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Der Brandanschlag in Solingen

Opfer, Täter, lokale Szene, Rolle des Verfassungsschutzes und Prozess – ein Überblick

In der Nacht auf den 29. Mai 1993 geschah das in NRW, was nicht wenige AntifaschistInnen aufgrund der vielen vorherigen Angriffe auf Flüchtlinge und zunehmend auch auf bereits lange in Deutschland lebende MigrantInnen befürchtet hatten: Bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç kamen in Solingen fünf Menschen ums Leben, weitere BewohnerInnen wurden – teilweise lebensgefährlich – verletzt.

In der Nacht auf den 29. Mai 1993 geschah das in NRW, was nicht wenige AntifaschistInnen aufgrund der vielen vorherigen Angriffe auf Flüchtlinge und zunehmend auch auf bereits lange in Deutschland lebende MigrantInnen befürchtet hatten: Bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç kamen in Solingen fünf Menschen ums Leben, weitere BewohnerInnen wurden – teilweise lebensgefährlich – verletzt.

Die Opfer

Trotz der nach dem ersten Notruf um 1.42 Uhr innerhalb von fünf Minuten angerückten Feuerwehr und weiteren HelferInnen vor Ort kam für Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18), Gürsün Ince (27) jede Hilfe zu spät. Drei von ihnen verbrannten, die anderen beiden starben nach einem Sprung aus dem Fenster.

1970 war der zum Zeitpunkt des Brandanschlages 49-jährige Durmus Genç aus Mercimek aus dem Norden der Türkei nach Deutschland gekommen, angeworben als „Gastarbeiter“. 1973 folgte Ehefrau Mevlüde, 1978 Sohn Kamil, 1980 und 1981 die Töchter Sündüz, Nevin, Gürsün und Hatice. Zwei weitere Kinder wurden in Solingen geboren. Inklusive drei Schwiegersöhnen, einer Schwiegertochter, sechs Enkelkindern – unter ihnen Saime und Hülya – sowie Gülüstan Öztürk, einer Nichte, die gerade in Deutschland zu Besuch war, wohnten im Mai 1993 20 Menschen in dem Fachwerkhaus auf der Unteren Wernerstraße, 19 waren zum Zeitpunkt des Anschlages zu Hause. Durmus Genç erreichte die Nachricht während seiner Nachtschicht in einer Fabrik.

Die Verstorbenen wurden auf Wunsch der Familie in Mercimek beerdigt. Das Haus der Familie Genç wurde abgerissen, das Grundstück bis heute nicht wieder bebaut.

Die Täter

Bereits in der Nacht auf den 30. Mai wurde einer der Täter festgenommen, er wurde unter den Schaulustigen vor dem abgebrannten Haus gesichtet, nachdem er zuvor ein Fußballspiel in Köln besucht hatte: der 16-jährige Christian R., der schräg gegenüber dem Tatort in der Wohnung seiner Mutter lebte und schon zuvor durch rassistische Aktionen und Äußerungen aufgefallen war. Am Vortag der Tat hatte er gegenüber Freunden angekündigt, dass das Haus der Familie Genç bald brennen werde. Und so kam es dann auch. Nachdem er am 28. Mai mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten in einer Kneipe gezecht hatte und dann heimgekehrt war, zog er noch einmal alleine los, scheinbar ziellos, aber offenbar sein Vorhaben vor Augen. So etwas alleine zu machen, würde ihm aber keinen Spaß machen, äußerte er später in einer seiner Vernehmungen. In der Stadt traf er den Ermittlungsergebnissen zufolge eher zufällig auf Markus G. (23), Christian B. (20) und Felix K. (16) – alle drei Teil einer rechten Jugendclique –, die ebenfalls ziellos und alkoholisiert unterwegs waren, nachdem sie zuvor auf einem Polterabend in einer Gaststätte ein Hausverbot kassiert hatten. Rausgeworfen worden waren sie von zwei Jugoslawen, das Trio ging allerdings davon aus, es habe sich um Türken gehandelt. Anschließend besuchten sie einen Freund. Und stießen dann später in der Stadt auf Christian R., der nicht zur Clique gehörte, sondern eher als Außenseiter galt.

