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„Diese Gerechtigkeit kommt spät, allzu spät“

Ein Kommentar zum Stutthof-Prozess in Münster
Foto: Hans Weingartz - www.pass-weimgartz.de/hw.htm (CC BY-SA 2.0)
Gaskammer und Krematorium des KZ Stutthof.

Mit der Aussetzung des Prozesses endete Mitte Dezember 2018 der Versuch einer juristischen Aufarbeitung der Verbrechen im Konzentrationslager Stutthof vorerst ergebnislos. Der wegen Beihilfe zum hundertfachen Mord angeklagte ehemalige SS-Mann Johann R. aus dem Kreis Borken ist inzwischen nicht mehr verhandlungsfähig.

Anfang 2019 soll nach erneuten medizinischen Gutachten über die Fortsetzung beziehungsweise Wiederaufnahme des Prozesses entschieden werden. Ab dem 6. November 2018 wurde vor dem Landgericht Münster einer der letzten Prozesse gegen ehemalige SS-Wachmänner eines Vernichtungs- und Konzentrationslagers geführt. Im November 2017 hatte die zur Verfolgung von NS-Verbrechen in NRW zuständige Staatsanwaltschaft in Dortmund Anklage gegen Johann R. und einen weiteren ehemaligen SS-Wachmann des KZ Stutthof erhoben. Das Verfahren gegen den zweiten Angeklagten aus Wuppertal wurde aber vor Prozessbeginn abgetrennt, da noch nicht endgültig entschieden war, ob der Angeklagte verhandlungsfähig ist.

Viele Jahre vor Strafverfolgung geschützt

Möglich wurde diese Anklagen durch das sogenannte „Demjanjuk-Urteil“ aus dem Jahr 2011. Damals wurde erstmals von der bundesdeutschen Justiz ein KZ-Wachmann für seine Tätigkeit im Lager wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, obwohl ihm individuell keine konkrete Tat zugeordnet und nachgewiesen werden konnte. Das Landgericht München urteilte, dass er schon durch seine reguläre Wachtätigkeit im Konzentrationslager die Morde mit ermöglicht habe, somit Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie und auch Täter war.

Auch wenn das Urteil aufgrund des Todes des Angeklagten John Demjanjuk nie rechtskräftig wurde, kippte das Münchener Landgericht damit eine Rechtsauffassung, die 65 Jahre lang viele Täter*innen vor Strafverfolgung geschützt und ihnen ein Leben als unbescholtene Bürger*innen und einen ruhigen Lebensabend ermöglicht hatte.

Das galt auch für den heute 95 Jahre alten Johann R.: Nach dem Krieg heiratete er, gründete eine Familie, promovierte, wurde Direktor einer Fachschule für Gartenbau und ging mit 65 Jahren in Rente. Eine deutsche Karriere wie so viele – ohne Reue, ohne Übernahme von Verantwortung, ohne Strafe.

Eine Lebenslüge vor Gericht

Auch weil die allermeisten NS-Täter*innen nach dem Krieg unbehelligt davon kamen, ist dieser Prozess für die insgesamt 17 Nebenkläger*innen, Betroffenen und ihre Angehörigen aus vielen Teilen der Welt so wichtig. Für sie bedeutet er eine „allzu späte“ Gerechtigkeit, wie es eine Nebenklägerin zum Prozessauftakt ausdrückte. Für die Opfer und Überlebenden ist dieser Prozess schmerzhaft, lässt er doch vieles wieder aufleben und konfrontiert sie erneut mit der Gleichgültigkeit, mit der die deutsche Gesellschaft und Justiz ihnen in den letzten 70 Jahren überwiegend begegnet sind.

Johann R. zeigte vor Gericht keinerlei Bereitschaft, sich seiner Verantwortung zu stellen. Nachdem ein historisches Gutachten vorgelegt worden war, das die letzten Zweifel an den Zuständen im KZ Stutthof ausräumte, ließ der Angeklagte am 13. November durch seinen Verteidiger, Rechtsanwalt Andreas Tinkl, eine Erklärung verlesen. In dieser Erklärung ging es vor allem um sein eigenes Schicksal. So sei 1942 er nach seiner Einberufung zum Wehrdienst als „nicht fronttauglich“ eingeschätzt und nach kurzer Ausbildung bei der SS in das Lager versetzt worden. Das historische Gutachten legte jedoch dar, es habe in diesem Zeitraum in solchen Fällen keine belegbaren Zwangsrekrutierungen für die SS gegeben. Ein strittiger Punkt, der im Prozess nicht abschließend geklärt wurde. Gesichert ist jedoch, dass Johann R. von Juni 1942 bis September 1944 Mitglied der Wachmannschaft des KZ Stutthof war. Da er damals zwischen 18 und 21 Jahre alt war, wurde vor dem Landgericht Münster nach dem Jugendstrafrecht verhandelt.

