Der Kampf um Anerkennung

Interview mit Fanny Schneider

Die Selbstenttarnung des NSU jährt sich in diesem Jahr zum zehnten Mal. Für Antifaschist*innen stellte der NSU-Komplex eine Zäsur dar, die sich auch in einer Reflexion der eigenen Arbeit niederschlug. Der Stellenwert von Betroffenenwissen und das allgemeine Misstrauen gegen die ermittelnden Behörden haben den Blick in die Vergangenheit geschärft. Wir sprachen mit Fanny Schneider über die Aufarbeitung von Brandanschlägen und Gewalttaten der 1980er und 1990er Jahre. Fanny ist aktiv bei „NSU Watch“ und in Inis und Supportstrukturen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in NRW.

Hallo Fanny! Danke, dass du dir Zeit genommen hast. Was sind deiner Meinung nach die größten Schwierigkeiten bei der Aufklärung von Fällen rechter  Gewalt, die so weit in der Vergangenheit liegen?

Spontan würde ich sagen: das Verschwinden von Wissen über die Anschläge und über die Zeit, in der sie stattgefunden haben. Wir assoziieren die Grundstimmung der 1980er und 1990er Jahre heute oft mit dem Begriff „Baseballschlägerjahre“. Wie sich die täglichen Bedrohungen und Angriffe sowie der Rassismus an jedem einzelnen Tag aber angefühlt haben und dass sie so lange weggedrängt worden sind in der „Mehrheits-Erinnerung“, das kommt jetzt erst langsam wieder zu Bewusstsein. Die „Baseballschlägerjahre“ sind nicht nur ein ostdeutsches Phänomen, es gab sie auch in NRW. Hier fehlen noch die vielen Puzzleteile der Erinnerung an rassistische Erfahrungen, an die Angriffe, sie sind noch nicht so sichtbar. Aber es gibt sie. Wenn wir sie zu sammeln beginnen und zusammenlegen, wird der Befund ähnlich sein, so meine Einschätzung.

Aber „Verschwinden von Wissen“ ist gleichsam nicht richtig, es klingt so passiv. Viel eher wird es aktiv verschüttet oder ausgeblendet. Dass die Überlebenden und Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt vergessen werden, hat etwas mit hegemonialem Erinnern zu tun. Nicht umsonst spricht Ibrahim Arslan, Opfer und Überlebender des Anschlages von Mölln 1992, davon, dass die Betroffenen als Hauptzeug*innen des Geschehenen sich ihre Geschichte wiederaneignen und sie sich zurückholen müssen, weil sich zuvor jemand ihrer bemächtigt hat. Ihr habt mitbekommen, dass der Familie Arslan hunderte von Soli-Briefen vorenthalten wurden? Sie lagen jahrelang im Archiv der Stadt, ohne dass die Familie sie je zu Gesicht bekommen hatte. Erinnern muss sich also seinen Platz regelrecht erkämpfen.

Es ist immer auch ein Kampf um Anerkennung, dass die Angriffe und Anschläge, dass die Morde überhaupt als das gesehen werden, was sie sind: rechte und rassistische Gewalt. Es geht dabei um die Ermittlungen, die Anschläge bagatellisieren und die Perspektive auf die Täter*innen, deren Motive in den Bereich des „Pathologischen“ verschoben werden. Sowohl in der Ermittlungsarbeit wie in der gesellschaftlichen Haltung dazu. Die Erzählung vom „verwirrten Einzeltäter“ ist alt, aber leider immer noch sehr stabil.

Was macht diese fehlende Anerkennung mit den Betroffenen?

Die Frage können wir als Unterstützende natürlich nur aus zweiter Hand beantworten. Aber die Familien und Freund*innen berichten darüber — manche erst seit Kurzem. Wir können ihnen also zuhören. Dann merken wir, dass es das Schweigen ist, das viel Platz einnimmt. Die Angehörigen und Nahestehenden haben oft eine unglaublich lange Zeit hinter sich, in der sie angeschwiegen oder nicht informiert worden sind. Wenn sich die Ermittlungen damals — wie wir es aus dem NSU-Komplex erfahren haben — stets in Täter-Opfer-Umkehr gegen die Betroffenen wandten, dann lässt sich die Frage einfach nicht in eine Antwort auflösen, die das Schweigen bricht. Sich ihr zu stellen, kostet unglaublich viel Kraft, berichten Angehörige und Überlebende. Wenn nun — in den letzten Jahren mit mehr Bewusstsein für die rassistischen Morde und Anschläge und mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit für diese fehlende Sichtbarkeit — Überlebende und Betroffene zu erzählen beginnen, dann hören wir oft, dass die Jahre, in denen sie geschwiegen haben, bis heute wie verschwunden sind. Verlorene Jahre. Das, würde ich persönlich sagen, sind die lange Zeit offenen Wunden. Die des Überlebens und die des Trauerns.

