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Die hessische AfD vor der Landtagswahl
Bei der Landtagswahl im Oktober 2018 erlangte die AfD in Hessen 13,1 Prozent, was 19 Sitze im Landtag bedeutete. Bereits wenige Tage nach der Wahl musste sich die künftige Fraktion mit den ersten Personalien beschäftigen. Von Alexandra Walters Facebook-Account aus wurden Kommentare getätigt, welche die Kriegsverbrechen der Wehrmacht relativierten und Sympathien für ein ehemaliges Mitglied der Waffen-SS bekundeten (vgl. LOTTA #73, S. 28 ff). Der sich bildenden AfD-Fraktion schienen die Beteuerungen Walters, wonach ihr Konto gehackt worden sei, nicht zu genügen. Einem geforderten Dementi in Form einer Ehrenerklärung kam sie nicht nach und war in der Folge fünf Jahre als fraktionslose Abgeordnete im Landtag. In der Partei verblieb sie dennoch und trat im März 2021 auch als Rednerin neben Björn Höcke bei einer AfD-Veranstaltung in Offenbach auf. Am Tag vor der konstituierenden Sitzung des Landtags im Januar 2019 verstarb zudem überraschend Nikolaus Pethö. Dieser war eigentlich als stellvertretender Fraktionsvorsitzender eingeplant, für ihn rückte Erich Heidkamp nach.
Im Parlament
Mit Rolf Kahnt hielt ein Mitglied der AfD-Fraktion in seiner Funktion als Alterspräsident die Eröffnungsrede bei der konstituierenden Sitzung des Landtags. Die Freude darüber verhallte ebenso schnell wie dessen Appell um „Fairness“ im Umgang mit seiner Partei im Parlament. Am gleichen Tag fiel prompt Bernd-Erich Vohl bei der Wahl zum Vize-Landtagspräsidenten durch — ein Posten, der eigentlich jeder Fraktion zusteht und dessen Wahl meist eine Formalie ist. Aber hinsichtlich der AfD blieben die Parlamentarierinnen der anderen Parteien unnachgiebig und ließen im gleichen Jahr noch Karl Hermann Bolldorf wie auch 2020 Dirk Gaw durchfallen, 2021 Claudia Papst-Dippel und 2022 Andreas Lichert. Somit blieb der Fraktion das Amt bis heute verwehrt. In den knapp fünf Jahren setzte die AfD vornehmlich auf kleine Anfragen, die sich durch alle Themen zogen und nur phasenweise Migration und Asyl vorrangig betrafen. Mit 1.746 kleinen Anfragen ist die Fraktion Spitzenreiter im Parlament, zwar knapp gefolgt von der SPD, doch fragte die AfD bei einigen Themen, wie etwa Corona, so vehement nach, dass der parlamentarische Geschäftsführer der CDU Holger Bellino bemängelte, mit der Fülle von Anfragen würde der „Gesundheitsbereich mit unnötiger Bürokratie“ gelähmt.
Auch versuchte die AfD mit einzelnen Anfragen zu erreichen, dass Initiativen oder Institutionen die Mittel gekürzt oder in Gänze gestrichen werden, da diese eine inhaltliche Nähe oder Schnittmenge mit „linksextremistischen Gruppierungen“ hätten. Für die AfD offenbar ein weites Feld, warf sie über die fünf Jahre etwa dem damaligen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) und später den Grünen im Landtag vor, zu Angriffen auf ihre Politiker zu ermutigen. Auch den SPD-Abgeordneten Marius Weiß macht AfD-Fraktionsgeschäftsführer Frank Grobe als „Freund der Antifa“ aus und drohte ihm (vgl. LOTTA #80, S 30 ff). Im Mai vergangenen Jahres hantierte Andreas Lichert mit antisemitischen Codes, als er bei einer Debatte im Landtag behauptete, man müsse nur „der Spur des Geldes“ folgen, um hinter den immensen Ausgaben zum Schutz des Klimas die „Internationale Hochfinanz“ zu erkennen.
Einen weiteren Eklat provozierte Klaus Herrmann im Juli 2021, nachdem die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den Anschlägen von Hanau beschlossen wurde. Er deklarierte den Ausschuss als überflüssig, sprach von „parteipolitischem Linkspopulismus“, der dazu diene, Polizei und Sicherheitsbehörden in Misskredit zu bringen. Auch relativierte er das rassistische Tatmotiv. Dennoch hielt sich die AfD in Person von Dirk Gaw im Untersuchungsausschuss, wie auch in dem zum Mord an Walter Lübcke, bedeckt. Lediglich wenn der Fokus auf die Polizei gerichtet wurde, ergriff Gaw — selbst Polizist — Partei für seine Kolleginnen. Kaum überraschen dürfte jedoch die jüngste Ankündigung der Fraktion, ein eigenes Minderheitsvotum zum Lübcke-Untersuchungsausschuss zu verfassen.
