Protestfotografie FFM

Beuths Kampf um Deutungshoheit

Die „Besondere Aufbauorganisation Hessen R“

Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde der hessische Polizeiapparat im Bereich „politisch motivierter Kriminalität“ stark ausgebaut. Innenminister Peter Beuth kann seither mit beeindruckenden Zahlen in „Hessens Kampf gegen Rechts“ aufwarten. Welche Qualität und Konsequenzen die Maßnahmen haben, ist für die Öffentlichkeit allerdings kaum nachvollziehbar. Ziel der Strategie ist die Kontrolle über Informationen und damit auch die Deutungshoheit über das Themenfeld „Rechtsextremismus“.

Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde der hessische Polizeiapparat im Bereich „politisch motivierter Kriminalität“ stark ausgebaut. Innenminister Peter Beuth kann seither mit beeindruckenden Zahlen in „Hessens Kampf gegen Rechts“ aufwarten. Welche Qualität und Konsequenzen die Maßnahmen haben, ist für die Öffentlichkeit allerdings kaum nachvollziehbar. Ziel der Strategie ist die Kontrolle über Informationen und damit auch die Deutungshoheit über das Themenfeld „Rechtsextremismus“.

„Hessen geht mit voller Kraft gegen Neonazis vor“, titelte der Wiesbadener Kurier im Juli 2019. Mit einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung hatte der hessische Innenminister Peter Beuth die Gründung der Besonderen Aufbauorganisation Hessen R (BAO Hessen R) bekanntgegeben. Man wolle, so Beuth, den Druck auf die „rechtsextreme“ Szene erhöhen und ihr konsequent auf den Füßen stehen. In den Wochen nach dem Mord an ihrem Parteifreund Walter Lübcke stand die hessische CDU unter Zugzwang. Nur zwei Tage nachdem Stephan Ernst mittels eines DNA-Treffers als Verdächtiger ermittelt und festgenommen worden war, hatte die antifaschistische Rechercheplattform exif ausführlich über seine Einbindung in die Neonazi-Szene berichtet. Zudem hatte der hessische Polizeiskandal rund um den NSU 2.0-Komplex (siehe Seite 14) Hessen bundesweit in die Schlagzeilen und Beuth erneut in die Kritik gebracht. Mit den hoch getakteten Maßnahmen gegen Neonazis soll nun das Vertrauen in die Behörde wiederhergestellt werden.

Nicht kleckern, sondern klotzen — Die „BAO Hessen R“

Als direkte Reaktion auf den Mord an Walter Lübcke wurde die BAO Hessen R mit 140 Beamt*innen eingerichtet. Sie sollte zusätzlich zu der im Mordfall ermittelnden SoKo Limecke des Landeskriminalamtes gegen die Neonazi-Szene vorgehen, war aber im Mordfall selbst nicht tätig. Aufgebaut wurde sie aus der BAO Herkules, einer Einheit, die Mitte Juni 2019 im Polizeipräsidium Nordhessen gegründet worden war.

Die BAO Hessen R ist beim Landeskriminalamt angesiedelt und hat zusätzliche Unterabteilungen in den Staatsschutzabteilungen der sieben hessischen Polizeipräsidien. Die Einheit kann auch Verfahren, die nicht im Bereich „politisch motivierte Kriminalität“ liegen — wie zum Beispiel Waffenrechtsverstöße –, an sich ziehen. Innerhalb der BAO wurde die Taskforce Capture eingerichtet, die sich auf die Vollstreckung offener Haftbefehle konzentriert. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Hasspostings im LKA kann die BAO auch bei Straftaten im Netz tätig werden.

(Selbst-)Lob für den Innenminister

Tatsächlich kann das Innenministerium nun mit Zahlen aufwarten, die schier staunen lassen: Die Einheit habe seit ihrer Gründung mehr als 365 konzentrierte Maßnahmen gegen die „rechte Szene“ durchgeführt. Sie habe 255 Durchsuchungen sowie 1.300 Personenkontrollen durchgeführt, etwa 4.100 Gegenstände sichergestellt, 75 Szene-Veranstaltungen „begleitet“ sowie 145 Haftbefehle gegen 136 Personen vollstreckt, so die Landesregierung in einer Antwort auf eine „Kleine Anfrage“ der Partei Die Linke im hessischen Landtag im März 2022.

