„Das Image der Stadt ist eben wichtiger“
Interview mit Taner Aday und Frank Knoche über den Solinger Anschlag
„Ein Kind flog im Traum in das unendliche Blau. Ein Kind flog im Traum voller Hoffnung über grüne Wiesen. Ein Kind fiel auf seine Flügel. Es verbrannte, das Kind. Es brannte. Es war kein Traum. Nein, es war kein Traum. Was verbrannte, war unsere Hoffnung. Was verbrannte, waren unsere Kinder, unsere Frauen. Jetzt brennt es in uns.“
Aus der Rede von Taner Aday auf der Demonstration am 5. Juni 1993 in Solingen
Der Journalist Taner Aday war ab 1993 einer der Sprecher des kurz nach dem Anschlag gegründeten antirassistischen Solinger Appells. Der Sozialarbeiter Frank Knoche ist Mitglied der Ratsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen – offene Liste, engagiert sich bis heute im Solinger Appell und ist Redaktionsmitglied der Solinger Zeitung tacheles – Zeitung für Emanzipation und Solidarität.
Wie habt ihr den Tag des Solinger Brandanschlags erlebt?
Taner Aday: Als ich vom Anschlag gehört hatte, bin ich sofort in die Solinger Innenstadt gekommen. Es kamen unglaublich viele Menschen, die ganze Situation war chaotisch. Dann sind wir direkt zu dem Haus gegangen. Es roch noch nach Rauch. Es fand eine spontane Demo statt, und da habe ich eine erste Rede gehalten. Ich habe gesagt: Man braucht im Grunde gar keine Rede zu halten, das Haus hier brennt noch fast und erzählt im Grunde alles. Letztlich hat sowieso keiner zugehört. Überall war Geschrei, Betroffenheit wurde herausgeschrien. Am nächsten Tag kamen wir wieder. Viele haben gesagt: „Wir müssen etwas tun und organisierter etwas machen.“ Der Solinger Appell wurde mehr oder weniger schon an diesem Tag gegründet.
Frank Knoche: Ich habe damals einen Anruf bekommen auf diesem Pfingstochsenfest in Solingen-Wald und habe dann versucht, den Leuten zu sagen: Ihr müsst das Fest abbrechen. Das geht nicht, jetzt einfach so weiterzufeiern. Ich stieß aber auf wenig Verständnis.
War es für euch „überraschend“, dass so etwas in Solingen passieren konnte oder hat sich das „angedeutet“? Es gab ja auch in Solingen schon vorher rassistische bzw. extrem rechte Vorfälle.
FK: Es gab schon einige Vorfälle, aber „kleinere“. Das war ja auch die Zeit, in der die extreme Rechte überall sehr aktiv war. Im Solinger Tageblatt gab es böse Leserbriefe gegen Asylbewerber und „Fremde“. Auch hier war diese Deutschtümelei nach der Wiedervereinigung und „Das Boot ist voll“-Diskussion zu spüren, die das Klima scharf anheizte. Dennoch hat die organisierte Rechte in Solingen nie wirklich Fuß gefasst. Das Verhältnis zwischen „Ureinwohnern“ und Migranten war genauso wie in anderen Städten: Teilweise gut, teilweise schlecht…
TA: Man hat so etwas schon erwartet – aber nicht in diesem Ausmaß, das war schockierend.
Wie haben die Menschen in Solingen reagiert?
TA: Im Grunde waren die Menschen überwiegend gegen solche Taten. Und die Straßen waren voll mit denen, die dagegen protestierten wollten. Viele kamen aus Düsseldorf und anderen Städten und wollten sich solidarisieren. Aber was tun viele Solinger? Fenster zu, Gardinen zu, Türen zu, und im Fernsehen sich anschauen, was auf Solingens Straßen passiert. Das hat mich betroffen gemacht. Das war für mich das Schlimmste gewesen. „Die“ Solinger darf man natürlich auch nicht sagen. Das dargestellte Bild war schrecklich: Die Hauptstraße war zugemauert. Viele, die an den großen Straßen wohnten, hatten ihre Läden verrammelt.
FK: Das war meines Erachtens eher die Unfähigkeit zu reagieren. Wie immer, wenn so etwas kommt. Alle fragen sich, wo kommt denn das auf einmal her? Vorher hatten sie sich nicht dafür interessiert oder hielten es für linke Propaganda, wenn man das Thema Rechtsradikalismus ansprach.
