Verurteilung im Atomwaffendivision-Prozess
Drei Jahre und zehn Monate Haft für rechtsterroristische Anschlagspläne in Hessen
Am 8. Mai 2023 verurteilte der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt den 21-jährigen Marvin E. zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten. Die 1,5-jährige Untersuchungshaft wird angerechnet. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass E. versuchte, einen hessischen Ableger der rechtsterroristischen Gruppe „Atomwaffendivision“ (AWD) zu gründen und Anschläge oder Schulamokläufe plante, was dieser in seinen Vernehmungen nach der Festnahme und vor Gericht auch gestand. Das Urteil ist rechtskräftig, E. erklärte noch im Gerichtssaal, es anzunehmen.
Marvin E. wurde am 16. September 2021 wegen der Vorbereitung terroristischer Anschläge und der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung mit ihm als Rädelsführer festgenommen und saß seitdem in Untersuchungshaft. (vgl. LOTTA #86, S. 7 ff.) Öffentlich wurde dies jedoch erst mit knapp zwei Monaten Verzögerung. Womöglich weil E., wie die Kasseler Antifa-Gruppe TASK veröffentlichte, bei der Kommunalwahl 2021 in Spangenberg für die CDU angetreten war. Ein mutmaßlicher Rechtsterrorist auf der Kandidatenliste der CDU hätte sich bei der zum Zeitpunkt der Festnahme kurz bevorstehenden Bundestagswahl wohl nicht allzu gut gemacht. Der Prozess zeigte auf, dass E. gegenüber dem CDU-Stadtrat Werner Bechtel, über den er auf die Kandidatenliste der Partei kam, seine Gesinnung nicht verheimlichte. Im Gegenteil: E. sprach Bechtel, der laut Gericht auch über die Sprengstoffversuche von E. Bescheid wusste, als „mein Führer“ an. Selbst der Mord an ihrem Parteifreund Walter Lübcke durch einen Neonazi scheint für Teile der nordhessischen CDU kein Hinderungsgrund zu sein, einen bekennenden Neonazi, der mit Sprengstoff hantiert, auf ihre Wahlliste aufzunehmen.
Online Vernetzung und offline Bombenbau
Seit Sommer 2019 war der damals 17-jährige Marvin E. in verschiedenen rechten Chatgruppen aktiv. Zwei Jahre später sei er auf die Atomwaffendivision gestoßen, die durch einen unverhohlenen NS-Bezug, martialischen und gewalttätigen Antisemitismus und Rassismus auf sich aufmerksam macht. E. bestätigte vor Gericht, dass er in offenen Telegram-Gruppen von AnhängerInnen der AWD aktiv war. Als er sich dort bewährte, habe er eine Art Interview mit Admins von geschlossenen Gruppen gehabt, zu denen er anschließend Zugang bekam. Jeglicher Kontakt zu AWD-AnhängerInnen habe laut E. online und anonym stattgefunden, eine Behauptung, die die geladenen Ermittler*innen nicht widerlegen konnten. Nach einem Chat mit einem verdeckten Agenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wurde E. festgenommen.
In den wenigen Monaten zwischen dem Erstkontakt mit AWD-AnhängerInnen und seiner Festnahme war E. jedoch äußerst umtriebig: Laut Urteil habe er den Plan verfolgt, eine hessische Zelle der AWD mit zirka vier Gleichgesinnten und ihm als Führer aufzubauen. In seinem Freundeskreis versuchte er, Mitstreiter zu akquirieren. Seinen ehemaligen Mitschüler Jason P., mit dem er seine selbst gebastelten Bomben testete, fragte er pathetisch: „Wirst du der AWD die Treue schwören?“, was dieser mit einem einfachen „OK“ beantwortete. Daneben richtete E. auf Instagram und Telegram Seiten für einen „AWD Hessen Shop“ ein. Eine Plakatieraktion mit rassistischen und antisemitischen Motiven in Kassel in der Nacht vom 18. auf den 19. September 2021, die er mit Jason P. und vier laut Gericht unbekannt gebliebenen Personen durchführen wollte, scheiterte, da P. einen Rückzieher machte.
