Den ermordeten Menschen ein Gesicht geben

Interview mit der Gießener „Initiative gegen das Vergessen“

Der unbenannte Bahnhofsvorplatz in Gießen soll Esther-Stern-Platz heißen. So zumindest die Forderung der „Initiative gegen das Vergessen“. Esther Stern war ein jüdisches Mädchen, dass in der NS-Zeit zunächst Zwangsarbeit leisten musste und anschließend nach Treblinka deportiert und dort ermordet wurde. Britta Kremers sprach für die LOTTA mit der Initiative.

Am 22. April 2015 habt ihr den Gießener Bahnhofsvorplatz in Esther-Stern-Platz benannt. Wer war denn Esther Stern?

Esther Stern war ein jüdisches Mädchen. Zunächst lebte sie mit ihrer Familie im Haus am heutigen Marktplatz 15 in Gießen, vor dem auch Stolpersteine für Esther sowie ihre Eltern, Claire und Julius Stern, liegen. Im Oktober 1933 musste die Familie dort ausziehen, konnte jedoch bei einer anderen Familie zur Untermiete unterkommen. Doch auch dies war nicht von Dauer und die Familie musste bald darauf in eines der „Ghetto-“ bzw. „Judenhäuser“ in der Walltorstraße umziehen. Im Alter von zwölf Jahren musste Esther, wie viele andere jüdische Kinder, die reguläre Schule verlassen und konnte lediglich den Unterricht im Gemeindehaus der Synagoge besuchen.

Während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden die Synagoge und das Gemeindehaus zerstört, sodass den in Gießen lebenden jüdischen Kindern keine Schulbesuche mehr möglich waren. Der Schülerin wurde somit jegliche Möglichkeit genommen, ihre Schulausbildung mit einem Abschluss zu beenden. Aus Esthers Steuerkarte geht hervor, dass sie anschließend in einer Gummifabrik Zwangsarbeit leisten musste.

Am 14. September 1942 wurden die Familie Stern sowie alle anderen noch in Gießen lebenden und als jüdisch geltenden Menschen gezwungen, ihre Unterkunft zu verlassen. Sie durften in Eile und unter Aufsicht das Nötigste zusammenpacken und wurden in die Goetheschule gebracht. Zwei Tage später wurden sie nach Darmstadt deportiert und von dort aus nach Treblinka. Genauer Ort und Datum des Todes von Esther Stern sind nicht bekannt. Am 8. Mai 1945 wurde sie schließlich für tot erklärt.

Wie ging es nach eurer Aktion weiter? Was ist mit dem Platz? Wie waren die Reaktionen in der Stadt?

Während der Aktion gab es keine Probleme und kaum Präsenz von Polizei und Ordnungsamt. Danach gab es allerdings Personenkontrollen und zirka eine ¾ Stunde später wurde das Schild von der Feuerwehr wieder abgehängt. Eine Woche später wurden laminierte Schilder mit der Aufschrift „Esther-Stern-Platz“ aufgehängt, welche bedeutend länger hängen blieben. Einige von diesen Schildern hängen immer noch.

Die Gießener Presse hat sich recht wohlwollend geäußert. Die Verantwortlichen der Stadtverwaltung schoben jedoch formelle Gründe vor, weshalb sie die Platzbenennung nicht einfach so anerkennen könnten: Unter anderem merkten sie an, dass sich Adressen ändern würden und dies mit einem bürokratischen Aufwand verbunden sei. Zudem unterstellte die Stadt uns eine willkürliche Wahl des Platzes.

Die jüdische Gemeinde in Gießen äußerte sich zwar nicht öffentlich zu der Benennung, nahm diese jedoch bereits eine Woche später in ihre Chronik auf. Außerdem gab es aus der Öffentlichkeit der Stadtbevölkerung überwiegend positive Resonanzen und der AStA der Uni Gießen bekräftigte in einer öffentlichen Positionierung unsere Forderungen.

Was war eure Motivation für die Benennung? Und wieso gerade der  Bahnhofsvorplatz?

Im Zuge der Umbau- und Renovierungsarbeiten am Bahnhofsgelände entstand dort erst letztes Jahr ein richtiger Platz, der allerdings ohne Namen blieb. Daher kamen wir auf die Idee, diesem einen Namen zu geben. Es sollte ein Name gefunden werden, der einen Bezug zu Gießen und zum Bahnhof aufweist. Eine unserer Assoziationen mit dem Bahnhof waren die Deportationen während des NS, die vom Güterbahnhof ausgingen. Bei unseren Recherchen stießen wir auf Esther Stern. Sie war eine von 330 jüdischen Menschen, die vom Gießener Bahnhof aus deportiert wurden. Zudem vereint sich in ihrem Lebenslauf tragischerweise vieles, was Menschen im NS angetan wurde.