Wir können es natürlich nur ahnen. Aber es liegt doch nahe, dass es vielleicht einfacher ist, ein Trauma, einen Verlust, einen Tod von Liebsten zu bearbeiten, wenn wir die Zusammenhänge für das Motiv benennen können. Wenn wir es laut aussprechen können und es gehört und weitergetragen wird. Wenn Angehörige nicht mehr darum kämpfen müssen, als Betroffene von Rassismus überhaupt gesehen und gehört zu werden.

Welche Schwierigkeiten ergeben sich aus den von dir beschriebenen Enttäuschungen der Betroffenen?

Das ist ohne Zweifel ganz unterschiedlich. Aber ein Grundton ist ganz sicher, dass ein Großteil der Akteur*innen, die im Kontext von Strafermittlungsbehörden und Justiz mit den Überlebenden und Angehörigen im Kontakt waren, so wahrgenommen worden sind, dass das Vertrauen in deren Arbeit massiv erschüttert ist. Würdet Ihr euch auf ein Unterstützungsangebot von einer polizeilichen oder nicht-unabhängigen Opferberatungsstelle einlassen, wenn die gleiche Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft — manchmal sogar lokal vor Ort und mit den gleichen Beamt*innen — den Brandanschlag auf euer Zuhause und auf eure Familie als Sachbeschädigung eingestuft hat? Diese Erfahrungen sitzen tief. Sicherheit oder ein Gefühl dafür, dass Hilfe aufrichtig angeboten wurde — davon berichten Überlebende der Anschläge und Angriffe dieser Jahre nie, auch wenn wir uns natürlich grundsätzlich vorstellen können, dass es Ausnahmen gibt.

Auch wenn ein Brandanschlag oder ein rassistischer Mord oder rechter Angriff nach vielen Jahren endlich in seiner Motivlage anerkannt ist, gehört es zu den aktuellen Erfahrungen, dass es kaum Behörden oder staatliche Akteur*innen gibt, die sich öffnen, auf Betroffene zugehen, Bedauern ausdrücken, Hilfe anbieten oder sich für Fehler von damals entschuldigen. Wenn sich unabhängige Beratungsstrukturen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt oder Initiativen an Überlebende, Angehörige oder Freund*innen wenden, ist der Kontakt natürlich auch nicht einfach. Denn dann öffnen sich auch alte Erinnerungen neu. Da braucht es Zeit für einen Austausch, der auch nicht nur „eben kurz“ und nur bis morgen gedacht sein kann.

Wie würdest du den Umgang der  Medien mit der Thematik beschreiben? Gab es dort eine Veränderung?

Es lässt sich schwer pauschalisieren, aber in der Tendenz kann man sagen, dass sie auch damals sehr stark bei dem blieben, was die Polizei herausgegeben hat. Das sehen wir auch heute noch. Aber es gibt auch Gegenentwicklungen, die wir zum Beispiel den hartnäckigen Veröffentlichungsprojekten zu „Todesopfern rechter Gewalt“ zu verdanken haben. Die journalistischen Recherchen und ihre Sichtbarkeit setzen hier wirklich Maßstäbe. Ein Verharmlosen ist da kaum möglich. Wenn Heike Kleffner — aufbauend auf ihre gemeinsam mit den Überlebenden und Angehörigen betriebene Recherche — die Geschichte des Brandanschlages auf die Unterkunft der Familie J. in Köln im Januar 1994 beschreibt, dann lesen wir das heute in der Die ZEIT. Die rassistischen Ermittlungsansätze, die Täter-Opfer-Umkehr, die Ermittlungen gegen die Familie, die durch den Brandanschlag ein 12-jähriges Mädchen verlor –, das Vergessen und Beschweigen, das dann 30 Jahre lang folgte — diese Zusammenhänge und Strukturen sind heute lauter und mit größerer Resonanz sichtbar.

