Brauchen Bewegungen Archive?

Das Beispiel „Archiv für alternatives Schrifttum“ (afas) in Duisburg

Am Rande von Protest- und Alternativbewegungen entstehen meist auch Archive. Manchmal werden sie bewusst aufgebaut, manchmal bilden sie sich unter der Hand als Begleitprodukte politischer Arbeit. Manche Archive sind gut geordnet, andere lassen nur schwer eine Ablagesystematik erkennen. Manchmal nehmen sie ziemlich viel Platz in Anspruch, manchmal füllen sie nur ein paar Regale. Spätestens dann, wenn sich die Gruppen und Bewegungen auflösen, die sie beherbergen, stellt sich die Frage nach dem Sinn und der Zukunft dieser Sammlungen.

Die Verantwortung von Archiven

Der Satz „Archive sind das Gedächtnis der Gesellschaft“ ist leicht dahingesagt. Auch der Satz „Freie Archive sind das Gedächtnis der Bewegungen“ wird kaum auf Widerspruch stoßen. Durch Archive und die in ihnen lagernden Dokumente wird es erst möglich, zurückliegende Ereignisse und Debatten nachzuvollziehen und daraus zu lernen. Soweit der leicht herzustellende Konsens. Doch bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass viele Freie Archive eher ein Schattendasein am Rande der Bewegungen fristen. Gründe dafür sind schnell gefunden: Die politischen Aktivitäten haben Priorität, Bewegungen schauen nach vorn und nicht zurück, die Zeit der AkteurInnen ist begrenzt, der Aufbau eines Archivs erfordert Kontinuität und gewisse Fachkenntnisse – und irgendwann werden Archive zum Platz- und Kostenfaktor.

Dazu kommt, dass Archive auch unbequem sein können – wegen der historischen Wahrheiten, die sie bergen. Personen und Gruppen entwickeln sich weiter und werden manchmal nicht gern an frühere Aktionen und politische Positionen erinnert – und dann ist es einfacher, bestimmte Diskussionen und Aktivitäten unter den Teppich zu kehren, als sich damit auseinanderzusetzen. Genau hier fängt die historische Verantwortung von Freien Archiven an: Dadurch, dass sie authentische Dokumente aufbewahren und zugänglich machen, ermöglichen sie erst eine empirisch abgesicherte Auseinandersetzung mit früheren Bewegungen und Ereignissen. (Dass staatliche Archive diese Funktion nicht erfüllen können, selbst wenn sie wollten, sei hier nur am Rande erwähnt.) Neben dieser kritischen haben die Freien Archive aber noch eine andere Funktion: Sie sind die Orte, an denen Gruppen und Bewegungen sich der eigenen Geschichte, der eigenen Aktivitäten und der eigenen politischen Identität vergewissern können.

Schafft zwei, drei, viele Archive!

Die meisten Freien Archive sind seit Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre entstanden. Die studentische Revolte der 1960er Jahre lag lange zurück, die Alternativ- und Protestbewegungen waren im Laufe der 1970er Jahre längst über die Universitäten hinausgewachsen. Sie hatten maoistische, hedonistische, feministische, alternative, trotzkistische, esoterische und allerlei andere Strömungen hervorgebracht. Sie hatten Häuser besetzt, sich aufs Land zurückgezogen, alternative Betriebe aufgebaut, das Thema Umwelt entdeckt, Frauenzusammenhänge gebildet oder Kaderparteien gegründet. Es war ein buntes und disparates, aber durchaus reizvolles Milieu entstanden. Parallel zu dieser Entwicklung entstand eine ebenso bunte und unüberschaubare Gegenöffentlichkeit in Form von Alternativzeitschriften, Pamphleten, Grauer Literatur, Flugblättern und Handzetteln, die in linken Buchläden, auf Mensatischen, in besetzten Häusern, Wohngemeinschaften und den Zentren links-alternativer Gruppen auslagen. Quasi unter der Hand, entlang der politischen Bedürfnisse der Gruppen, entstanden archivartige Sammlungen, in denen die eigene Geschichte, aber auch die Dokumente anderer Gruppen, die man politisch bekämpfte oder mit denen man freundschaftlich-solidarisch zusammenarbeitete, archiviert wurden. Systematisch war das alles nicht, es herrschte auch eine gewisse Fluktuation im Bestand, denn viele Materialien, die jemand ausgeliehen hatte, um ein Flugblatt oder einen Artikel zu schreiben, kamen nie wieder zurück in die informellen Archive. Dennoch entstanden zu diesem Zeitpunkt an verschiedenen Orten Initiativen, die damit begannen, die Archivierung der links-alternativen Geschichte in die Hand zu nehmen. Eines dieser Archive ist das afas.