Austritte und ein Rauswurf
Der ehemalige Spitzenkandidat Rainer Rahn wurde bereits beim Aufbau der Fraktion auf die Hinterbank degradiert, nachdem er im Wahlkampf phasenweise lustlos und unmotiviert wirkte. Das Rahn nicht den besten Stand in der Fraktion hatte, zeigte sich, als im Mai 2020 bekannt wurde, dass die AfD-Fraktion Dossiers über dessen angebliche Verfehlungen angelegt hatte. Auch das Handeln von Rolf Kahnt wurde dokumentiert. Er soll sich unter anderem mit dem Fraktionsgeschäftsführer Frank Grobe angelegt haben und ihm vor Abgeordneten anderer Parteien unüberhörbar gedroht haben: „Wenn du Krieg willst, kannst du diesen haben.“ (vgl. LOTTA #80, S. 30 ff) Drei Monate später votierte die Fraktion über den Ausschluss der beiden. Kahnt musste gehen, Rahn durfte bleiben. Im Juni 2021 zog Kahnt Konsequenzen und trat aus der AfD aus. Der Frankfurter Rundschau gegenüber monierte er die Radikalisierung der Partei und dass der formell aufgelöste Flügel „im Hintergrund nach wie vor das Heft des Handelns in der Hand“ habe. Rahn hielt es unterdessen noch bis Dezember 2022 aus. Allerdings separierte er sich zusehends, nahm nicht mehr an Fraktionssitzungen teil und stellte selbstständig kleine Anfragen im Landtag. Dann verließ auch er die Partei und attestierte seinen ehemaligen Kollegen einen „undemokratischen Geist“.
Im gleichen Zeitraum verließ auch Walter Wissenbach Fraktion und Partei. Jener war Mitglied der „Alternativen Mitte“, einer parteiinternen Gruppierung, die als gemäßigter galt. Er geriet mit seinem Fraktionskollegen und dem mittlerweile Co-Landesvorsitzenden Andreas Lichert aneinander. Dieser war vor seiner Parlamentstätigkeit als „Drahtzieher im ‚neurechten‘ Netz“ etwa für das Institut für Staatspolitik aktiv und in den Hauskauf der „Identitären“ in Halle involviert (vgl. LOTTA #68, S. 44 ff.). Wissenbach hatte Lichert in einem parteiinternen Mailverkehr als „stolzes Mitglied der IB“ bezeichnet, wogegen dieser eine einstweilige Verfügung erwirkte, die das Landgericht Frankfurt aber verwarf und zu Wissenbachs Gunsten entschied. Im Oktober 2022 trat Wissenbach dann in einer Kampfkandidatur gegen den Landesvorsitzenden Robert Lambrou um die Spitzenposition bei der kommenden Landtagswahl an. Seine Rede nutzte er auch zur Abrechnung mit der Fraktion und appellierte, dass es nicht so weitere gehen dürfe, „nur damit ein paar Berufsversager noch einmal fünf Jahre an die Fleischtöpfe kommen“. Wissenbach unterlag erwartungsgemäß, mittlerweile haben er und Rahn sich der Partei „Bündnis Deutschland“ angeschlossen (siehe S. 43 ff.) und sind Teil des Landesvorstands. Im Januar kehrte Claudia Papst-Dippel ebenfalls Fraktion und Partei den Rücken. Die einzige Frau in der AfD-Fraktion und ehemalige gesundheitspolitische Sprecherin machte Differenzen in der Corona-Politik für ihren Austritt verantwortlich. Des Weiteren bemängelte sie, dass in der AfD immer wieder qualifizierte Frauen nicht berücksichtigt würden, beispielsweise bei der Aufstellung der Wahllisten.
Demontage
Neben den ausgetretenen Fraktionsmitgliedern wird auch Klaus Herrmann nicht erneut für den Landtag kandidieren. Der ehemalige Co-Landesvorsitzende wurde bereits 2021 nicht erneut in den Landesvorstand gewählt. Beim Parteitag im Oktober 2022 trat der innenpolitische Sprecher der Fraktion bei der Wahl der Landesliste zunächst um Platz 5 gegen den Fraktionsgeschäftsführer Frank Grobe an und verlor. Geradezu einer Demontage glich es allerdings, als er sich anschließend um Platz 11 bewarb und gegen den relativ unerfahrenen Kreissprecher der AfD im Vogelsberg Gerhard Bärsch unterlag. Auch Karl Hermann Bolldorf, 2019 noch Kandidat der AfD um den Posten des Landtags-Vizepräsidenten, schaffte es nicht auf die Landesliste. Erich Heidkamp dürfte mit Position 34 ebenfalls zum Ende der Legislaturperiode ausscheiden.
