„Nicht zuständig“ für Menschenleben

Das Sterben im Ärmelkanal

Auf dem Weg nach Großbritannien havarierte am 24. November 2021 im Ärmelkanal ein Boot mit etwa 30 Migrant*innen. Mindestens 27 Menschen verloren bei dem Unglück ihr Leben. Berichte von Überlebenden legen eine Mitverantwortung der britischen und französischen Küstenwachen für das Ausmaß der Katastrophe nahe.

Bei dem Versuch, von einem Strand westlich von Dunkerque in Frankreich nach Großbritannien zu gelangen, geriet das Boot am frühen Morgen in Seenot. Die Passagier*innen setzten Notrufe an die französische und britische Küstenwachen ab, dennoch blieb eine groß angelegte Rettungsmission für nahezu zwölf Stunden aus. Fischer*innen meldeten gegen 14 Uhr die Entdeckung von 15 bewusstlos oder tot im Wasser treibenden Menschen. Bei der folgenden, von französischer Seite koordinierten Suche konnten nur noch zwei Personen gerettet werden, 27 Menschen wurden tot geborgen. Damit ist die Havarie das bislang folgenschwerste Unglück im Zusammenhang mit der Kanalroute und eines der schlimmsten im kontinentaleuropäisch-britischen Grenzraum überhaupt, in dem inzwischen knapp 340 Todesfälle dokumentiert sind. Unter den geborgenen Todesopfern befinden sich 18 Männer, sieben Frauen und zwei Minderjährige. Bei 16 Personen handelt es sich um Kurd*innen aus dem Irak, vier kamen aus Afghanistan, drei aus Äthiopien und je eine aus Somalia, Ägypten, Vietnam und dem kurdischen Teil des Irans. Drei weitere Personen werden nach Recherchen der BBC vermisst.

Unterlassene Hilfeleistung?

Interviews des kurdischen Privatsenders „Rudaw“ mit den beiden Überlebenden legen nahe, dass sich das Boot bereits in britischen Hoheitsgewässern befand, als die Situation an Bord lebensbedrohlich wurde, und dass französische und britische Stellen auf die Notrufe mit dem Verweis auf die Zuständigkeit der jeweils anderen reagierten:

„The right side of the boat was losing air. Some people were pumping air into it and others were bailing the water from the boat. Then after a bit, we called the French police and said: 'help us, our pump stopped working.' Then [we] sent [our] location to the French police and they said, 'you’re in British waters.' In British waters we called Britain. They said: 'call the French police.' Two people were calling – one was calling France and the other was calling Britain. The British police didn’t help us and the French police said: 'you’re in British waters, we can’t come.' Then, as we were slowly drowning, the people lost hope and let go. Then the waters took us back to France. The boat sank in the water and all people fell into the water. We held onto the boat and the people, each person holding the hands of the one behind them, so they don’t drown in the water."

Gestützt werden die Berichte der Überlebenden von Aussagen Angehöriger, die mit später Verunglückten telefoniert hatten.

Kalte Pushbacks?

Dies wäre nicht der erste Fall, in dem die britische Küstenwache Hilfe mit der Behauptung verweigert hat, die Hilfesuchenden befänden sich im Hoheitsgebiet Frankreichs und dass somit Frankreichs Küstenwache zuständig sei. Ein Exilierter beschreibt ein ähnliches Vorkommnis am 20. November. Bei einer versuchten Überfahrt ging dem Boot der Treibstoff aus. Zunächst riefen die Passagier*innen die britische Notrufnummer an. Ohne nach dem Standort gefragt zu haben, behauptete ihr Gesprächspartner, das Boot befände sich in französischen Gewässern. Im Telefonat mit der französischen Notrufnummer wurden sie gebeten, ihren Standort über das Mobiltelefon zu teilen, woraufhin ihnen mitgeteilt wurde, sie befänden sich in britischen Gewässern. Erneute Anrufe bei beiden Notrufnummern blieben ergebnislos, so dass sich die Passagier*innen schließlich bei einer zivilgesellschaftlichen Organisation in Frankreich meldeten, die den Rettungseinsatz auslöste, indem sie die französische Koordinierungsstelle „CROSS Griz-Nez“ alarmierte. CROSS soll dabei explizit den Verdacht geäußert haben, dass die britischen Behörden „absichtlich nicht eingegriffen hatten und die Menschen zurück in französische Gewässer treiben ließen“.

