Protestfotografie FFM

In Sachen „NSU 2.0“

Der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben soll zum Einzeltäter erklärt werden

Am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht in Frankfurt am Main der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander Mensch. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2021 über 100 Drohschreiben eines „NSU 2.0“ verschickt zu haben. Diese enthielten teilweise Informationen, die zuvor von Polizeicomputern abgerufen worden waren. Doch das soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft kein Thema im Prozess sein.

Am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht in Frankfurt am Main der Prozess gegen den 54-jährigen Alexander Mensch. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2021 über 100 Drohschreiben eines „NSU 2.0“ verschickt zu haben. Diese enthielten teilweise Informationen, die zuvor von Polizeicomputern abgerufen worden waren. Doch das soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft kein Thema im Prozess sein.

Die bekannte Geschichte des NSU 2.0 beginnt am 2. August 2018 gegen 14:00 Uhr. Von einem Computer im 1. Frankfurter Polizeirevier werden über das Log-in der Polizistin Miriam D. Informationen über die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız abgerufen. Wenig später, um 15:41 Uhr, erreicht ein Fax die Kanzlei von Başay-Yıldız. Darin droht ein „NSU 2.0“ ihr und ihrer kleinen Tochter mit dem Tod. Das Schreiben ist voll rassistischer Fäkalsprache, die Verfasser*innen nennen die Meldeadresse von Başay-Yıldız und den Namen ihrer Tochter. Es sind Informationen, die nicht aus frei zugänglichen Quellen beschafft werden konnten. Am selben Tag wird kurz nach 23:00 Uhr auf der linken Plattform indymedia ein Text lanciert, in dem Başay-Yıldız erneut rassistisch beleidigt und wieder ihre Meldeadresse genannt wird. Der Text wird nach kurzer Zeit gelöscht.

Die Ermittlungen führen zu Miriam D. Die zeitliche Nähe zwischen der Datenabfrage und dem Drohschreiben ist signifikant, es wurde zudem in drei verschiedenen Datenbanken über mehrere Minuten hinweg nach Informationen zu Başay-Yıldız und ihrer Familie gesucht, ohne dass es eine dienstliche Veranlassung dafür gab. Doch Miriam D. will sich an nichts erinnern, sie vermag die Abfrage weder zu bestätigen noch auszuschließen. Die Ermittler*innen stoßen nach einer Wohnungsdurchsuchung bei der Polizistin auf eine Chatgruppe namens „Itiotentreff“, in der sich neben Miriam D. drei weitere Beamte ihrer Dienstgruppe, zwei ehemalige Kollegen des 1. Reviers und die Partnerin eines der Polizisten rassistische und nazistische Bilder und Kommentare hin- und herschicken. Daraufhin finden weitere Durchsuchungen bei den beteiligten Beamten statt. In den Fokus gerät nun das „Itiotentreff“-Mitglied Johannes S. Schnell wird klar: Er ist ein Neonazi in Polizeiuniform. Er tat am Nachmittag des 2. August auf dem 1. Revier Dienst und hatte die Möglichkeit, die Daten abzurufen und das Drohfax zu versenden. Und er hatte versucht, sich hierfür ein falsches Alibi zu verschaffen. In einer Kommunikation von ihm findet sich außerdem eine wortgleiche und zudem ungewöhnliche Formulierung, wie sie auch im Drohschreiben an Başay-Yıldız auftaucht. In der Folge wird gegen ihn und Miriam D. wegen des Datenabrufs und der Drohung ermittelt.

Die Ermittlungen

Mitte Dezember wird das Drohschreiben des NSU 2.0 öffentlich. Vom 19. Dezember 2018 bis zum 21. März 2021 werden unter diesem Namen 115 weitere Drohschreiben als E-Mail oder SMS verschickt, manchmal sind es mehrere an einem Tag, manchmal liegen einige Wochen Pause dazwischen. Immer wieder wird auch Seda Başay-Yıldız bedroht. Sie ist umgezogen, doch die Verfasser*innen nennen in einem Drohschreiben Anfang 2020 ihre aktuelle Adresse, obgleich diese mit einem besonderen Sperrvermerk versehen ist.