R. stritt in seiner Erklärung zwar nicht ab, dass in Stutthof Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, wies aber jedwedes Wissen davon und jedwede Verantwortung dafür von sich. Er habe als Wachmann lediglich das Lager bewacht und Gefangene zu Arbeitseinsätzen begleitet. Von den systematischen Misshandlungen und Tötungen will er nichts mitbekommen haben. Lediglich die katastrophalen hygienischen Zustände in Stutthof und die schlechte Verfassung der Gefangenen habe er bemerkt. Dass er persönlich nie Zeuge von Tötungshandlungen gewesen sei, hatte R. bereits 1974 in einer Zeugenaussage gegenüber der Polizei geäußert, wie „Die Welt“ herausfand. Damals war er mit dieser Aussage davon gekommen.

Doch jeder, der als Teil der SS-Mannschaften im KZ Stutthof eingesetzt war, hat die dort verübten Verbrechen sehen können, so die Überzeugung der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage. Deshalb beantragten die Nebenklagevertreter*innen direkt zu Prozessbeginn, dass das Gericht mit allen Prozessbeteiligten eine Ortsbegehung des KZ-Geländes durchführen sollte.

Vor dem Landgericht Münster stellte sich Johann R. ausschließlich als Opfer dar: Ihm wäre das Schicksal der Gefangenen nicht gleichgültig gewesen, der Umgang mit ihnen wäre für ihn als „christlich erzogenen Menschen“ schwer zu ertragen gewesen. Aber aus Angst vor disziplinarischen Maßnahmen hätte er sich dazu nicht geäußert und auch nichts dagegen unternommen. Ein Nazi will er trotz seines jahrelangen Dienstes bei der SS nie gewesen sein, das erklärte er bei seiner Aussage mehrfach mit Nachdruck.

Nur ihre Pflicht erfüllt?

Es sind Worte und Haltung des Angeklagten, die fassungslos und wütend machen. Fassungslos ob der Dreistigkeit, mit der R. und seine Verteidiger die systematischen Verbrechen in Stutthof ausblendeten. Obwohl sie die Taten nicht bezweifelten, versuchten sie ein Bild des Konzentrationslagers zu zeichnen, in dem Gräueltaten nicht allgegenwärtiger Teil des Systems und seines perfiden Konzeptes gewesen wären, sondern still und heimlich von einem kleinen verschworenen Teil der SS begangen worden wären. Im Gegensatz zu diesen echten Nazis soll der Rest der Lagermannschaft dann nur ihre Pflicht getan und sich weder schuldig noch ideell zu Mittäter*innen gemacht haben. Wie diese arg- und schuldlose Pflicht in einem Konzentrations- und Vernichtungslager ausgesehen haben soll, wurde in dieser Erzählung freilich nicht erläutert.

Mord an Zehntausenden Menschen

In Stutthof sind Zehntausende Menschen ermordet worden: Sie wurden mit einer Genickschussanlage hingerichtet, mit Injektionen vergiftet, vergast, erschlagen, im Winter vor den Baracken erfrieren gelassen, durch Arbeit bis zum körperlichen Zusammenbruch getötet und auf Todesmärsche getrieben. Zeitzeug*innen berichten davon, dass die Toten von der SS reihenweise vor die Baracken gelegt wurden. Dass jemand, der mehrere Jahre dort eingesetzt war, von all dem nichts mitbekommen haben will, ist schlichtweg unvorstellbar.

Im Prozess in Münster legten der Angeklagte und seine Verteidiger Wert darauf, dass R. von der Existenz der Gaskammer, die 1944 dort errichtet wurde, nichts gewusst habe. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit dieser Aussage: Macht es einen Unterschied, auf welche Weise Menschen ermordet wurden? Als wäre eine Genickschussanlage, das Erfrieren lassen oder die tödliche Arbeit im Lager keine Formen des industriellen Massenmordes gewesen.

Des Weiteren ließ R. durchblicken, er hätte Stutthof als reines Strafgefangenen- und Arbeitslager verstanden, vornehmlich für politische Gefangene, von jüdischen Gefangenen will er nur wenig bemerkt haben. Als wäre es weniger Unrecht gewesen, wenn die Nazis ausschließlich ihnen politisch missliebige Menschen erniedrigt, gefoltert und ermordet hätten. R. versuchte hier auf perfide Art und Weise, die Opfer des Nationalsozialismus in Klassen einzuteilen und gegeneinander auszuspielen. Er rechtfertigt damit implizit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn diese im vermeintlich legalen Rahmen des Regimes verübt worden wären.

Keine Entschuldigung, keine Reue

Wütend macht auch die allzu bekannte Täter-Opfer-Umkehrung des Angeklagten. Die Zustände im Lager waren katastrophal, das ist vielfach belegt. Das verschwieg Johann R. auch gar nicht. Er bedauerte sich aber vor allen Dingen selbst. Der Gestank der Krematorien wäre „allgegenwärtig und unerträglich“ gewesen, gab er zu Protokoll. Er sprach von seiner Angst vor dem Krieg und den Schwierigkeiten, die Gräuel im Lager zu verarbeiten. Davon, dass er sich heute dafür schämt, wobei er doch von nichts gewusst haben will und für nichts verantwortlich gewesen sein möchte.

