionen begründen. Dann beginnt ein schriftliches Verfahren, das noch einige Monate in Anspruch nehmen wird, bevor der Bundesgerichtshof über die Revisionen entscheiden kann. Zu der Revision der BAW findet sehr wahrscheinlich eine kurze Revisionshauptverhandlung in Karlsruhe statt. Revisionen der Verteidigung dagegen werden üblicherweise im schriftlichen Verfahren bearbeitet. Mit einem rechtskräftigen Urteil kann also frühestens Mitte 2019 gerechnet werden. Wird das Urteil ohne große Änderungen am Strafmaß bestätigt, müssten Wohlleben und Eminger wohl noch einmal in Haft. Für Haftentscheidungen ist bei beiden weiterhin der Staatsschutzsenat des OLG München zuständig.

Eminger hat etwa die Hälfte seiner Strafe abgesessen, Wohlleben beinahe zwei Drittel, nach denen üblicherweise überprüft wird, ob der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Eigentlich ist es unüblich für ein Staatsschutzverfahren, dass die Zweidrittelregelung Anwendung findet. Björn Elberling, Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, auf Nachfrage der LOTTA: „Der deutsche Rechtsstaat und die Nazis, das ist ja immer ein Kapitel für sich. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass das OLG München — etwa mit der Begründung, dass es den NSU ja nicht mehr gäbe — hier die Zweidrittelregelung anwendet.“

Weitere Verfahren

Die BAW ermittelt noch gegen weitere mutmaßliche NSU-Unterstützer_innen. Ob es gegen einzelne dieser Verdächtigen noch Prozesse geben wird, ist nicht bekannt, erscheint derzeit aber eher unwahrscheinlich. Bereits im November 2013 hatte der Vertreter der BAW, Jochen Weingarten, vor Gericht erklärt, das Verfahren gegen André Kapke sei „einstellungsreif“ — eingestellt wurde es aber bis heute nicht. Nebenklageanwalt Elberling befürchtet, dass die weiteren Ermittlungsverfahren im NSU-Komplex bald eingestellt werden.

Die Angehörigen von drei NSU-Opfern wollen hingegen die juristische Aufarbeitung weiter forcieren. Bereits 2016 hatten sie eine Staatshaftungsklage gegen die Länder Thüringen und Bayern sowie gegen den Bund eingereicht. Dabei geht es um das Versagen der Behörden auf der Suche nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im Jahr 1998. Die Klage ruht derzeit, da der Freistaat Thüringen zwischenzeitlich einen Hilfsfonds für die Opfer und Angehörigen aufgelegt hat. Abdul Kerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek, betonte bei einer Pressekonferenz kurz nach dem Münchener Urteil, dass es bei der Klage darum geht, dass der Staat eingesteht, versagt zu haben. Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler kündigte an, das Verfahren könne bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.

Fest steht: Das Urteil hat rechte Terrorstrukturen nicht geschwächt. Als kürzlich in Chemnitz und Köthen tausende Rechte auf die Straße gingen, waren auch Unterstützer aus dem NSU-Umfeld mit dabei. Und die später festgenommenen Neonazis von Revolution Chemnitz wollten laut Chat-Protokollen mit ihren geplanten Terror-Anschlägen die „Kindergarten-Vorschulgruppe“ NSU sogar übertreffen.

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Robert Andreasch