Da sich die Drohungen technisch nicht zurückverfolgen lassen, kommen die Ermittlungen zunächst nicht voran. Den Durchbruch bringt eine linguistische Textanalyse. Eine Gutachterin des BKA stellt im Herbst 2020 fest, dass einzelne Drohschreiben mit hoher Wahrscheinlichkeit von derselben Person verfasst wurden wie Kommentare auf dem rechten Blog PI-News. Zwar hat der Verfasser dieser Kommentare seine IP-Adresse durch die Nutzung eines Tor-Browsers anonymisiert, doch wird mit einer einfachen Internetrecherche festgestellt, dass die Person offensichtlich identisch ist mit einem Spieler in einem Online-Schachportal. Beide schreiben unter den Namen „Sudel-Ede“ und „Obersimulant“, beide beziehen sich auf die Figur „Beaker“ aus der „Muppet-Show“. Die Daten, die der Spieler im Schachportal hinterlegt hat, führen zu Alexander Mensch. Die Überwachung seiner Internetaktivitäten zeigt, dass sich Schachspiele, PI-News-Kommentare und Drohschreiben niemals überlagern, in mehreren Fällen werden Drohschreiben exakt im Zeitraum der Schachpausen verschickt.

Am 3. Mai 2021 stürmt eine Polizeisondereinheit die Wohnung von Alexander Mensch in Berlin. Er kommt nicht mehr dazu, seinen Computer auszuschalten. Darauf finden sich nach genauer Untersuchung Fragmente von Drohschreiben des NSU 2.0. Alexander Mensch lebt in einer kleinen Wohnung im Stadtteil Wedding, er hat keinen Job und ist sozial isoliert. Sein Leben spielt sich zwischen seinem Computer und einem durchgelegenen Schlafsofa ab. Seit 1992 hat er etliche polizeiliche Einträge und Verurteilungen, unter anderem wegen Betrugs, Urkundenfälschung, Amtsanmaßung und immer wieder Beleidigung und Körperverletzung. Er gilt als „querulantische Persönlichkeit“, die zu „affektlabilen Reaktionen“ neige. Mehrfach wurde er angezeigt, weil er in und vor Supermärkten Frauen sexistisch und rassistisch beleidigte und tätlich angriff. Er ist Neonazi, Soziopath und Frauenhasser, überheblich und selbstmitleidig. In seiner lebensweltlichen Tristesse schuf er sich einen virtuellen Raum, in dem er sich als „Herrenmensch“ fantasierte. Seine Aggressionen waren in großer Mehrheit gegen Frauen gerichtet. Die Drohschreiben schickte er in Kopie an Medien und Behörden, um ein möglichst großes Echo zu erzeugen.

Die Informationsbeschaffung

Im Zuge der Ermittlungen wurden im zeitlichen Zusammenhang mit den Drohungen des NSU 2.0 auch polizeiliche Datenabrufe in Wiesbaden, Hamburg und Berlin ermittelt. In keinem Fall konnten hierfür dienstliche Gründe festgestellt werden. Doch wie kamen die aus den Polizeicomputern abgerufenen Informationen zu Alexander Mensch? Die Staatsanwaltschaft stellt die These auf, dass er auf Revieren anrief, sich als Behördenmitarbeiter ausgab und entsprechende Auskünfte erhielt. Notizen, die man bei ihm fand, lassen darauf schließen, dass er derartige Anrufe tatsächlich tätigte; auch standen in einem Regal Bücher mit Titeln wie „Die Kunst der Täuschung“ und „Verbotene Rhetorik: Die Kunst der skrupellosen Rhetorik“. So ist durchaus vorstellbar, dass er durch fingierte Anrufe und rhetorische Tricks im Einzelfall an vertrauliche Informationen gelangte. Doch die Vielzahl der Fälle, in denen er derartige Daten erhielt, lässt die These der Staatsanwaltschaft wenig plausibel erscheinen. Dies bestätigte schon die Hauptverhandlung. Die stellvertretende Chefredakteurin der taz sagte als Zeugin aus, dass ein Mann — mutmaßlich Alexander Mensch — sich am Telefon als Polizist ausgegeben und die Mobilfunknummer der taz-Autor*in Hengameh Yaghoobifarah erfragt habe. Sie sei jedoch misstrauisch gewesen und habe die Nummer nicht herausgegeben — woraufhin der falsche Polizist aus seiner Rolle fiel und Drohungen ausstieß.