Die Tage nach dem Anschlag waren ja in der öffentlichen Wahrnehmung sehr geprägt von den anschließenden „Ausschreitungen“ in der Solinger Innenstadt...
FK: Bis heute wird an nicht wenigen Stammtischen – wenn es um den den Brandanschlag geht – vor allem über den „Türkenaufstand“ geredet.
TA: Einige türkische Jugendliche haben beispielsweise Autoreifen angezündet oder Schaufenster entglast. Es gab kleinere Gruppen türkischer Nationalisten, die gut organisiert waren und versucht haben, Profit aus der Stimmung zu schlagen. Viele haben das nicht gleich verstanden. Die sind unorganisiert und orientierungslos auf die Straße gegangen mit dem Gedanken, dass sie gegen Nazis sind. Dabei haben sie zu spät gemerkt, dass sie mit türkischen Nazis zusammen liefen. In der Öffentlichkeit wurde anschließend nur noch über Links- und Rechtsextremismus diskutiert. Die Medien haben zudem mit dem Finger auf die türkischen Nationalisten gezeigt – vielleicht zu Recht, aber politisch war das falsch. Denn der eigentliche Brandanschlag geriet dabei in den Hintergrund. Und leider gab es auch auf der von uns organisierten Kundgebung am 5. Juni Auseinandersetzungen. Einerseits zwischen linken türkischen Gruppierungen und den Grauen Wölfen und andererseits zwischen zwei Fraktionen der türkischen Linken. Dabei hatte es so gut angefangen; es waren viele Menschen gekommen, und dann war alles vorbei. Das war wirklich tragisch, denn hier hätte in Solingen ein starkes Zeichen gegen Rassismus gesetzt werden können.
FK: Wir haben das Phänomen des Instrumentalisierungsversuchs durch die Grauen Wölfe nochmals beim 15. Jahrestag erlebt. Wir kamen mit der Demo zum Ort des Brandanschlages an der Unteren Wernerstraße und trafen dort auf etwa zwanzig türkische Nationalisten,
die ihre Nationalfahne schwenkten und die Demonstranten mit dem Zeichen der Grauen Wölfe provozierten. Das türkische Fernsehen wollte wahrscheinlich Bilder ... Zum Glück ist da nichts passiert.
Nochmals zurück zu 1993. Wie sind denn die Diskussionen in Solingen weiter verlaufen?
TA: Man hat sehr schnell über die Täter gesprochen. Der eine sei ein Arztsohn und sehr lieb gewesen. Mit der Rede von „irregeleiteten“ und „missbrauchten“ Jugendlichen hat man versucht, den neonazistischen Hintergrund herunterzuspielen. Und die, die gegen Rassismus protestiert haben, wurden als Linksextremisten dargestellt – auch eine Form der Relativierung.
FK: Während des Prozesses kamen in Solingen große Zweifel auf, ob man denn die richtigen erwischt hätte. Und es war sogar die Rede davon, dass die Familie Genç ihr Haus selbst angesteckt und Versicherungsbetrug begangen hätte.
TA: So wie jetzt bei den „Döner-Morden“ die These von der türkischen Mafia…
FK: Diese Ressentiments gegen die Familie Genç spielen bis heute eine Rolle.
In den migrantischen Communities gab es doch eine große Angst. Nach Solingen fühlten sich viele nicht mehr sicher in Deutschland. Wie habt Ihr das wahrgenommen?
TA: Ich habe das auch zu spüren bekommen. Ich habe Anrufe bekommen, in die Richtung „Du wirst auch abgefackelt…“. Viele hatten schlaflose Nächte, die haben Wache gehalten. Nach Solingen hörte man öfter: „Die Deutschen wollen uns nicht“. Das hat richtig tief gesessen, diese Angst.
FK: Man hat das deutlich gemerkt nach dem Brand in Ludwigshafen 2008, wie hier Unruhe durch die türkische Community ging. Da kam die Aufregung wieder, die vorher unter der Oberfläche war.
Inwiefern hatte der Anschlag in Solingen etwas verändert? Gab es eine größere Sensibilität gegenüber Rassismus?
TA: Das Gefühl habe ich nicht mehr. Die Täter wurden gefasst, sie haben ihre Strafe bekommen, und dann bemühte man sich zu vergessen. Das ist nicht anders als anderswo in Deutschland.