Das zeigte sich auch am Beginn seiner Erklärung. Es müsse im Prozess allein um die Frage nach seiner individuellen Schuld, nicht um die Schuld „des Systems“ gehen. Letztere sei freilich unbestritten, so sein Verteidiger. Ein bekanntes Muster, mit dem eine ganze Generation von Täter*innen versucht hat, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Schuld war ein System, vielleicht eine kleine Riege von Verbrechern, vielleicht ein einzelner charismatischer Führer, aber niemals die Millionen, die ihnen nur zu gerne gefolgt sind und die Tausenden, die die Ideologie der Vernichtung gnadenlos in die Tat umgesetzt haben. Unerwähnt bleiben die im Verhältnis wenigen, aber dennoch vielen, Aufrichtigen, die sich unter Einsatz des eigenen Lebens dem NS-Regime verweigert, entzogen oder dagegen Widerstand geleistet haben – davon will man dann lieber nichts hören und flüchtet sich in Allgemeinplätze, die diese Option schlichtweg verleugnen.

Was in Johann R.s Erklärung komplett fehlte: eine Entschuldigung. Mit keinem Wort richtete er sich an die Überlebenden, ihre Angehörigen oder die Angehörigen der Ermordeten. Kein Wort der Reue, keine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Taten und der daraus resultierenden Verantwortung.

„Zu wenig, zu spät“

Einige der Nebenkläger*innen haben zu Beginn des Prozesses die Öffentlichkeit gesucht. Sie sagten, dass es ihnen nicht um eine „harte“ Strafe für Johann R. ginge, sondern darum, dass seine persönliche Verantwortung für die in Stutthof begangenen Verbrechen festgestellt wird. So ließ Marga Griesbach, die das KZ Stutthof überlebte, durch ihren Anwalt Mehmet Daimagüler mitteilen, dass sie vor allem nicht verstehen könne, warum über Jahre nichts oder wenig unternommen wurde, um die Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Jetzt noch die wenigen, sehr alten Angeklagten vor Gericht zu bringen, sei „zu wenig und zu spät“. Trotzdem sei es für sie wichtig, dieses Verfahren noch zu erleben. Heute werde wieder die Shoa geleugnet, würde wieder gegen Minderheiten gehetzt, so die Überlebende. Da müssten Gerichtsprozesse wie dieser Zeugnis über die im KZ Stutthof verübten Verbrechen ablegen.

Marga Griesberg überlebte die Konzentrationslager der Nazis, doch ihren damals sechs Jahre alten Bruder sah sie in Stutthof das letzte Mal. Er wurde von ihr getrennt, nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft in einer der Gaskammern ermordet.

Auch die Überlebende Judith Meisel fragte in ihrer Prozesserklärung, warum die deutsche Justiz sieben Jahrzehnte für diese Anklage gebraucht habe. Die Gerechtigkeit käme zu spät. Judith Meisel wurde als Zwölfjährige mit ihrer Familie ins Ghetto gesperrt. Die Zustände dort seien schrecklich gewesen, aber trotzdem sei sie nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie danach im KZ Stutthof erlebte, ließ sie über ihren Anwalt verlesen. „Ich erlebte die Hölle, eingerichtet und exekutiert von der SS. Der Tod wurde zum alltäglichen Gefährten“, so Judith Meisel.

Ein Rad im Getriebe der Vernichtungsmaschinerie.

Johann R. war eines der zahlreichen Räder im Getriebe dieser nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Ein Verbrechen bis dato unvorstellbaren Ausmaßes, das nur gelingen konnte, weil es von Menschen wie ihm mitgetragen und mit begangen wurde. Diese Menschen tragen eine Mitschuld an Mord, Folter und Entrechtung. Sie müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Das ist die zentrale Botschaft der späten Prozesse gegen die KZ-Wachmannschaften. Und sie ist unabhängig davon, welches Strafmaß das Gericht letztendlich festlegt oder ob der greise Angeklagte seine Strafe überhaupt noch wird antreten können.

Diese Prozesse hätten – wie so vieles in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen – schon vor Jahrzehnten stattfinden müssen. Dennoch ist es richtig, sie jetzt noch durchzuführen. Es ist eine späte Form der Aufarbeitung, der Anerkennung von Mitschuld und Verantwortung, der Wiedergutmachung für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Letzteren Raum zu geben und zuzuhören muss deshalb auch ein zentrales Anliegen im Prozess sein.

In den beiden Stutthof-Prozessen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die beiden Angeklagten nicht mehr verhandlungsfähig werden und die all zu späte juristische Aufarbeitung so ins Leere laufen wird.

Meta

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  • ist Pressesprecherin der "Antifaschistischen Linken Münster".