“Es gilt weiterhin das Blut-und-Boden-Prinzip”
Interview mit Volker Maria Hügel
Nach der 1993 erfolgten De-facto-Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl ist es als Flüchtling kaum noch möglich, in Deutschland ein Bleiberecht zu erhalten. Daran hat auch das so genannte Zuwanderungsgesetz nichts geändert. Auch für Menschen, die vor Jahren aus dem ehemaligen Jugoslawien geflüchtet sind, besteht wenig Hoffnung, dauerhaft in Deutschland bleiben zu können. Auf der letzten Innenministerkonferenz wurde beschlossen, verschiedene Minderheitengruppen, vor allem aus dem Kosovo, abzuschieben. Über die europäische Flüchtlingspolitik, das Zuwanderungsgesetz, das Lagersystem für Flüchtlinge und die neue schwarz-gelbe NRW-Landesregierung sprachen wir mit Volker Maria Hügel von der “Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unter stützung Asylsuchender e.V.” (GGUA) aus Münster. Hügel ist außerdem Vorstandsmitglied von “Pro Asyl”.
Sie engagieren sich u.a. bei der GGUA in Münster. Was macht die GGUA?
Wir haben im April 1979 mit der Arbeit angefangen. Der Aufgabenbereich war von Anfang an aufgeteilt in Begegnung, Beratung und Politik. Begegnung in Form dessen, dass Einheimische und Flüchtlinge sich begegnen können. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig in der einheimischen Bevölkerung bekannt ist über die Probleme von Flüchtlingen und deren Ursachen und warum sie überhaupt hier sind. Wir haben spätestens seit dem 11. September 2001 eine Diskussion, die ist fast phobisch zu nennen. Die Leute haben wahnsinnige Vorbehalte. Dann Beratung: Es geht darum, Menschen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären. Aufklärung, wenn es darum geht, im komplizierten Asylverfahren, im Dschungel von Paragrafen und Auslegungsmöglichkeiten, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Wie bewerten Sie die europäische Flüchtlingspolitik?
Wir haben auf europäischer Ebene drei Grobrichtungen. Die eine nennt sich Regionalisierung von Flüchtlingsströmen. Da geht es darum, dass Menschen in ihren Regionen bleiben sollen und sich gar nicht erst in Richtung EU aufmachen können. Die zweite ist der Schutz der Außengrenzen. Das geht entlang der neuen EU-Staaten, in denen mit EU-Mitteln die Grenzen aufgerüstet werden, so dass dort Menschen ohne Visum aufgehalten werden. Das Flüchtlingsproblem wird in die Nicht-EU-Staaten verlagert. Entlang des Mittelmeers haben wir eine hochtechnisierte Küstenbewachung. Durch die EU-Erweiterung wird der Wall gegen Flüchtlinge immer weiter nach Osten verschoben. Drittens wird geguckt, ob man die Asylverfahren nicht per se außerhalb der EU durchführen kann, um dann die wenigen, die Asyl bekommen, einfliegen zu lassen.
Flüchtlingslager außerhalb der EU zu bauen, das wurde immer wieder vor allem von Innenminister Schily gefordert. Wie weit sind die Pläne für diese Wüstenlager in Afrika?
Darüber wird seit Jahren diskutiert. Vor allem der britische Außenminister und der deutsche Innenminister haben diese Pläne wesentlich vorangetrieben. Italien hat bereits Absprachen mit Libyen getroffen, die gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Dort werden Flüchtlingslager mit italienischem Geld unterhalten, in denen keine Konvention, keine Menschenrechtsstandards der Welt gelten. Die EU schweigt dazu.
Generell gibt es ja eine Praxis in Deutschland, Flüchtlinge nicht mehr in privaten Wohnungen, sondern in Gemeinschaftsunterkünften unterzubringen. Wie sind die Lebensverhältnisse in diesen Lagern?
Im Lager gibt es für Flüchtlinge eigentlich kein Privatleben. Dort stehen sie unter ständiger sozialer Kontrolle, haben nur eine geringe Bewegungsfreiheit. Die Kinder haben keine eigenen Zimmer, Schularbeiten zu machen ist da schwierig. Die Entfernung zur Infrastruktur, angefangen bei Einkaufsmöglichkeiten über Schulen bis zu Gesundheitsvorsorge ist oftmals ein Problem. Wir haben bundesweit ganz unterschiedliche Verhältnisse. Wir haben zum Teil Lager, da gibt es noch nicht einmal einen Bus. Da muss man vier Kilometer laufen, um überhaupt in eine Stadt zu kommen. Das verhindert natürlich Kontakt und Solidarität. Die Isolation in den Lagern hat noch eine andere Folge: Es gibt nicht mehr so etwas wie eine demokratische Kontrolle, was in den Lagern eigentlich passiert.