FK: Es gab schon das Bemühen der Verantwortlichen und derer, die sich bereits vorher engagiert hatten. So wurde beispielsweise ein sehr gutes interkulturelles Gesamtkonzept entwickelt. Da würde man heute jubeln, wenn man so etwas hinbekäme. Allerdings ist es nie wirklich umgesetzt worden. Dass sich die Verhältnisse in Solingen geändert haben, das kann ich nicht sagen. Es gibt leider nach wie vor große Parallelgesellschaften. Da ist Solingen so wie andere Städte. Wenn man liest, wie verbreitet Rassismus und Antisemitismus sind und dass das in die Mitte der Gesellschaft geht, warum soll das in Solingen anders sein?
Auf der anderen Seite wurde als Konsequenz aus dem Anschlag der Ausländerbeirat durch einen Zuwanderungsausschuss ersetzt, der Jugendstadtrat ist entstanden usw. Und die Bemühungen der Zivilgesellschaft waren schon sehr stark.
TA: Ja, das stimmt. Der Solinger Appell war anfangs eine richtig große Bürgerbewegung. Allerdings wurde dann versucht, ihn zu institutionalisieren. Also aktive Bürger für die Parteien zu gewinnen. Das ist so richtig verlaufen. Einige haben auch gesagt, dass wir Chaoten wären, was sogar der Polizeipräsident verneint hat. Das waren richtig böse Sticheleien.
Triebfeder für staatliches oder kommunales Handeln gegen Rechts in den 1990er-Jahren war ja oft, dass das „Ansehen Deutschlands“ bzw. der jeweiligen Stadt beschädigt worden sei, was es dann zu reparieren galt. Wie sah das in Solingen aus?
FK: Am Anfang war bei den Politikern schon eine große Betroffenheit. Der damalige Oberbürgermeister zum Beispiel – das hat man richtig gemerkt –, der hat nicht nur Show gemacht. Und es gab eine ziemliche Entschlossenheit, auch politisch etwas zu verändern. Aber das versandete dann. Wenn der Solinger Appell etwas zum Thema „Der alltägliche Rassismus“ veröffentlichte, wurde das schnell als Nestbeschmutzung wahrgenommen. Und es hat sehr lange gedauert, bis wir hier den Mercimek-Platz [Anm. der Red.: Mercimek ist der Ort, aus dem die Familie Genç stammt] bekommen haben. Man hat sich aber nicht getraut – wie in Frankfurt oder Bonn – einen Platz oder eine Straße nach den Opfern zu benennen. Meine These: Allein schon wegen der türkischen Schreibweise wären die Schilder demoliert oder beschmiert worden, was dann schlechte Nachrichten zur Folge gehabt hätte. Und deswegen hat man sich gar nicht mehr richtig damit auseinandergesetzt. Man wollte es unter der Decke halten.
Wenn es keine nachhaltigen Konzepte gegen Rassismus gibt, verkümmert dann nicht auch ein Gedenken an die Opfer des Brandanschlages zum reinen Ritual? Provokant formuliert: Könnte man sich das dann nicht auch schenken?
FK: Naja, schenken kann man sich das natürlich nicht. Aber hinter den Kulissen ist natürlich die größte Angst, negative Schlagzeilen zu bekommen. Ein Beispiel: In der tacheles hatten wir eine Befragung: „Wie hast du die Zeit damals erlebt und was hat sich verändert?“ Da gab es gerade von den türkischen Leuten sehr negative Beurteilungen. Bei der Verwaltungsspitze hieß es dann, dass damit eine Vorlage für eine negative Berichterstattung in den Medien gegeben worden sei. Anderes Beispiel: Ich habe einmal mit einer Journalistin gesprochen, die anlässlich des 10. Jahrestages für den Spiegel schrieb. Sie war einige Tage hier. Wenn sie die von ihr wahrgenommene Stimmung der Leute auf der Straße gebracht hätte, dann wäre es für Solingen zappenduster gewesen. Aber schon das, was sie schrieb, war der Stadt zu viel. [Anm. Red.: Der lesenswerte Artikel von Hatice Akyün findet sich unter www.akyuen.de/portfolio] Und jetzt, wo der 20. Jahrestag naht, dürfen sie sich natürlich erst recht keine Blöße geben.
TA: Das Image der Stadt ist eben wichtiger als die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Tat.
Wir bedanken uns sehr für das Gespräch!