Das britische Innenministerium bestritt auf Anfrage von „Rudaw“ den Vorwurf, Notrufe missachtet zu haben und damit für den Tod der Geflüchteten mitverantwortlich zu sein, und erklärte, der Vorfall habe sich in französischen Gewässern ereignet.

Grenzfalle Calais

Für Menschen mit Migrationsziel Großbritannien stellt die Region um Calais und Dunkerque seit vielen Jahren Anlaufpunkt und Grenzfalle gleichermaßen dar. Der Ärmelkanal ist hier stellenweise nur knapp 30 km breit, Calais ist Endpunkt des Eurotunnels und der Hafen ein wichtiger Knotenpunkt für den Lastwagenverkehr zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien. Wegen der vorgezogenen Grenzkontrollen und der immer stärkeren Sicherung der Grenze stranden viele Migrant*innen zunächst in der Region. Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Jungle von Calais, in dem bis zu seiner Räumung im Oktober 2016 zeitweise rund 10.000 Menschen in provisorischen Unterkünften lebten.

Danach verfolgten die französischen Behörden eine permanente Vertreibungspolitik. In der Region werden vom Staat keine adäquaten Einrichtungen zur Daseinsvorsorge für Migrant*innen bereitgestellt, zivilgesellschaftliche Organisationen, die Hilfe leisten, werden behindert. Prekäre und provisorische Siedlungsplätze werden meist alle 48 Stunden geräumt, wobei Zelte, Schlafsäcke und andere Habseligkeiten der Migrant*innen beschlagnahmt oder zerstört werden. Um dieser Situation schnellstmöglich zu entkommen, nehmen Migrant*innen – selbstorganisiert oder wie im Fall des havarierten Bootes mit Hilfe von Schleuser*innen – immer riskantere Migrationspfade in Kauf. Fanden Bootspassagen zunächst nur vereinzelt statt, nehmen sie seit Herbst 2018 kontinuierlich zu. Im Jahr 2019 erreichten nach britischen Angaben knapp 2.000, im Jahr 2010 dann 8.469 Menschen Großbritannien per Boot. In diesem Jahr waren es bis jetzt bereits rund 27.000 Personen.

Pushback-Trainings und politische Reaktionen

Die britische Regierung bringt nun angesichts der Entwicklung Pushbacks auf See ins Spiel. Die Border Force trainierte am 13. September demonstrativ das Rammen und Wenden von Schlauchbooten mit Jetskis. In dem am 8. Dezember beschlossenen neuen britischen Nationalitäts- und Grenzgesetz (Nationality and Borders Bill) findet sich eine Passage, die sich als Immunitätsgarantie für Grenzbeamt*innen bei Todesfällen im Zusammenhang mit Pushbacks interpretieren lässt. Eine tatsächliche Durchführung solcher Pushbacks wurde bislang aber noch nicht bekannt.

Die politischen Reaktionen auf das Unglück waren geprägt von gegenseitigen Schuldzuweisungen der britischen und französischen Regierungen, der Verurteilung von Schleuser*innen und Forderungen nach einem noch restriktiveren Grenzregime. Dieses wird jedoch keinem einzigen Menschen das Leben retten, sondern den Markt für kommerzielle Schleusungen lukrativ halten und den Raum für die notwendige politische Neuaushandlung weiter blockieren.

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Der Autor Sascha Zinflou beteiligt sich am Blog calais.bordermonitoring.eu. Dieser wurde angesichts der beginnenden Corona-Pandemie im März 2020 als deutschsprachiger Informationskanal zur Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum ins Leben gerufen. Die fünf Redakteurinnen beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit der Situation in der Region um Calais. Sie verstehen den Blog nicht als Meinungsmedium oder als Sprachrohr einer Organisation oder Strömung, sondern konzentrieren sich auf die möglichst präzise Dokumentation des Geschehens unter erschwerten Bedingungen. Sie hoffen, dadurch Beobachtungen und Erfahrungen vermitteln zu können, die auch für andere prekäre Orte in Europa und an seiner Außengrenze, ebenso jedoch für die generelle Situation Marginalisierter im Verlauf der Seuche, des Ausnahmezustandes und der damit einhergehenden Restriktionen, Verwerfungen und Solidaritäten bedeutsam sind.*

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