Dennoch wird die Behauptung, Alexander Mensch sei durch fingierte Anrufe auf den Revieren an Informationen aus polizeilichen Datenbanken gekommen, vom hessischen Innenminister Peter Beuth für bare Münze genommen. Um den Verdacht auszuräumen, Polizeibedienstete hätten mit Neonazis in Verbindung gestanden, stellt er diese lieber als Tölpel dar, die leichtfertig Informationen herausgeben. Wahrscheinlicher als diese Erzählung ist es, dass in abgeschirmten Foren rechte Polizist*innen mit Neonazis vernetzt sind und diesen Informationen liefern. Diese Spekulation wird auch von Alexander Mensch genährt. Am 17. Februar, dem zweiten Prozesstag, erklärte er, Mitglied in einem derartigen Forum gewesen zu sein, sich dort jedoch passiv verhalten zu haben. Überprüfen lässt sich das nicht.

Keinen vernünftigen Zweifel gibt es jedoch daran, dass der Datenabruf zu Başay-Yıldız am 2. August 2018 durch einen oder mehrere Polizeibeamt*innen erfolgte, um diese so erlangten Daten zu Drohzwecken zu gebrauchen. Der Datenabruf war so komplex, langwierig und untypisch, dass kein Beamter und keine Beamtin diesen auf telefonischen Zuruf eines Unbekannten vorgenommen hätte.

Die Wirkung der Drohungen

Auch die Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke Martina Renner war von den Drohungen des NSU 2.0 betroffen und tritt im Prozess als Nebenklägerin auf. Im Gespräch konstatiert sie, dass gerade Bedrohungen, die persönliche Daten der bedrohten Person enthalten, für diese nicht abstrakt sind, sondern reale Auswirkungen haben. Diese Schreiben seien nicht mehr die „üblichen“ rassistischen und nazistischen Drohungen, sondern die TäterInnen machten mit der Verwendung persönlicher Informationen deutlich, dass sie die Drohung auch in die Tat umsetzen können. Hinzu komme, dass die Verwendung von Daten aus polizeilichen Systemen das Gefühl vermittelt, dass es von der Polizei keinen Schutz gebe. Sich von diesem Gefühl freizumachen, sei sehr schwierig, vor allem, wenn man wisse, dass es rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden gibt. Renner verweist auch auf die Bedeutung von Foren wie PI-News. Diese funktionieren als Plattformen, auf der Menschen rassistisch und/oder als politische Gegner*innen markiert und direkt zu Zielscheiben gemacht werden. So war es auch beim NSU 2.0. Ein Bericht über Başay-Yıldız wurde auf PI-News bis zum 2. August 2018 über 150 Mal kommentiert — dann folgte das erste Drohschreiben.

Bei Başay-Yıldız wird deutlich, welche Wucht solche Drohungen entfalten können. Die Verfasser*innen kannten ihre Privatadresse, wussten über ihre Familie Bescheid und kündigten an, ihre Tochter zu töten. Zudem gingen diese Informationen an eine Vielzahl von Personen, unter anderem an einen rechten Anwalt, und wurden im Internet veröffentlicht. Başay-Yıldız erzählt, wie sehr sie bei den Behörden kämpfen musste, um ernst genommen, über die polizeilichen Datenabrufe informiert zu werden und Unterstützung zur Sicherung ihrer Wohnung zu erhalten. Für sie ist die Gefahr sehr konkret. Sie sorgt dafür, dass ihre Tochter niemals unbeaufsichtigt ist, und ist sofort alarmiert, wenn Leute vor ihrem Haus stehen.

Der Prozess

Alexander Mensch scheint nicht zu realisieren, dass die Beweislage gegen ihn wegen der NSU 2.0-Drohschreiben dicht ist. Am zweiten Verhandlungstag verlas er eine zehnseitige „Erklärung zur Anklageschrift“, in der er die Vorwürfe bestritt. Allerdings hatte er seine Erklärung nicht mit den Ermittlungsergebnissen abgeglichen, weshalb diese unplausibel und sofort zu widerlegen war. Die Schwierigkeit im Verfahren wird sein, den Funken Wahrheit aus seinen Erklärungen zu isolieren und zu verstehen, mit wem und wie Alexander Mensch vernetzt war.

Der Prozess ist bis Ende April 2022 angesetzt, doch er könnte sich erheblich in die Länge ziehen. Wenn schließlich das Urteil gegen Alexander Mensch gesprochen ist, wird der Komplex „NSU 2.0“ aber nicht aufgeklärt sein. Dazu müssten die Wege ermittelt sein, über die Informationen von der Polizei zu Neonazis flossen. Denn offensichtlich hat der NSU 2.0 seinen Ursprung bei Frankfurter Polizist*innen, von denen auch sehr wahrscheinlich der Name erdacht wurde.