Deportiert

Zu wenigen Themen sind so viele Bücher geschrieben worden wie zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden während der NS-Diktatur. Kann dem noch etwas Bedeutendes hinzugefügt werden?

Andrea Löw hat mit ihrem Buch „Deportiert“ bewiesen, dass dies in der Tat möglich ist. Das Innovative des Textes liegt in seiner Form. Eine Form, die zumindest sehr selten gewählt wird und ein wenig an Oral History erinnert. Löw lässt die betroffenen Menschen mit ihren eigenen Sätzen zu Wort kommen. Dies ist umso wertvoller, da viele dieser Stimmen während der Schoa mit Gewalt zum Schweigen gebracht wurden. Sie zitiert aus Briefen und Postkarten, die teils aus den Deportationszügen geworfen wurden und nie ankamen. Sie lässt die Leserinnen und Leser in Tagebücher schauen und gibt Berichte der wenigen Überlebenden aus der direkten Nachkriegszeit wieder. Das Ergebnis ist verblüffend: ein wissenschaftliches Werk, in dem jedes Zitat belegt wird, aber es liest sich fast wie ein Band mit Interviews. Dies erzeugt Nähe, die manchmal ungewöhnliche Empfindungen zulässt. Hier erzählen Menschen ganz konkret über ihre Erlebnisse in einer immer schrecklicher werdenden Welt. Manche machten sich etwas vor, übten sich in Galgenhumor, andere ahnten, dass sie in den Tod fuhren, wiederum andere litten unter der Kälte im Waggon… Ähnliches erfahren wir über das Leben im Ghetto oder im Lager. Und dieses persönliche Schildern der Verbrechen hat den Effekt, dass manche der Schreibenden persönlich immer sympathischer werden – und zwar nicht, weil sie Opfer des Faschismus oder Mitglied einer bestimmten Gruppe oder Partei waren, sondern ganz einfach, weil sie nicht zuletzt voller Empathie über die Mitleidenden oder ihre Liebsten schrieben. Und wenn man dann etwa über den Schriftsteller Oskar Rosenfeld, ein Mann der vieles er- und überlebt hat, erfährt, dass er im Herbst 1944 doch noch ermordet wurde, ist das fast ein Schock. Und wenn die extrem mutige Edith Blau nach unglaublichen Erlebnissen überlebt, dann freut man sich mit… Das Buch zeigt den Leserinnen und Lesern, wie und in welchen Etappen die deutschen Jüdinnen und Juden vernichtet wurden. Seine Stärke liegt aber wie gesagt darin, dass es phasenweise wie ein Gespräch wirkt, fast wie Belletristik, wo lange gestorbene Menschen zu uns reden. Andrea Löw ist ein wichtiges Buch gelungen.

Andrea Löw: Deportiert. „Immer mit einem Fuß im Grab“ – Erfahrungen deutscher Juden. S. Fischer 2024, Frankfurt am Main, 368 Seiten, 26 Euro.

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