Etablierte und Neulinge
Insgesamt wird die 40 Personen umfassende Landesliste von den derzeitigen Abgeordneten dominiert. Auf den vorderen Plätzen finden sich der aktuelle Landes- und Fraktionsvorsitzende Robert Lambrou, der Co-Landesvorsitzende Andreas Lichert, die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Volker Richter und Arno Enners. Dahinter rangieren Frank Grobe sowie der ehemalige Obmann des Flügels in Hessen Heiko Scholz und Klaus Gagel. Die verbleibenden Abgeordneten finden sich unter den ersten 15 Listenplätzen wieder: Dirk Gaw (10), Dimitri Schulz (12), Gerhard Schenk (13) sowie Bernd-Erich Vohl (15). Beim Blick auf die Liste fällt auf, dass lediglich drei Frauen vertreten sind. Mit Listenplatz 31 dürfte Elisabeth Becker aus Oestrich-Winkel (Rheingau-Taunus-Kreis) allerdings keine Chance haben. Wohingegen Sandra Weegels aus Gießen mit Platz 9 den Einzug in den Landtag sicher haben dürfte. Für die Frankfurterin Anna Nguyen dürfte es mit Listenplatz 19 bis zum Ende knapp bleiben. Nguyen fokussierte sich in den vergangenen Monaten vor allem darauf, dass sie als Frau sexuellen Belästigungen ausgesetzt ist, und verknüpft dies stets mit dem Thema „Migrationspolitik“. Als Tochter von aus Vietnam geflohenen Eltern wähnt sie sich offenbar gegen jeden Rassismusverdacht erhaben und behauptete im AfD-Talkshowformat „Blick auf Brüssel“, dass Belästigungen immer von „Arabern und Türken“ ausgingen. In die gleiche Richtung gehen ihre Äußerungen in einem Video auf dem Kanal „Hallo Meinung“, welches betitelt ist mit „Von Deutschen werde ich nicht belästigt“. Weegels spielt hingegen ihre Berufserfahrung als Polizeikommissarin bei gleich mehreren Themen aus. Im Februar sprach sie beispielsweise bei einer Veranstaltung in Fulda zum Thema „Finger weg vom Kind! — Erfahrungen aus der Polizeiarbeit“.
Die Vorsitzende der AfD Gießen wäre neben Dirk Gaw die zweite Person mit einer Polizeilaufbahn. Das kommt der AfD zupass, stilisiert sie sich doch gern zur „Lobby der Polizei“, wie es der Landesvorsitzende Lambrou einst formulierte. Mit Patrick Schenk befindet sich ein weiterer Neuling unter den ersten zehn Listenplatzierten. Der Frankfurter gab an, in den 1990ern wegen Erika Steinbach in die CDU eingetreten zu sein, zu einem ersten Bruch kam es als Schenk Martin Hohmann — damals ebenfalls noch in der CDU — nach dessen antisemitischer Rede verteidigte (vgl. LOTTA #82, S. 24 ff.). 2010 trat er dann schlussendlich aus der CDU aus, schloss sich den Bürgern für Frankfurt (BfF) an und zog 2016 als Spitzenkandidat bei der Kommunalwahl in die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt ein. Der BfF-Fraktion gehörte neben Schenk der ehemalige Mitorganisator des Frankfurter PEGIDA-Ablegers sowie PI-News-Autor Wolfgang Hübner an (vgl. LOTTA #84, S.11 ff). Seit 2018 ist Schenk AfD-Mitglied und aktuell Fraktionsvorsitzender der Stadtverordnetenversammlung im Frankfurter Römer. Hinter Schenk auf Platz 17 rangiert Markus Fuchs, ebenfalls aus Frankfurt. Jener hat bereits Erfahrungen im Landesvorstand gesammelt und betrieb zeitweise mit Andreas Lichert das nach eigener Aussage „überparteiliche“ Projekt Bündnis für Recht und Demokratie, in dem es auch zu extrem rechten Protagonist*innen keine Berührungsängste gab.
