Die Mär vom „Einzeltäter“

Über „organisierte“ und „unorganisierte“ Neonazis

Nach rechten Straftaten kommt häufig die Frage auf, inwieweit Täter oder Täterinnen „organisiert“ waren oder „einzeln“ bzw. „allein“ handelten. Die Behörden indes interessiert dies meist wenig, antifaschistische Initiativen und kritische Medien umso mehr. Nur so lässt sich nachverfolgen, was zur Tat geführt hat und welche Strukturen in welcher Weise dazu beigetragen haben. Es ist schließlich Kernaufgabe von Antifaschist\*innen, diese handlungsunfähig zu machen, damit aus ihrem Kreis keine weiteren Taten mehr geschehen können.

Nach rechten Straftaten kommt häufig die Frage auf, inwieweit Täter oder Täterinnen „organisiert“ waren oder „einzeln“ bzw. „allein“ handelten. Die Behörden indes interessiert dies meist wenig, antifaschistische Initiativen und kritische Medien umso mehr. Nur so lässt sich nachverfolgen, was zur Tat geführt hat und welche Strukturen in welcher Weise dazu beigetragen haben. Es ist schließlich Kernaufgabe von Antifaschist*innen, diese handlungsunfähig zu machen, damit aus ihrem Kreis keine weiteren Taten mehr geschehen können.

Unter „sich organisieren“ wird — kurz gefasst — ein Prozess verstanden, bei dem Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels eine gewisse Zeit zusammenarbeiten. Ein Organisierungsprozess kann dazu führen, dass daraus eine Gruppe entsteht — mit einem gemeinsamen Auftritt nach außen und einer Hierarchie nach innen. Eine Organisierung kann jedoch auch eine Struktur schaffen, die eben dieses vermeidet, etwa aus sicherheitsrelevanten Gründen wie beim Terrorkonzept „Leaderless Resistance“. Teil einer Organisationsstruktur sind oft auch Personen, die leicht zu erbringende Hilfe leisten. So wussten etwa einige Neonazis, die der Kerngruppe des NSU ihre Ausweise zur Verfügung stellten, vermutlich nicht konkret, dass sie damit eine rassistische Mordserie ermöglichten. Doch ihnen war klar, dass sie Personen unterstützten, die im Sinne einer gemeinsamen Ideologie „im Untergrund“ aktiv waren. Selbst wenn sie keinen unmittelbaren Einfluss auf die Aktionen des NSU ausübten, so hätte die Terrororganisation ohne sie nicht funktionieren können.

Der Fall Stephan Ernst

Am 1. Juni 2019 erschoss Stephan Ernst den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke, weil er in diesem einen Vertreter der „Willkommenskultur“ für Geflüchtete sah. Ernst war ein organisierter Neonazi. Er war viele Jahre in der NPD und in neonazistischen Kameradschaften aktiv gewesen. Nachdem er sich zwischenzeitlich aus der Szene zurückgezogen hatte, frischte er den Kontakt zu Markus H. wieder auf, den er aus der Kameradschaftsszene kannte. Markus H. brachte Ernst das Schießen bei und vermittelte ihn an einen rechten Waffenhändler, der illegal mit Schusswaffen handelte. Für die AfD war Ernst als Wahlkampfhelfer aktiv. Auf seiner Arbeitsstelle scharte er zwei Kollegen um sich, die er für seine Idee eines bewaffneten Kampfes gegen Geflüchtete einnehmen konnte. Hierfür besorgten sie sich drei Schusswaffen. Juristisch gesehen bildete sich eine kriminelle Vereinigung, die auf die illegale Beschaffung von Waffen zur Vorbereitung eines „Rassenkrieges“ gerichtet war. Dies jedoch ignorierte die Staatsanwaltschaft im Prozess, wohl weil man dann hätte thematisieren müssen, dass es im bürgerlichen Lebensumfeld von Ernst eine hohe Akzeptanz für einen bewaffneten Kampf gegen Geflüchtete und „Volksverräter“ gibt.

Die (Re-)Radikalisierung von Stephan Ernst funktionierte stark über das Internet. Immer wieder sah er sich dort ein Video an, das die Ermordung von zwei Touristinnen im Dezember 2018 in Marokko durch Akteure des Islamischen Staats zeigt. Dies hielt seinen rassistischen Hass am Kochen. Durch das Netz erlebte er auch eine Selbstermächtigung. Immer wieder hatte Markus H. ein Video online gestellt, das gegen Walter Lübcke hetzte, und beide berauschten sich an den hasserfüllten rechten Kommentaren, die stets auf die Veröffentlichung folgten.