Zustände in diesen Lagern sind oftmals katastrophal. Gibt es solche Abschiebelager auch in NRW? Beziehungsweise: Ist unter Schwarz-Gelb mit der Einrichtung solcher Lager zu rechnen?
Nordrhein-Westfalen hatte eine solche Rückkehreinrichtung in Minden-Lübbeke. Diese wurde geschlossen, weil es sich finanziell nicht lohnte. Es gibt in NRW aber mehrere zentrale Unterbringungseinrichtungen, die nicht mehr ausgelastet sind. Es besteht Gefahr, dass eines dieser Lager zu einem Abschiebelager gemacht wird. Die Landesregierung hat natürlich die gesetzlichen Möglichkeiten dazu und kann das frei entscheiden. Was die Flüchtlingspolitik angeht: Vieles ist stark personen- und weniger parteiabhängig. Der frühere Landesinnenminister Fritz Behrens zum Beispiel hat Ende 2004 eine komplette Kehrtwende gemacht. Besonders schlimm war der Erlass vom 28. Februar 2005, der die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes, als Teil des neuen Zuwanderungsgesetzes, für geduldete Flüchtlinge kaputt gemacht hat. Ohne Not ist da der Interpretationsspielraum der Ausländerbehörden eingeschränkt worden. Wir haben an vielen Stellen versucht, Druck auszuüben. Der Innenminister war nicht zu erweichen, zu einer vernünftigen Erlasslage zu kommen. Zum neuen Innenminister kann ich noch nichts sagen. Ich sehe es aber als bedenklich an, dass es langfristige Verträge zwischen dem Land NRW und den Lagerbetreibern gibt. Das Geld fließt also auch, wenn die Lager nicht ausgelastet sind. Dass man dann überlegt, diese Lager einer anderen Bestimmung zuzuführen, das könnte ein Argument für diese furchtbaren “Ausreisezentren” sein. Wenn die ökonomischen Argumente auf der einen Seite und die Menschenrechte auf der anderen Seite stehen, dann wird – so meine Erfahrung – unabhängig davon, welche Regierung am Drücker ist, nach finanziellen Gesichtspunkten entschieden.
Am 3. Januar ist zeitgleich mit der Arbeitsmarktreform auch das so genannte Zuwanderungsgesetz in Kraft getreten. Welche Auswirkungen hat das neue Gesetz auf die Situation hier lebender Flüchtlinge?
Eine wichtige Änderung, die das Zuwanderungsgesetz geschaffen hat, ist, dass ich nur noch zu einem Amt gehe, nämlich zur Ausländerbehörde, auch wenn ich verschiedene Dinge zu erledigen habe. Im Falle des Zugangs zum Arbeitsmarkt heißt das, dass ich trotz Duldung und Arbeitsvertrag, erst anfangen darf zu arbeiten, wenn ich dafür die Erlaubnis der Ausländerbehörde erhalte. Diese stimmt sich aber erst einmal mit der Agentur für Arbeit ab. Es folgen zwei Prüfungen, zum einen die so genannte Vorrangsprüfung, die feststellt, ob nicht jemand mit einem besseren Aufenthaltstitel, also in erster Linie ein Deutscher, Anspruch auf den Job hat. Als zweites wird geprüft, ob der Arbeitsvertrag auch für Deutsche zumutbar wäre, die so genannte Lohnprüfung. Wenn die Agentur für Arbeit ablehnt, darf die Ausländerbehörde die Arbeitsaufnahme nicht gestatten. Wenn sie zustimmt, muss die Ausländerbehörde prüfen, ob nicht ein ausländerrechtliches Erteilungshindernis vorliegt. Hierbei ist eine Regelung von Bedeutung, die besagt, dass ich nicht arbeiten darf, wenn ich das Abschiebehindernis selbst zu verantworten habe. Solch ein Abschiebehindernis ist die Passlosigkeit. Hier haben wir ein klassisches Dilemma: Habe ich einen Pass, werde ich abgeschoben. Habe ich keinen Pass, darf ich nicht arbeiten. Das geht zurück auf Schily, der bekundet hatte, dass er gar nicht wolle, dass Geduldete arbeiten. Also wurden die Hürden so hoch gelegt. Wenn die Alternative aber Pass und Abschiebung ist, dann bleibt mir natürlich nur die Variante Pass, keine Arbeit, zur Untätigkeit verdammt und von der Bevölkerung als Schmarotzer angesehen zu werden. Es ist aber nicht wirklich lustig, von staatlicher Unterstützung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu leben. Man lebt unter dem Existenzminimum. Das ist verordnete Armut.
Gibt es auch Verbesserungen?