Wie gehen die lokalen politischen Strukturen mit der Aufarbeitung und der Erinnerung um?

Ich beobachte, dass von kommunalen Akteur*innen das Thema entweder im schlechtesten Sinne konsequent weggeschwiegen wird oder dass eine offizielle Haltung zur Erinnerung an rechte und rassistische Gewalt sich des Themas quasi ermächtigt. Mit Sorge verfolgen wir zum Beispiel die Situation in Köln. Dort überraschte am 9. Juni 2021, dem 17. Jahrestag des Nagelbombenanschlages auf die Keupstraße, die Nachricht, dass das Mahnmal zur Erinnerung an den Anschlag und für die Sichtbarkeit der Betroffenen- und Überlebendenstimmen rechter und rassistischer Gewalt am vorgeschlagenen Ort errichtet werden könne. Der lange und harte Kampf, den die Betroffenen und Unterstützer*innen, zuletzt in der Initiative Herkesin Meydanı — Platz für alle, um das Denkmals ausfechten mussten, scheint plötzlich gewonnen. Natürlich ist das eine gute Entwicklung, die mich freut. Zugleich ist es aber auch ein Ergebnis, mit dem Politik gemacht wird. Wenn wir Pech haben, ist das Denkmal am Ende ein Ort, den sich das Stadtmarketing auf die Fahnen schreiben möchte, um es einmal zynisch zu sagen. Wenn ein dermaßen offizielles Sichtbarsein auf Kosten der Wünsche von Überlebenden so „in Wert gesetzt“ wird, dann braucht es kein Verschweigen, um rechten Terror und rechte Gewalt gewissermaßen einzuhegen in ein Erinnern, das kein schlechtes Licht mehr auf die Geschichte einer Stadt wirft. Dann ist die Sichtbarkeit gezähmt, findet in der Sprache der Stadtplaner*innen statt oder historisiert rechten Terror zu etwas, was lange her ist.

Welche Konsequenzen siehst du für die antifaschistische Arbeit?

Ich habe weder die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat richtig wahrgenommen, noch habe ich mitbekommen, dass ihre Angehörigen nach den Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat auf die Straße gegangen sind und laut und deutlich benannt haben, dass sie davon ausgehen, dass es sich um rassistische Morde handelt. Das Blindsein für dieses eigentlich Offensichtliche, das hatte ich auch. Ist das Wissen darum, dass der NSU nicht zu dritt war, ein Allgemeinplatz? Dann hätte sich die These vom „NSU-Trio“ endlich überlebt, das wäre gut. Aber das kann natürlich auch nicht heißen, dass wir jetzt denken, alles über den NSU, über rechten Terror und Rassismus zu wissen und für uns klar zu haben. Im Gegenteil. Ich würde gerne nicht träge werden in meinem Bemühen, mehr darüber zu erfahren, was rechter Terror genau ist, wie seine Strukturen zu verstehen und wer seine Akteur*innen sind. Zu wissen, wie wir sie erkennen, bevor es zu spät ist. Auf den Staat und seine vermeintlichen „Frühwarnsysteme“ würde ich mich da in keinem Fall verlassen. Darum ist es so wichtig, dass wir zum einen sehr genau in den eigenen Recherchen sind. Hier brauchen wir eine starke Wissensbasis, die wir auch an Jüngere weiterzugeben bereit sind. Antifaschistisches Wissen ist keine Raketenwissenschaft. Aber es braucht Verlässlichkeit und Vertrauen im Umgang miteinander, wenn wir es so teilen möchten, dass wir auch bundesweit nachvollziehen können, was geschieht. Und dass wir zum anderen jede Gelegenheit nutzen, staatliches Handeln zu rechtem Terror und rechter Gewalt unter die Lupe zu nehmen. Es ist wichtig, Strafprozesse gegen Nazis und Rassist*innen zu beobachten und zu dokumentieren. Es braucht Menschen, die Untersuchungsausschüsse begleiten. Das ist mühsam. Aber hierher und aus unseren Recherchen kommen die Einschätzungen dazu, wie rechte und rassistische Gewalt eingebettet sind in unsere Gegenwart: in den Angriffen und Anschlägen, die wir beinahe täglich dokumentieren müssen; ebenso wie in der Art und Weise, wie Staat und Gesellschaft damit umgehen. Beides zusammen brauchen wir, wenn wir wirksam sein wollen in unseren Analysen.

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