Das Innenministerium lässt sich kaum eine Gelegenheit entgehen, die Zahlen medial zu platzieren und mit den immer gleichen Formulierungen die Bedeutung der BAO zu betonen. Mit der PR-Strategie wird versucht, die Schlagzeilen zu bestimmen. Detailliert wird dabei auf die Anzahl der Maßnahmen, die Durchsuchungen und Sicherstellungen, die Personenkontrollen, die „begleiteten“ Szene-Veranstaltungen sowie die vollstreckten Haftbefehle eingegangen. Auch werden immer wieder die gleichen Phrasen für die Ziele der Einheit verwendet, ob in Interviews und Antworten auf Parlamentsanfragen, im Innenausschuss oder in Pressemitteilungen des Innenministeriums oder des LKA. In „Hessens Kampf gegen Rechts“ setze man „die rechte Szene unter Druck“, erhöhe „den Druck“, halte „den Druck aufrecht“. Diese Strategie scheint mit Blick auf die Schlagzeilen erfolgreich. „Eine beachtliche Bilanz“ attestierte zum Beispiel tagesschau.de gut ein Jahr nach Gründung der Einheit. Auch wenn nur über eine einzelne Razzia berichtet wird, die die BAO durchführt, wiederholt die Presse den vom Ministerium gewählten Sprachgebrauch sowie die Gesamtzahl der Maßnahmen seit der Gründung der BAO. Hier zeichnet sich sicher die bekannte Tendenz im (Lokal-)Journalismus ab, Pressemeldungen von Behörden direkt zu übernehmen. Die PR-Strategie der Behörden verstärkt diesen Effekt jedoch.

Quantität statt Qualität?

Auffällig bei der Berichterstattung seit der Gründung der BAO Hessen R ist, dass weder seitens der Medien noch der Forschung eine Einordnung der polizeilichen Maßnahmen passiert. Die Zahlen sind dermaßen überfordernd, dass es unmöglich scheint, einen Überblick zu behalten. Nur ein kleiner Teil der Einsätze lässt sich mittels Pressemitteilungen des LKA und des Innenministeriums sowie der Presseberichterstattung öffentlich nachvollziehen. Es lässt sich nur schwer einordnen, ob und wenn ja welche Auswirkungen die vielen Maßnahmen auf die Neonazi-Szene haben. Es gibt bisher keine öffentlich einsehbare Übersicht der Maßnahmen, ob sich daraus Strafverfahren ergeben haben und wie diese ausgegangen sind. Um also den Erfolg der Einheit abschätzen zu können, müsste man auch die nicht in Pressemitteilungen verbreiteten Maßnahmen mitbekommen, bei allen infrage kommenden Gerichtsverfahren hessenweit zugegen sein, deren Ausgang verfolgen und anschließend abgleichen, welche Maßnahmen nicht zu einem Verfahren geführt haben beziehungsweise diese Informationen bei den Staatsanwaltschaften einholen. Eine unbezwingbare Aufgabe.

Damit ist auch keine inhaltliche Bewertung der Maßnahmen möglich. Werden weiterhin vor allem für die Szene unbedeutende „Kameradschaften“ wie die Berserker Lahn-Dill oder die Sturmbrigade/Wolfsbrigade von ihnen getroffen oder nimmt sich das LKA derjenigen Organisationen an, die auch Antifaschist*innen relevant finden, wie beispielsweise die „Hammerskins“? Eine derartige Undurchsichtigkeit erlaubt es der Regierung, sich nicht für die inhaltliche Ausrichtung ihres „Kampfes gegen Rechts“ rechtfertigen zu müssen, kann sie doch die hohen Zahlen vor sich her tragen und behaupten, „der Szene keine Ruhe zu lassen“.

Die „BAO Herkules“ und die Hufeisen-Frage

Interessant ist der Ursprung der BAO Hessen R, die bereits erwähnte, Mitte Juni 2019 gegründete BAO Herkules. Auch über sie lassen sich nur wenige Informationen finden. Die Einheit soll aus etwa 20 Beamt*innen bestanden haben. Sie informierte über drei Vorgänge öffentlich: die Festnahme des Combat 18-Mitglieds Tobias Voll (vgl. LOTTA #71, S. 18) sowie die Begleitung von zwei Demonstrationen in Kassel. Ein Facebook-Posting des PP Nordhessen gibt noch am meisten Aufschluss über die Einheit: „Eine der Hauptaufgaben der temporär eingerichteten ‚BAO Herkules‘ ist, die gezielte Aufklärung gefahrenrelevanter Sachverhalte im Bereich politisch motivierter Gefährder und Straftäter weiter zu intensivieren. Dadurch sollen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, mögliche Netzwerke und politisch motivierte Straftaten frühzeitig erkannt und verhindert werden. Seit Mitte Juni führen unserer Kolleginnen und Kollegen der ‚BAO Herkules‘ bereits verdeckte und offene Maßnahmen mit dem deutlichen Signal durch, dass wir als Polizei keine rechtsfreien Räume dulden und derartigen Entwicklungen entschieden entgegentreten.“