Des Weiteren gibt es zwar einige Gedenkorte oder Denkmäler in der Stadt, doch diese sind unserer Meinung nach nicht ausreichend – vor allem, weil an vielen dieser Orte versucht wird, (auch) den „deutschen Toten“ zu gedenken. Der Kontext von Kriegsschuld, Verfolgung, Deportation und der Shoah wird dabei meist ausgeblendet.

Seid ihr in Kontakt mit der Familie Stern? Wie war deren Reaktion auf eure Idee und das anschließende Vorgehen der Stadt?

Ja, sind wir. Ein Mitglied der Familie Stern, Josef Stern, der Bruder von Esther Stern, lebt heute noch in Haifa (Israel). Zu ihm hatten wir schon Kontakt aufgenommen, als wir begannen uns Gedanken über die Platzbenennung zu machen. Es war uns wichtig, das Einverständnis und das Wohlwollen eines Angehörigen für die Benennung zu haben. Auch dies begründet die Wahl des Namens. Nach der Aktion meldete sich Josef Stern telefonisch und hat sich erfreut über die Benennung geäußert und uns weiterhin alles Gute gewünscht.

„Das Geld zur Herstellung des Straßenschildes, das jetzt leider wieder entfernt werden muss, wäre tatsächlich für einen Stolperstein für ein anderes Opfer, an das noch nicht erinnert wird, besser angelegt gewesen“, so Magistratssprecherin Claudia Boje nach der Platzbenennung. Wie seht ihr das?

Zunächst hat uns dieser arrogante Ton sehr verärgert. Unterschwellig wird dabei vermittelt, dass uns die Magistratssprecherin nicht ernst nimmt und stattdessen vorzuschreiben versucht, mit welchen sinnvolleren Aktionen weniger Zeit und Geld verschwendet würde. Diese Ansicht teilen wir allerdings nicht. Außerdem ist das Stolpersteinprojekt als Gedenkform umstritten.

Uns ist es wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem die Geschichte nicht bei einer bloßen Opferzahl bleibt, sondern explizit aufgezeigt wird, was Menschen widerfahren konnte, die nicht in das Bild der Nazis passten – und eben diesen von den Nazis verfolgten und ermordeten Menschen einen Namen und ein Gesicht zu geben.

Was versprecht ihr euch von dem Mittel der Platzbenennung als politische Aktionsform?

In erster Linie versprechen wir uns davon, dass dieser Platz den Namen „Esther-Stern-Platz“ trägt. Daher entschieden wir uns, dem Platz eigenständig diesen Namen zu geben, um eine Öffentlichkeit für den Namensvorschlag zu erhalten, die Stadt somit in die Diskussion zu zwingen und das Thema generell wieder mehr in den öffentlichen Fokus zu rücken. Zum 70. Jahrestag der Befreiung gab es zwar bereits eine gewisse Präsenz der Thematik, doch wollten wir nun einen lokalen Bezug herstellen und den in der Gesellschaft noch immer vorhandenen Antisemitismus unterstreichen.

Vorrangig geht es uns also um das Gedenken und Erinnern – aber eben auch darum, deutlich zu machen, dass Antisemitismus mit dem Ende der NS-Zeit nicht vorbei war, sondern noch immer präsent ist. Das Erinnern an die Shoah ist daher mit dem bis heute währenden Antisemitismus unmittelbar verknüpft.

Wie geht es jetzt weiter? Habt ihr als Initiative schon weitere Pläne? Verfolgt ihr das Ziel der „offiziellen“ Platzbenennung?

Wir werden unser Möglichstes tun, damit der Platz diesen Namen auch bald offiziell trägt. Parallel werden wir weiterhin mit kleineren Aktionen und Veröffentlichungen versuchen, das Thema in der Öffentlichkeit zu halten. Darüber hinaus haben wir (noch) keine Pläne. Denn wir haben uns schließlich gegründet, um dem Platz diesen Namen zu geben – und bevor die Stadt das Schild nicht wieder aufhängen lässt, werden wir nicht mit etwas Neuem anfangen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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