Artikel von Simon Tolvaj

Der „NSU-Geheimbericht“ und die „Verfassungsschutzberichte“

Der geleakte „NSU-Geheimbericht“ offenbart nicht nur die desaströse Arbeitsweise und Inkompetenz des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Das Dokument verdeutlicht wie die jährlichen „Verfassungsschutz­berichte“ auch, wie Geheimdienst-Behörden in ihren Veröffentlichungen die Realität verzerren.

Foto: Max Gerlach
Nur noch knapp 50 Neonazis kamen 2021 zum jährlichen Aufmarsch nach Remagen.
Neonazi-Szene und extreme Rechte im Wandel

Die extreme Rechte war in den vergangenen Jahren von Entwicklungen geprägt, die gegenläufig scheinen. Zum einen formierten und radikalisierten sich unter Labels wie PEGIDA zehntausende Rechte, die politisch bislang eher unauffällig gewesen waren, und es etablierte sich mit der AfD eine Rechtsaußen-Partei. Demgegenüber verloren Strukturen an Bedeutung, die den organisierten Neonazismus in den vergangenen Dekaden geprägt hatten. Hierzu zählen insbesondere die NPD und die „Freien Kameradschaften“. Im virtuellen Raum entstanden indes völlig neue Netzwerk- und Organisationsformate.

Foto: Protestfotografie FFM
Der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben soll zum Einzeltäter erklärt werden

Am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht in Frankfurt am Main der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander Mensch. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2021 über 100 Drohschreiben eines „NSU 2.0“ verschickt zu haben. Diese enthielten teilweise Informationen, die zuvor von Polizeicomputern abgerufen worden waren. Doch das soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft kein Thema im Prozess sein.

Foto: Antifaschistische Recherche
Thomas Wagner (l.) am Rande eines Neonazi-Konzerts am 15.07.2017 in Themar
Das kriminelle Netzwerk der Thüringer „Turonen“

Am 26. Februar 2021 ging die Polizei mit Razzien in Thüringen, Hessen und Nordrhein-Westfalen gegen einen Kreis von Neonazis vor, die einen schwungvollen Handel mit Drogen betrieben haben sollen. Gegen knapp 20 Personen wird ermittelt, acht von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter der Aachener Neonazi Timm Malcoci und der „Szeneanwalt“ Dirk Waldschmidt aus Hessen.

Landgericht Frankfurt/Main
Organisierung und Lebenswelt des Stephan Ernst

Auch wenn die Tatversionen, die Stephan Ernst bisher erzählte, voneinander abweichen, so besteht kein Zweifel, dass er an der Ermordung des nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 beteiligt war. Im Mittelpunkt der Betrachtung seiner Person steht jedoch zumeist seine Einbindung in die Neonazi-Szene. Es wird Zeit, damit aufzuhören. Denn Zugehörigkeit und Bestätigung erfuhr Ernst in der AfD, im Kreis von Arbeitskollegen und im Schützenverein — und dort von Personen, die sich allesamt nicht als radikal verstehen.

Foto: Radio Dryeckland (CC BY-NC-SA 2.0 DE)
Entpolitisierung rechter Gewalt gegen linke Projekte

Von September 2018 bis Juli 2019 wurden im Rhein-Main-Gebiet zwölf Brandanschläge auf linke Projekte verübt. Dabei wurde der Täter zweimal erwischt und der Polizei übergeben, doch er kam jeweils am nächsten Tag frei. Die Ermittlungen waren geprägt von Versäumnissen und der Unfähigkeit der Behörden, die Taten politisch einzuordnen. Einiges deutet darauf hin, dass sie auch im bevorstehenden Prozess versuchen werden, den Täter und die Taten zu entpolitisieren.

Foto: exif-recherche
Markus Hartmann (l.) und Stephan Ernst (r.) am 1. September 2018 in Chemnitz.
Aktuelle Erkenntnisse zur Ermordung von Walter Lübcke

Auch wenn der Neonazi Stephan Ernst sein Geständnis widerrufen hat, so bestehen kaum Zweifel, dass er am 2. Juni 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hat. Sein engster politischer Weggefährte, der Kasseler Markus Hartmann, sitzt ebenfalls in U-Haft. Ihm wirft die Bundesanwaltschaft Beihilfe zum Mord vor. Und die Ermittler*innen verdächtigen Ernst, im Januar 2016 einen Geflüchteten niedergestochen zu haben.

Foto: NSU Watch
Die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke

Am Abend des 2. Juni 2019 wurde der Präsident des Regierungspräsidiums Kassel, Walter Lübcke, auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen bei Kassel durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet. An Lübckes Kleidung fand die Polizei DNA, die dem Kasseler Neonazi Stephan Ernst zugeordnet werden konnte.

Foto: www.03fotos.de | Filmstadt Inferno 1999
Der hessische Polizeiskandal am Beispiel zweier Polizisten aus Kirtorf

Rassistische Drohbriefe und Gesänge, „Reichsbürger“, Freundschaften mit Neonazis und Bewunderung der SS — das sind Schlagworte des Skandals um extrem rechte PolizeibeamtInnen in Hessen, der im Sommer 2018 aufkam und bis heute ständige Fortsetzung findet. Im März 2019 waren es 34 PolizistInnen, gegen die im Bundesland wegen „rechtsextremer Äußerungen oder Taten“ ermittelt wird. Vier weitere wurden bereits versetzt oder entlassen. Ermittelt wird auch gegen zwei Polizisten-Brüder aus Kirtorf in Mittelhessen.

Die hessische Extremismusklausel 2.0

Mit dem Zuwendungsbescheid für das Jahr 2018 sollte eine verpflichtende Sicherheitsüberprüfung für Mitarbeiter_innen der hessischen Präventionsprojekte durch den Verfassungsschutz eingeführt werden. Nach großem medialen Protest und einer bundesweiten Solidaritätswelle mit den Projektträgern ruderte das Innenministerium zwar ein Stück zurück; ganz vom Tisch ist die Überprüfung aber nicht.