Wie „Aus dem Nichts“
Zwischen dem 11. September 2000 und dem 25. April 2007 ermordeten Nazis des sogenannten NSU zehn Menschen. Sie töteten neun Geschäftsleute. Sie erschossen eine Polizistin in Heilbronn. In mindestens drei Sprengstoffanschlägen auf eine Bar in Nürnberg (1999), auf ein Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse im Januar 2001 und auf die Keupstraße in Köln Mülheim am 9. Juni 2004 verletzten verborgene Sprengsätze und eine Nagelbombe viele Menschen, mitunter lebensgefährlich. Sie überlebten Angriffe, deren Wucht nachhallt – wie der Schmerz der Familien und Freund*innen der Ermordeten.
Das Echo der NSU-Taten ist auch darum so laut und voller Nachhall, weil auf die Angriffe und Anschläge nicht Unterstützung und Solidarität, sondern Kriminalisierung, rassistische Ermittlungen und Täter-Opfer-Umkehr folgten.
So wurde nicht „in alle Richtungen“, sondern gegen die Überlebenden, die Familien der Getöteten, gegen die Angehörigen der Opfer ermittelt – unter Schlagworten wie „Fehde“, „Mafia“, „Drogenkriminalität“ und „fremde Kulturkreise“. Wir erinnern uns alle an die Namen der Sonderkommissionen. Wir wissen, mit welchen Zuschreibungen die Medien die Taten in die Schlagzeilen brachten, wie sie die Mordserie nannten. Die Überlebenden des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße sprechen von der Art der Ermittlungen und Berichterstattung nach dem 9. Juni 2004 als einer „Bombe nach der Bombe“.
Heute wissen wir, dass Polizei und Verfassungsschutzbehörden zudem dem Kreis der Täter*innen und Tatverdächtigen mit Wegschauen, Ausblenden und Leugnen begegneten. So wurden extrem rechte Strukturen und Akteure kleingeredet, nicht in den Blick genommen oder bewusst an den Rand der Ermittlungsaufmerksamkeit gerückt. Die rassistischen Perspektiven lieferten passende Argumente, im NSU-Komplex nicht gegen Rechts zu ermitteln.
Von Mai 2013 an erhob der 6. Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht im „NSU-Prozess“ in München Beweise zur Anklage gegen fünf Beschuldigte. Nach 438 Prozesstagen fiel das Urteil. Mit Ausnahme des Strafmaßes gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe (und den Unterstützer Carsten Schultze) entschied sich die Strafkammer für milde Urteile für drei der Angeklagten. André Eminger, den sogar die Generalbundesanwaltschaft in der Nähe einer aktiven Mitgliedschaft im NSU sah, verließ am 18. Juli 2018, dem Tag der Urteilsverkündung, das Münchener Gerichtsgebäude auf freiem Fuße. Auf der Besucher*innen-Tribüne waren zuvor die Nazi-Unterstützer*innen in Jubel ausgebrochen angesichts der geringen Strafmaße.
Kein Schlussstrich, Rache
Diese Entwicklung der juristischen ‚Aufarbeitung‘ der Mordtaten und Anschläge des NSU-Netzwerks konnte Fatih Akin noch nicht absehen, als er 2017, ein Jahr vor Prozessende, mit dem Kinospielfilm „Aus dem Nichts“ seine fiktionalisierende Verarbeitung des NSU-Komplexes vorlegte. Der vielfach und international preisgekrönte Film entwickelt eine Geschichte rechten Terrors und seiner Folgen in Anlehnung an den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße und die Schüsse auf Theodoros Boulgarides, ermordet am 15. Juni 2005 im Münchener Westend.
Akins Film-Handlung bringt beides zusammen: Eine in einem Fahrradgepäckträgerkoffer deponierte Bombe explodiert vor dem Laden eines Übersetzungs- und Versicherungsbüros. Deren Inhaber Nuri Sekerci und sein sechsjähriger Sohn Rocco sterben. Noch mit Beginn der Tatort-Arbeit wendet sich die Polizei gegen dessen Witwe und Mutter des Kindes, Katja. Der Film schreitet die Ermittlungen zum Anschlag ab, ebenso wie den Schmerz des Verlustes: die Polizei sucht Spuren und Motive für den Mord in Nuris Vergangenheit. Sie will Hinweise auf Täterkreise aus dem Drogenhandelkontext entdeckt haben oder verdächtigt die deutsche Witwe des erfolgreichen Geschäftsmannes mit kurdischer Familiengeschichte, ihren Mann und ihr gemeinsames Kind getötet zu haben. Katja wird konfrontiert mit Täter-Opfer-Umkehr und rassistischer Polizeiarbeit. Sie spürt deren Folgen, sucht Auswege in Betäubung mit Koks und Alkohol.