Das Beispiel afas

Der Trägerkreis des Archivs bildete sich 1984. Der gemeinnützige, wissenschaftlichen Zwecken dienende Trägerverein wurde 1985 gegründet. Durch ihn war gewährleistet, dass die dem Archiv hoffentlich bald zufließenden Sammlungen auf Dauer gesichert werden konnten und nicht wieder privatisiert werden durften. Alle Gründungsmitglieder waren durch die Studierendenbewegung politisiert, die meisten arbeiteten inzwischen in sozialen Berufen, ein Lehrer, eine Rechtsanwältin, eine Bibliothekarin, ein linker Pfarrer und ein Politologe waren auch dabei. Die meisten Gründungsmitglieder lebten im Ruhrgebiet, und so lag es nahe, dort nach geeigneten Räumlichkeiten zu suchen. Als im linksrheinisch gelegenen Duisburger Stahlarbeiter-Stadtteil Rheinhausen eine alte Schule zu einem Kultur- und Freizeitzentrum umgewandelt wurde, bezog das afas dort seine bis heute genutzten Räumlichkeiten.

Durch den Gründerkreis war klar: Das afas war von Anfang an kein Archiv einer bestimmten Bewegung, seine Mitglieder waren mit keiner politischen Szene eng verbunden. Vielmehr wollte das afas dafür sorgen, dass die Geschichte der linken und alternativen Bewegungen nicht zu einer Geschichte der verschollenen Dokumente wird. Es sollte für die Bewegungen nützlich sein, aber auch StudentInnen und WissenschaftlerInnen zur Verfügung stehen. Der Sammelschwerpunkt lag zunächst auf Nordrhein-Westfalen, doch von Beginn an wurden auch wichtige Materialien aus der ganzen Bundesrepublik gesammelt, denn wie sollte man die lokalen Publikationen und Aktivitäten der diversen politischen Gruppen verstehen, wenn man nicht deren zentrale Veröffentlichungen kannte?! Obwohl der afas-Gründerkreis eher mit der antiautoritären, linkssozialistisch-undogmatischen und gewaltfreien Linken sympathisierte, bestand Einigkeit darin, dass alle Strömungen der Neuen Linken gesammelt werden sollten. Um sich mit stalinistischen, trotzkistischen, anarchistischen, hedonistischen, militant internationalistischen, esoterischen oder pazifistischen Gruppen auseinandersetzen zu können, muss man ihre Texte kennen. Also gehören sie ins afas. So standen schon bald friedlich die Materialien all der Gruppen beieinander, die sich auf Teach-Ins heftige politische Debatten lieferten oder sich gar auf der Straße bekämpften.

Systematisch bauten wir unsere Kontakte zu Projekten, Redaktionen und Personen aus, die in den verschiedenen Alternativ- und Protestbewegungen gearbeitet hatten oder noch arbeiteten. Das doppelte Ziel dabei war immer, einerseits die eigenen Bestände zu vervollständigen, andererseits aber auch gefährdete Sammlungen vor den Papiercontainern zu bewahren. So landeten hunderte von Schriftstücken aus der ganzen Republik in unseren Regalen, und was in den ersten Jahren im Kleinen angefangen hatte, setzte sich im Großen fort, indem Einrichtungen wie die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner, die Initiative Frauenpresseagentur, verschieden Allgemeine Studentenausschüsse, maoistische und trotzkistische Gruppen, die Anti-Apartheid-Bewegung, die BUKO-Kampagne „Stoppt den Rüstungsexport“, das Duisburger Friedensforum, der Mainzer Arbeitskreis Südliches Afrika, die Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika oder das Rheinische JournalistInnenbüro uns ihre Archive entweder komplett oder zu großen Teilen überließen. Die bisher größte Herausforderung war es, Anfang 2011 das gesamte, rund 400 Regalmeter umfassende Archiv des Umweltzentrums Don Quichote aus Münster zu übernehmen. Ein Teil dieser Materialien musste allerdings eingelagert werden, weil die fünf Räume, die das afas inzwischen in der alten Schule belegt, bis unter die Decke vollgestopft sind.