Die „Junge Alternative“ (JA)
Die Jugendorganisation ist auf der Liste relativ schwach vertreten. Anna Nguyen könnte zwar auf Grund ihres Alters noch in der JA sein, ist dort aber bisher nicht in Erscheinung getreten. Die aktive JA-Zeit des Kreistagsabgeordneten in der Wetterau Christian Rohde (Platz 18) ist unterdessen einige Jahre her. Somit ist Pascal Schleich einer der wenigen Vertreter der JA. Der Beisitzer im Landesvorstand rangiert immerhin auf Listenplatz 21, doch für seinen Einzug in den Landtag müsste die AfD noch um einiges zulegen. Unrealistisch sind die Chancen für Willy Klinger (Platz 32). Dieser wurde im Dezember 2020 in den Vorstand der JA gewählt, schied aber nach einem Jahr wieder aus. Bei der Kommunalwahl 2021 reichte das Ergebnis der AfD für ihn nicht aus, um in die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt einzuziehen. Obwohl die JA stets lobend erwähnt wird — vornehmlich wenn es um Unterstützung bei Veranstaltungen geht — haben deren Aktive offenbar in der Landespolitik wenig Chancen. Das spiegelt sich auch im AfD-Landesvorstand wider, wo mit Jan Nolte zwar der ehemalige Landesvorsitzende des Jugendverbands vertreten ist, der Bundestagsabgeordnete tritt aber nicht mehr bei der hessischen JA in Erscheinung. Die meisten müssen sich unterdessen mit kommunalen Mandaten begnügen. Das betrifft sowohl den aktuellen JA-Landesvorsitzenden Manuel Wurm wie auch das ehemalige Vorstandsmitglied Mark Wolfsohn, die beide Teil der skandalgebeutelten Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung in Offenbach sind (vgl. LOTTA #81, S. 25 ff.). Auch der Schatzmeister der JA, Dominik Baumgart, wie auch der stellvertretende JA-Landesvorsitzende Dominik Asch spielen bei der AfD auf Landesebene momentan keine Rolle. Beide sind, wie auch Manuel Wurm, als einige der wenigen aus dem hessischen AfD-Spektrum öfter bei den Corona-Protesten in Erscheinung getreten. Asch tritt darüber hinaus hin und wieder als Referent bei anderen Landesverbänden der AfD und der JA auf. Zuletzt war er als Gastredner beim Landesjugendtag des Rings Freiheitlicher Jugend Steiermark in Österreich.
Programm und Wahlaussicht
Insgesamt wirkt die AfD-Landesliste homogener als noch vor fünf Jahren. Patrick Schenk und Sandra Weegels könnten sich gut in die Fraktion einfügen, zumal Weegels bereits mehrere Jahre mit dem Landtagsabgeordneten Arno Enners auf kommunaler Ebene zusammengearbeitet hat. Einen Erfolg, der nicht unerheblich für den Wahlausgang sein dürfte, verbuchte die AfD bereits im Oktober vergangenen Jahres, als das Verwaltungsgericht Wiesbaden entschied, dass der Verfassungsschutz in Hessen vorerst nicht mehr die gesamte Partei als Verdachtsfall beobachten oder behandeln darf. Weitere potentielle Wähler*innen will die AfD offenbar mit der Gründung des parteinahen Vereins Mit Migrationshintergrund für Deutschland erreichen. In der Einladung zum Gründungstreffen am 18. Juni heißt es, dass es ein Irrtum sei, „dass Menschen mit Migrationshintergrund grundsätzlich politisch links stehen“ würden und dass willkommen sei, „wer sich zur Deutschen Leitkultur bekennt und sich für den Fortbestand der Nation als kultureller Einheit einsetzt.“ Im 58 Seiten langen Wahlprogramm wird jedoch die „Staatsbürgerschaft durch Abstammung“ propagiert, sich gegen „Einwanderung in die Sozialsysteme“ und „jeglichen Familiennachzug“ ausgesprochen.
Des Weiteren wird hier die „Energiewende“ als gescheitert deklariert und der „Ausbaustopp für Windkraft- und Solaranlagen“ gefordert. Ein weiterer Eckpunkt in dem Papier ist die Familienpolitik. Als Ziel formuliert die AfD, „die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung mittelfristig signifikant zu erhöhen.“ Hierzu wird der „Schutz der traditionellen Familie als Keimzelle der Gesellschaft“ gefordert, sowie der „Schutz des ungeborenen Lebens“. Offenbar im Bewusstsein darüber, wo solche Standpunkte zu verorten sind, wird „die Diskreditierung und Umdeutung von Lebensschützern als Fundamentalisten“ bemängelt. Ob so andere Parteien für eine Zusammenarbeit zu gewinnen sind, ist unklar. Doch der Landesvorsitzende Lambrou ist zuversichtlich: „Das mag noch ein paar Jahre dauern, das kann aber auch ganz schnell gehen.“