Nicht die Ermittlungsarbeit sondern ein Zufall ist es, der schließlich zu zwei Tatverdächtigen führt: ein Nazipärchen hat die Bombe gelegt. Im darauffolgenden Strafprozess scheint es zunächst, als ließe sich die extrem rechte, rassistische Tat urteilsfest herausarbeiten. Doch am Ende gelingt es der Verteidigung, für einen Freispruch zu sorgen – die Opferzeugin Katja, die das Abstellen des Sprengstoff-Fahrrads beobachten und sich an die Täter*innen erinnern konnte, sei nicht glaubwürdig. Als Drogenkonsumentin erliege sie vielmehr dem Wahn, eine falsche Gerechtigkeit erzwingen zu können. Katja übt daraufhin Rache.
Kraft und Ohnmacht
Armin Petras‘ Bühnenfassung von „Aus dem Nichts“ nimmt sich weniger Zeit für den Stoff, ist deutlich kürzer als der Film. Auch begegnet uns das Bühnenstück spät. Denn inzwischen gibt es gut zwei Dutzend Theaterstücke, die sich mit dem NSU-Komplex, mit Taten und Ermittlungen, mit den Betroffenen, den Überlebenden und Angehörigen beschäftigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das dokumentarische Theater. Kraftvoll und zerbrechlich, verwundet und in stiller Wut zugleich greifen etwa die „NSU-Monologe“ der Berliner Bühne für Menschenrechte die Stimmen der Überlebenden und Angehörigen auf. Nuran David Çalış bearbeitet mit „Die Lücke“ und „Die Lücke 2.0“ den Anschlag auf der Keupstraße. Er stellt die Frage danach, wie Betroffene und Nicht-Betroffene von rassistischer Gewalt jene Leerstelle, jenen Unterschied gesellschaftlich eingeschriebener Machtverhältnisse im Moment rassistischer Gewalt sehen, erfahren müssen oder über sie hinweggehen können, weil sie in der Position sind, von Rassismus betroffen oder eben: nicht betroffen zu sein.
Ganz anders „Aus dem Nichts“. Das Stück ist in seiner 75-minütigen Bühnenfassung des Filmdrehbuchs eine verdichtende Interpretation der Perspektiven das Kinoregisseurs Fatih Akin. Der Film macht in seiner fiktionalen Bearbeitung das Thema Rache zum Schlusspunkt seiner zugespitzten Erzählung, bereitet es Schritt für Schritt vor. Akins Katja entschließt sich nach dem Strafprozess, ihre Fragen nach Gerechtigkeit und der Überlebbarkeit von Schmerz selbst zu beantworten, tötet sich und die Mörder*innen ihrer Lieben. Petras‘ Schwerpunkt ist ein anderer. Sein Blick gilt den Ermittlungssituationen, denen Katja ausgesetzt wird, wie der Mord an Nuri und Rocco sie zwar zu Fall bringt, aber nicht bricht. Sie hat solidarische Menschen an ihrer Seite – ihre Freundin Birgit, ihre Anwältin. Zerstört wird Katja vielmehr durch die brutale, gegen sie und ihren Mann gerichteten Ermittlungen, durch das Eindringen und Bloßstellen durch den kriminalpolizeilichen Staatsschützer Fischer, schließlich durch Richter, Sachverständige und Verteidigung im Gerichtssaal. Dort wird ein rassistischer Nazi-Mord zur Nebensache, die Prozessbeteiligten richten sich gegen die Betroffene. Der Freispruch trotz zwingender Beweise ist der letzte Schritt zu Katjas Entschluss, sich auf den Staat nicht länger zu verlassen. Sie nimmt sich ihre Selbstbestimmtheit, die ihr zuvor wie aus dem Nichts genommen wurde, zurück – entscheidet sich endgültig für die radikalste Umsetzung eines freien Willens.