Die Staatsanwaltschaft klagte nach dem Mord an Walter Lübcke Markus H. wegen „psychischer Beihilfe“ an. Sie argumentierte, dass H. durch Schießtrainings und gemeinsame Gespräche, in denen beide ihre radikalen Ansichten austauschten, Stephan Ernst in seinem Tatentschluss bestärkt habe. Der Versuch schlug fehl, H. wurde von diesem Vorwurf freigesprochen. Das Gericht sah die Anstiftung oder Beihilfe zum Mord nicht gegeben. So blieb Stephan Ernst juristisch gesehen ein Einzeltäter.

Rechte Organisierung im Netz

Im vordigitalen Zeitalter lief der Prozess neonazistischer Organisierung über gemeinsames Erleben, es gab gar keinen anderen Weg. Man lernte an einem Ort Gleichgesinnte kennen oder geriet dort unter den Einfluss von Personen, unter dem man sich nach rechts politisierte. Einige suchten gezielt Anschluss an eine rechte Gruppe, schrieben diese an oder gingen direkt zu deren Treffpunkten und stellten sich vor. Wenn man heute Teil der „Nationalen Bewegung“ oder des rechten „Untergrunds“ sein will, kann man sich diese Wege sparen. Selbst gut geplante bewaffnete Aktionen werden von Personen ausgeführt, die ihre ideologische Entwicklung und das Erlernen ihrer Skills im Wesentlichen in Sozialen Netzwerken, Imageboards und Messenger-Diensten im Netz durchgemacht haben. Sie organisieren sich häufig über Foren, die so programmiert sind, dass keine Zugriffsdaten mitgeloggt und auch die Inhalte gelöscht werden. Das macht die Recherche zu einzelnen Personen und ihren Verbindungen sehr schwierig.

Der Neonazi Stephan B., der am 9. Oktober 2019 in Halle an der Saale zwei Menschen erschoss, hatte keine Freunde, mit denen er etwas in der analogen Welt unternahm. Er verbrachte seine Zeit fast ausschließlich zu Hause vor seinem Computer. Dort tauschte er sich mit anderen Neonazis aus, und dort nahm er die rassistische und antisemitische Propaganda vom „Großen Austausch“ auf. Er fasste den Entschluss, die Jom-Kippur-Feier in der Synagoge zu überfallen und möglichst viele Menschen zu töten. In einem geschlossenen Forum im Dark­net kündigte er einen Anschlag an, ohne konkret ein Ziel zu benennen. Daraufhin erhielt er von einem Forumsmitglied umgerechnet 750 Euro, um die Tat ausführen zu können. Ein anderes gab ihm Tipps, wie er einen Schussapparat selbst bauen könne. B. kannte die ihn Unterstützenden sehr wahrscheinlich nur über diese Foren. Er wusste sicher nicht ihre realen Namen und wo sie lebten. Der Anschlag auf die Menschen in der Synagoge schlug bekanntlich fehl, stattdessen erschoss B. zwei Menschen, die zufällig seinen Weg kreuzten. Er wurde als ein allein handelnder, nicht organisierter Täter zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Frage der Einbindung des Täters in Gruppen im Darknet war in den Ermittlungen der Behörden weitgehend ignoriert worden.

Bekannte Charaktere

Stephan B. erhielt das Knowhow und die Bestärkung für den Anschlag über seine Internet-Foren. Dort ist es auch Menschen, die sehr zurückgezogen leben, möglich, sich mit anderen zusammenzuschließen und gemeinsam Ideen und Aktionen zu entwickeln.

Der Charakter des Täters, den Stephan B. darstellt, ist alles andere als unbekannt. Es gibt seit jeher viele rechte Männer, die sich als benachteiligt ansehen, sozial isoliert sind und dafür bestimmte Gruppen verantwortlich machen. Und die daraus einen mörderischen Hass entwickeln. Sie alle haben ein ideologisches Korsett aus Verschwörungsglauben, Rassismus, Antisemitismus, Hass auf Frauen und auf alles, was als „anders“ angesehen wird. Der Neonazi Frank Steffen, der am 17. Oktober 2015 an einem Wahlkampfstand in Köln die Oberbürgermeister-Kandidatin Henriette Reker durch mehrere Messerstiche verletzte und beinahe ermordete, brauchte vermutlich kein Internet, um sich zu radikalisieren und in seinem Tatentschluss zu bestätigen. Er war auch schon längere Zeit nicht mehr in einer klassischen Neonazi-Gruppe organisiert. Er blickte aus seinem Fenster auf Wahlplakate von Reker, die er für eine seiner Meinung nach verfehlte Einwanderungspolitik mitverantwortlich machte. Schon gar nicht wollte er von einer Frau regiert werden. Seine Tatwaffe, ein sogenanntes Rambo-Messer, hatte er selbst beschafft, und es hatte wohl auch niemanden gegeben, der ihm Ratschläge gab oder ihn zur Tat motivierte.