Regalmeter mit Ausblick

Einige Zahlen: Die afas-Kataloge enthalten 7.500 Zeitschriften-Titel, 11.000 Broschüren (Graue Literatur), über 1.000 Verzeichnungseinheiten von Archivalien, 3.000 Plakate und Transparente sowie ein Register der Musikzeitschrift SPEX der Jahre 1980 bis 2002. Ferner gehören zur afas-Sammlung rund 7.000 nicht erschlossene Plakate, etwa 50.000 Flugblätter, circa 8.000 Bücher, diverse Kisten und Kästen mit Fotos, Tonbändern, Buttons, Flyern und Spuckis sowie zahlreiche, noch nicht erschlossene Sammlungen von Gruppen und Personen aus den verschiedenen Bewegungen. Insgesamt füllen die Materialien mehr als 1.500 Regalmeter.

Seit vielen Jahren bemüht sich das afas verstärkt um die Rettung von Archivgut, also um gruppeninterne Protokolle, Vorstandsunterlagen, handschriftliche Notizen und Korrespondenzen. Diese Materialien bilden eine wichtige Ergänzung zu den für die Veröffentlichung bestimmten Dokumenten, weil sie einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen und interne Diskussions- und Entscheidungsprozesse transparent machen, aber auch zeigen, welche externen Briefkontakte eine Gruppe hatte, ob PolitikerInnen oder Prominente angeschrieben wurden und wie sie reagiert haben (Bemerkung am Rande: Gerade hier, beim eigentlichen Archivgut, gibt es großen Nachholbedarf, denn viele Freie Archive kümmern sich überhaupt nicht um solche Materialien!). Selbstverständlich wird bei der Übernahme derartiger Unterlagen auf den Persönlichkeitsschutz geachtet: Im Zweifelsfall werden sie für einen bestimmten Zeitraum gesperrt.

Das afas funktionierte (und funktioniert bis heute) nach folgendem Prinzip:

  1. Es gibt einen kleinen, aber verbindlichen Trägerverein, der für die finanzielle Autonomie des Archivs sorgt. Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden aus diesem Kreis werden Miete, Porto, Telefon, Bürobedarf, Reisekosten etc. bezahlt. Dadurch gerät der Ort der Sammlung nicht in Gefahr, selbst wenn keinerlei Zuschüsse fließen.

  2. Die politischen Gruppen, Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen, Redaktionen und Projekte überlassen uns Freiabos ihrer Publikationen, aber auch diejenigen Materialien aus ihrer Geschichte, die sie nicht mehr brauchen. Dazu gehören zum Beispiel die Austauschabos, die sie als Gegengabe für ihre eigenen Publikationen von anderen Projekten erhalten haben.

  3. Es gibt nach wie vor ehrenamtliche Arbeit im afas, doch um Erschließungsarbeiten, Öffnungszeiten, den Ausbau der Sammlung etc. zu gewährleisten, sind bezahlte Stellen erforderlich. Die Mittel dafür werden beim Land NRW, bei der Stadt Duisburg, bei Stiftungen oder sonstigen Geldgebern eingeworben – mit wechselndem Erfolg. Feste Stellen gibt es nach wie vor nicht. Sie wären aber dringend erforderlich, um das Archiv dauerhaft abzusichern. Neben der eigentlichen Archivarbeit befasst sich das afas daher zur Zeit verstärkt mit Fragen der eigenen Zukunft.

Fazit: Freie Archive sind notwendig für die Sicherung der Geschichte von unten. Ob sie Bestand haben, hängt nicht nur von öffentlicher Förderung ab, sondern auch davon, ob die Bewegungen sie wollen und unterstützen.

Kontakt

Kontakt und weitere Informationen über afas-archiv.de.

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