In der Inszenierung und Dramaturgie von Aisha Abo Mostafa und Judith Heese folgt das Publikum auf der kleinen „Casa“-Bühne des Essener Schauspiels auch räumlich sehr nah dem Auseinanderbrechen der Überlebenden, Katjas wütendem Taumel in den Schmerz. Silvia Weiskopf, seit über zehn Jahren Ensemblemitglied am Schauspiel Essen, gibt ‚ihrer‘ Katja auf den ersten Blick allerdings zunächst eine unklare Note. Sie spielt sie zwischen Zerbrechlichkeit und Absturz auf der einen, mit Aggression und Kraft auf der anderen Seite. Mit einem choreographischen Element kehrt allerdings eine Konsequenz in die Figur zurück, die den Lauf der Erzählung präzise aufnimmt. Katjas Dialoge mit ihrer Anwältin (souverän in einer Doppelrolle auch als Freundin Birgit: Olga Prokot) spiegeln sich wider in textbegleitenden Kampfsport-Bewegungen. Sie lassen uns Zusehende eindrücklich wissen, dass kein Moment des Überlebens nach einer rechten Terrortat ohne Kampf wird sein können.
Besonders intensiv wird dieses Spiel im Strafprozess, in der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Anwalt der Angeklagten (auf den Punkt unangenehm, in minimalistischer Präzision und kaltem Spiel: Sven Seeburg – auch in der Rolle als Polizist Fischer und als Sachverständiger). Katja und ihre Nebenklagevertreterin haben die Fakten auf ihrer Seite, sie gehen konfrontativ in die Beweisaufnahme. Ihr Wille, den Prozess zu gestalten und die handfesten Beweise zur Tat zu beleuchten, prallen jedoch ab an den Spielregeln und Handelnden einer Justiz, die nicht mit dem Begriff der Gerechtigkeit sondern mit dem der Überzeugbarkeit und des „Rechtsfriedens“ arbeitet – auch wenn es nicht Argumente und Beweise sondern Wortfinten und Unterstellungen sind, die das Gericht beeindrucken. Die Diffamierung, der Katja als Überlebende schon während der Ermittlungen ausgesetzt war, schreibt sich fort. Es gelingt dem Nazi-Anwalt, Katjas wichtige Zeug*innenaussage als unglaubwürdig abzuwerten, die Beweislage im Bodennebel der Täter-Opfer-Umkehr verschwinden zu lassen.
Konsequent plötzlich
„Aus dem Nichts“ am Schauspiel Essen gelingt es, Quälendes erfahrbar zu machen. Bald ist klar, dass keine Bewältigungs- und Überlebensstrategie, die Katjas Schmerz lindern könnte, der Aussichtslosigkeit wird gewachsen sein können, die ihr mit der Ermittlungsarbeit und den Konfrontationen juristischer ‚Aufarbeitung‘ gewalthaft entgegenschlagen. Die Erzählung schreitet konsequent voran. Es ist gut, dass es (anders als in Akins Film) am Ende weniger um die Frage geht, ob Rache ein geeignetes Mittel ist, diesen Gewalterfahrungen zu begegnen. Katjas erweiterter Selbstmord trägt auf der Essener Bühne weit weniger die Aura einer rechtsphilosophischen Frage in sich, als der Kinofilm sie entwickelte. Das Spiel von Silva Weishaupt bringt vielmehr eine eruptive Konsequenz mit, die keinen anderen Schluss zulässt. Mit der Detonation des Sprengstoffgürtels, den Katja trägt, schließt „Aus dem Nichts“. Es verwundert nichts.
Armin Petras‘ Bühnenfassung wird aktuell bundesweit an verschiedenen Spielorten auf die Bühne gebracht, u.a. in Detmold, Mainz – in Essen. Gewiss wird es stets eine Frage der Interpretation sein, wie hier oder dort die Erzählstränge gewichtet werden, wie die verschiedenen Ensembles ihr Spiel über die Begriffe der Gerechtigkeit und Rache auslegen werden. Am Schauspiel Essen bieten Inszenierung, Schauspieler*innen, Spielort und Bühne an, was Fatih Akin mit „Aus dem Nichts“ am Herzen lag: keine Ruhe zu geben, die Auseinandersetzung zu suchen mit dem machtvollen Umgang eines Staates und seiner Behörden zu rechter Gewalt und tödlichem Rassismus. Einen Schlussstrich wird es nicht geben.
Im Erinnern an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, İsmail Yaşar, Mehmet Turgut, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. In Erinnerung an Michèle Kiesewetter. In Gedanken an die Überlebenden der Sprengstoffanschläge, an die Angehörigen-Familien und Freund*innen.