Von der „Telegram“-Gruppe zur Terrorgruppe

Mit Razzien und Festnahmen in mehreren Bundesländern gingen im April 2022 die Sicherheitsbehörden in mehreren Bundesländern gegen einen Kreis von Personen vor, die sich Schusswaffen beschafft und geplant hatten, Anschläge auf die Strominfrastruktur zu begehen und Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen. Der Prozess der Gruppenfindung lief im Wesentlichen über den Messenger-Dienst Telegram. Eine erste Telegram-Gruppe von ihnen nannte sich „Vereinte Patrioten“, sie wurde im Sommer 2021 deaktiviert. Danach entstand die Gruppe „Aktive Veteranen und Patrioten“. Dort kommunizierte man offen über den Sturz des Systems und die Notwendigkeit, sich hierfür Waffen zu beschaffen. Die Telegram-Gruppen boten Raum zum Kennenlernen und Abtasten, dahinter stand ein kleiner Kreis von Personen, die einander bereits von „Reichsbürger“- und Pandemie-Leugner*innen-Veranstaltungen persönlich kannten. Ihnen war bewusst, dass selbst geschlossene Chat-Gruppen keinen sicheren Raum bieten, deswegen durften konkrete Planungen „nur über 1 m Luftweg“ besprochen werden. Der Kern verfolgte einen mehrstufigen Plan, Personen einzubinden und auszurüsten. Sie waren ständig unterwegs, um Leute, die sie über die Chats kennengelernt hatten, persönlich zu treffen. Auch organisierten sie Präsenztreffen, von denen mehrere von einer antifaschistischen Recherchegruppe beobachtet wurden. Die Antifaschist*innen hatten in den virtuellen Gruppen mitgelesen. Am 13. April 2022 wurde die Kerngruppe von fünf Personen bei einer vereinbarten Übergabe von Schusswaffen festgenommen, vier von ihnen sitzen noch in Untersuchungshaft.

Alleine auf Telegram gibt es Dutzende rechte Gruppen, deren Mitglieder sich ständig gegenseitig versichern, es ernst zu meinen und zu vielem bereit zu sein. Diese Gruppen sind Rekrutierungsstätten, Koordinierungsstellen, Echokammern und Sozialraum. Wer sich zu wenig am Austausch beteiligt, macht sich mitunter verdächtig und wird ausgeschlossen. Häufig kristallisiert sich ein Kern heraus, der zur Tat schreiten will. All diese Gruppen dauerhaft und genau im Blick zu haben, ist für Antifaschist*innen eine unlösbare Aufgabe.

Der Blickwinkel der Behörden

Bei den Behörden ist das Verständnis von rechter Organisierung meist stark verengt. Organisiertes Handeln wird häufig nur explizit politischen Gruppen mit einem festen Mitgliedsrahmen zugedacht. Viele Gruppen werden noch immer als „lose Zusammenhänge“ oder „Subkultur“ verharmlost, obwohl sie Regelwerke, feste Zugehörigkeiten und Hierarchien aufweisen. Oder es wird straff organisierten extrem rechten Gruppen der politische Charakter abgesprochen. Beispiele sind diverse „Bruderschaften“, die fast ausschließlich aus Neonazis bestehen, sich jedoch nicht als politischer Zusammenhang darstellen. Auch wird von etlichen Behörden, wenn irgendwie möglich, die These von einem Täter oder einer Täterin vertreten, die für sich alleine gehandelt haben. Diese Erzählung lässt die Strukturen, aus denen heraus gehandelt wird, als wenig bedeutend erscheinen. Darüber lässt sich mitunter gar in Frage stellen, ob die Tat überhaupt politisch motiviert war. Das nimmt der Polizei und der Staatsanwaltschaft den Druck, umfassend zu ermitteln und rigider gegen die Neonazis vorgehen zu müssen, bei denen man sich doch einbildet, sie im Griff zu haben.

In Ermittlungen gegen Linke ist oft das Gegenteil zu erkennen. Dort werden aus zufälligen Begegnungen oder oberflächlichen Kennverhältnissen mit Akribie und Fantasie Gruppen konstruiert, um gegen möglichst viele Personen Repression auszuüben. Führende Politiker*innen betonen nicht erst seit gestern, dass rechte Gewalt die „größte Gefahr für die Demokratie“ darstellen würde. Diesen Aussagen folgt aber in weiten Teilen der Sicherheits- und Justizbehörden keine Bereitschaft, die Strukturen und die Dimension organisierter rechter Gewalt zu begreifen.