Es gibt zwei Verbesserungen. Die eine ist, dass sowohl geschlechtsspezifische als auch nicht-staatliche Verfolgung zu einem Abschiebeschutz führen kann. Des weiteren ist gut, dass der Status des kleinen Asyls aus der Genfer Konvention verbessert wurde. Erkauft wurde die Verbesserung des Status für Konventionsflüchtlinge aber, indem man den Status für Flüchtlinge, die nach GG Artikel 16 asylberechtigt sind, verschlechtert hat. Wir haben jetzt die unsinnige Situation, dass, wenn ich als Asylberechtigter anerkannt werde, ich nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekomme und nach drei Jahren noch einmal überprüft wird, ob ich den Flüchtlingsstatus behalten darf. Ist das nicht der Fall, droht die Abschiebung. Erst wenn der Asylstatus erneut bejaht wird, wird eine Niederlassungserlaubnis, dem einzigen unbefristeten Aufenthaltstitel, den das Gesetz kennt, erteilt. Insgesamt hat sich aber vieles verschlechtert. Die Möglichkeiten, die der reine Gesetzestext bietet, sind zwar teilweise besser, aber durch die Interpretation der Länder, insbesondere hier in NRW, wird genau das wieder kaputt gemacht.
Die letzte Konferenz der Innenminister im Juli dieses Jahres hat beschlossen, Minderheiten aus dem Kosovo kein Bleiberecht zu gewähren. Das Bundesinnenministerium und die UN-Verwaltung im Kosovo (UNMIK) sind sich bereits einig geworden. Monatlich sollen 300 Menschen abgeschoben werden. Wie sieht die rechtliche Situation dieser Menschen aus? Ist nun mit Abschiebungen im großen Stil zu rechnen?
Das ist die Schizophrenie der deutschen Politik. Auf der einen Seite war Deutschland beteiligt an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen das damalige Jugoslawien, der dazu geführt hat, dass das Kosovo im Wesentlichen von den Kosovo-Albanern in Besitz genommen werden konnte. Die Bundesrepublik Deutschland hat also mit dafür gesorgt, dass in der Folge Roma, Aschkali, Tobresch, Goranie oder Serben vertrieben wurden. Dann muss sie innenpolitisch auch dafür sorgen, dass die Leute hier bleiben können. Das hat man aber von Anfang an nicht getan. Man wolle nicht, so die Argumentation, dass es ein “ethnisch reines” Kosovo, ein Großalbanien gibt. Das geschieht auf dem Rücken der Flüchtlinge, indem man ihnen hier das Bleiberecht versagt. Einige von ihnen leben seit 18 Jahren in Deutschland. Auch bei den Altfallregelungen 1996 und 1999 wurden sie nicht berücksichtigt. Auf Druck der Arbeitgeber gab es 2001 eine kleine Regelung für diejenigen, die schon zwei Jahre Arbeit haben. Seitdem hat sich die Innenministerkonferenz von Sitzung zu Sitzung geweigert, ein Bleiberecht für die Minderheiten aus dem Kosovo zu machen. Es gibt allerdings Länder, die bekunden, man müsse das Thema wieder auf die Tagesordnung bringen. Vielleicht gibt es dann doch noch eine Bleiberechtsregelung. Aber ich kann mir denken, wie eine solche aussehen wird: Ein Bleibrecht wird davon abhängig sein, ob die Leute seit mindestens zwei Jahren sozialhilfeunabhängig sind. Also seit zwei Jahren eine Arbeit haben. Das können viele nicht bieten, insbesondere weil sie wegen der neuen Regelungen im Zuwanderungsgesetz keine Arbeit haben.
Wie ist die Situation der Roma zur Zeit? In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien haben sie keine Perspektive und sind massiven Anfeindungen ausgesetzt. Droht auch ihnen die Abschiebung?
Im Moment können Serben nicht abgeschoben werden, weil die UN-Verwaltung im Kosovo sich weigert, da die Sicherheit der Menschen nicht gewährleistet werden kann. Und sie weigert sich, im großen Stil Roma aufzunehmen, ausgenommen Menschen, die straffällig geworden sind. Deutschland ist allerdings seit langem dabei, Druck auf UNMIK auszuüben. Wenn UNMIK ohnehin im nächsten Jahr durch die Kosovo-Verwaltung ersetzt wird, dann ist es eine Frage der Scheckbuch-Diplomatie, wie viele Leute aufgenommen werden. Hätten wir übrigens ein anderes Staatsbürgerschaftsrecht, dann wäre klar: Wer in Deutschland geboren ist, ist Deutscher. Dann gäbe es viele Probleme nicht. Dann wären die Kinder der Roma Deutsche. Aber wir haben ein Staatsbürgerschaftsrecht, das nicht republikanisch ist. Es gilt weiterhin das Blut-und-Boden-Prinzip.
Wir danken für das Interview.