Die Einheit war nicht in die Ermittlungen zum Mordfall Lübcke eingebunden, auch gibt es keinen Zuschnitt auf den Bereich „Rechtsextremismus“. Es bleibt fraglich, welche „rechtsfreien Räume“ sich in Kassel im Kontext des Mordes an Walther Lübcke auftun könnten, für deren Bekämpfung es eine eigene BAO braucht. Denkbar ist, dass damit vermeintliche Attacken auf Neonazis durch Linke gemeint sind. Mitte Juni hatte die Wohnung eines führenden Kassler Neonazis gebrannt, Indizien für einen Anschlag gab es im Nachgang keine. Auch bei den Demonstrationseinsätzen der Einheit würde es passen, dass sie für die Verhinderung von „rechts-links“-Auseinandersetzungen zuständig war. Offen bleibt, ob die BAO Hessen R als das Aushängeschild der hessischen Regierung im „Kampf gegen Rechts“ damit einer Einheit entstammt, die womöglich unter anderem zum Schutz von Neonazis gegründet wurde.

Verwirrende Informationspolitik

Nicht nur für die Medien ist es schwer, rund um die BAO Hessen R den Überblick zu behalten. Durch die schnelle Einsetzung nach dem Mord an Walter Lübcke ist in der Öffentlichkeit das Bild entstanden, die von ihr durchgeführten Razzien stünden mit den Mordermittlungen in Verbindung. Dabei geht verloren, dass die SoKo Limecke, die die Ermittlungen geführt hat, nur wenige Hausdurchsuchungen bei Neonazis gemacht hat. Man hat den Mord nicht zum Anlass genommen, die Kasseler Neonaziszene umzukrempeln und nach Mitwissenden zu suchen. Ausschlaggebend für die Durchsuchungen waren vor allem telefonische Kontakte sowie die Aussagen von Stephan Ernst. Immer wieder wird nun die Forderung laut, der Lübcke-Untersuchungsausschuss (UNA 20/1) im hessischen Landtag solle doch mehr Neonazis und Weggefährten Ernsts laden, um dessen Umfeld zu beleuchten. Der UNA hat allerdings weder Mittel noch Befugnisse, um Ermittlungen anzustellen. Abseits der Befragungen, die vor allem von parteipolitischen Ränkespielen geprägt sind, bleiben den Parlamentarier*innen keine Möglichkeiten. Was die Polizei also verpasst hat, das kann auch der Untersuchungsausschuss nicht nachholen.

Antworten dank Opposition

Über die Aufgaben und den Aufbau der BAO Hessen R ist abseits der immer gleichen Textpassagen, die die Behörden vorgeben, nur wenig bekannt. Wer zu der Einheit und ihren Einsätzen abseits dessen recherchieren will, muss sich die Details mühsam in Antworten auf Parlamentsanfragen und aus Plenar- und Innenausschussprotokollen zusammensuchen. So wurde zum Beispiel auf Nachfrage der Opposition am Rande einer Innenausschusssitzung bekannt, dass die BAO Hessen R gemeinsam mit dem Geheimdienst mit der Überprüfung der Polizist*innen betraut war, die in rechten Chatgruppen aktiv waren.

Für den Innenminister Peter Beuth jedenfalls hat sich der Ausbau des Sicherheitsapparates gelohnt, da er mit den „zählbaren Erfolgen der Ermittler“ auftrumpfen und gleichzeitig die „Rekordinvestitionen“ gut rechtfertigen kann. Der Opposition bleibt wenig Handhabe, schließlich forderten alle, der Staat müsse konsequenter gegen Neonazis vorgehen. Ob das in relevantem Maße in Hessen passiert, bleibt fraglich. Flankiert wurde die Aufstockung der Polizei mit einer Vielzahl weiterer Maßnahmen im Sicherheitsapparat, die mehr Geld, Personal und Entscheidungskompetenzen beinhalteten.

Aktuell liegt eine Anfrage der Linksfraktion vor, die einige Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen rund um die BAO Hessen R liefern könnte. Die Antwort der Landesregierung stand zum Redaktionsschluss noch aus.