Gefährlicher Dilettantismus
Die dilettantischen Gründungsversuche einer extrem rechten Terrorzelle dürfen nicht über die reale Gefahr hinwegtäuschen, die von Marvin E. ausging: Spätestens im September 2021 war er fest entschlossen, einen Anschlag im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie der AWD zu begehen. Als er an der Beschaffung von Schusswaffen scheiterte, baute er Bomben aus Haushaltsgegenständen und Chemikalien. Über ein Dutzend größere Sprengkörper wurden bei seiner Festnahme gefunden. Ein Sachverständiger des LKA schätzte die Sprengkraft als teilweise „knapp unter militärischer Qualität“ ein. Einige waren zudem mit Fernzündern und Stahlkugeln versehen, um aus der Entfernung möglichst viele Menschen zu töten. Marvin E. bestätigte vor Gericht, einen Anschlag oder einen ideologisch motivierten Schulamoklauf geplant zu haben: Auf seinen Speichermedien fanden sich Propagandavideos vom Amoklauf an der Columbine High School 1999. Sein Suchverlauf deutete auf die Suche nach Schulen unter anderem in Kassel hin.
Für einen Rechtsterrorprozess ungewöhnlich einig zeigten sich alle Verfahrensbeteiligten aufgrund von E.s Geständnis in diesem Prozess hinsichtlich Schuld und Beweggründen. Sowohl der Senat, die Bundesanwaltschaft, die Verteidigung als auch andere Verfahrensbeteiligte wie Jugendgerichtshilfe, das beim hessischen LKA angesiedelte Aussteigerprogramm IKARUS und die vom Gericht bestellten Psychologen sahen die Ursachen für E.s Taten und Ideologie in einem an Liebe und Zuwendung mangelnden Elternhaus begründet. Tatsächlich klangen einige Schilderungen aus E.s familiärem Umfeld inklusive physischer und psychischer Gewalt an ihm grauenhaft. Lediglich die Bundesanwaltschaft stellte aber explizit klar, dass dies keine Entschuldigung für seine Pläne sei. Alle Verfahrensbeteiligten sahen E. auf einem noch langen, aber guten Weg, solange er seine Ausbildung wieder aufnehme und den von IKARUS begleiteten Ausstiegsprozess fortführe.
Offene Fragen zur Verbindung nach Essen-Borbeck
Jedoch sind nach Prozessende noch Fragen offen. Beispielsweise ob E. wirklich keinen über anonyme Chats hinausgehenden Kontakt mit Gleichgesinnten aus den Chatgruppen der AWD hatte. Im Mai 2022 wurde am Don-Bosco-Gymnasium in Essen-Borbeck (NRW) ein Anschlag verhindert, der den Plänen von Marvin E. erstaunlich gleicht. Dort wollte ein damals 16-Jähriger mit extrem rechter Gesinnung einen Sprengstoffanschlag begehen. Der Anschlag wurde nur verhindert, weil Mitschülerinnen die Gefahr ernst nahmen und dies meldeten. Ausgerechnet ebenjenen Essener Stadtteil schaute sich Marvin E. wenige Wochen vor seiner Festnahme auf google maps an — ohne erkennbare persönliche oder familiäre Verbindung dorthin. Neben Schulen in Kassel suchte er einzig nach zwei Schulen in Essen, auch in eben jenem Stadtteil. Marvin E. selbst gab an, danach gesucht zu haben, als ein Nutzer des Voicechats Discord ihm erzählt hatte, dort zur Schule gegangen zu sein. Das BKA erklärte, einer möglichen Verbindung zwischen den zwei jugendlichen Nazis, deren Pläne sich erstaunlich gleichen, ohne Ergebnis nachgegangen zu sein. Auch wenn es nicht ersichtlich erscheint, warum Marvin E. umfangreich aussagen, hierzu aber schweigen sollte: Womöglich hat sich Marvin E. doch nicht nur komplett anonym mit anderen Anhängerinnen der „Atomwaffendivision“ ausgetauscht, wie vor Gericht stets behauptet.