Alle vier Personen gehörten einer lokalen rechten Jugendszene an, die sich vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen rassistischen und nationalistischen Klimas Anfang der Neunziger insbesondere in ihrem Hass auf „Ausländer“ verbunden fühlte und zunehmend auch Zugänge in organisierte Neonazi-Kreise fand. Einig war man sich tendenziell darin, dass man auch in Solingen „mal was gegen die vielen Ausländer machen“ müsste. Auch schon vor dem Anschlag hatte es vor Ort rassistische Bedrohungen und Angriffe gegeben, die Vorfälle häuften sich. Und offenbar passte in der Nacht auf den 29. Mai alles zusammen. Man wurde sich schnell einig und zog zum Haus der Familie Genç, laut Aussagen von Markus G., um „die Türken“ zu „erschrecken“, damit diese Deutschland verlassen. Während die Älteren Schmiere standen, schütteten die beiden 16-Jährigen spätestens um 1.30 Uhr mehrere Liter Benzin im Windfang des Hauses aus und zündeten es an. Anschließend entfernten sie sich vom Tatort.

Am 3. Juni 1993 gestand dann auch der von der Polizei vernommene Markus G. seine Tatbeteiligung und nannte die Namen seiner drei Mittäter. Sein Geständnis wich jedoch deutlich von dem des geständigen Christian R. ab, der – ohne Nennung seiner tatsächlichen Mittäter – verschiedenste Versionen präsentiert hatte. Letztendlich legte er sich darauf fest, er habe die Tat alleine begangen. Nach dem Geständnis von Markus G. räumte er jedoch ein, die Tat zusammen mit diesem sowie den anderen von Markus G. genannten Personen begangen zu haben. Vor Gericht folgte dann später wieder die Einzeltäterversion. Hierbei blieb er dann. Aufgrund der Aussage von Markus G., der sich Christian R. temporär angeschlossen hatte, wurden dann auch Felix K. und Christian B. festgenommen. Beide bestritten die Tat, auch später während des Prozesses und ihrer Haftzeit – soweit bekannt bis heute.

Der DHKKV

Eine besondere Rolle – sowohl bei politischen Radikalisierung der späteren Täter, als auch bei deren Annäherung an die organisierte Neonazi-Szene – spielte die Solinger Kampfsportschule Hak Pao bzw. der angebundene Deutsche Hochleistungskampfkunstverband (DHKKV). Sowohl Markus G. als auch Felix K. und Christian B. traten im Sommer 1992 dem DHKKV bei und nahmen an Trainingseinheiten teil, die hauptsächlich von Neonazis frequentiert wurden. Christian R. hatte eine Mitwirkung zwar in Erwägung gezogen, diese aber nie vollzogen.

Die Kampfsportschule um den 17-fach vorbestraften Solinger Bernd Schmitt geriet bereits 1991 ins Visier von AntifaschistInnen. War Schmitt bis dahin hauptsächlich durch kriminelle Machenschaften, sein profilneurotisches und angeberisches Gebaren und seine Rauswürfe aus renommierten Kampfsportverbänden aufgefallen, aber nicht durch neonazistisches Engagement, so war ab Herbst 1991 eine Orientierung auf die extrem rechte Szene festzustellen. Eine wichtige Rolle hierbei spielten die im DHKKV mitwirkenden Neonazis Wolfgang Schlösser und Bernd Koch (beide Solingen) sowie Michael Noack aus Mettmann, die über die nötigen Kontakte verfügten. Dies drückte sich einerseits darin aus, dass Schmitts Truppe immer häufiger von extrem rechten Gruppierungen, beispielsweise der Nationalistischen Front (NF) und der Deutschen Liga für Volk und Heimat (DLVH), mit Saalschutzaufgaben betraut wurde, andererseits darin, dass seine Kampfsportschule immer mehr zum bundesweiten Sammelpunkt extrem rechter Akteure wurde, die nach Möglichkeiten suchten, sich kompetent und ungestört für den Straßenkampf ausbilden zu lassen. Ganz besonders angetan von den Kampfkünsten und dem Auftreten Schmitts war der NF-Vorsitzende Meinolf Schönborn, der seine Stunde beim Aufbau des von ihm konzipierten „Nationalen Einsatzkommandos“ (NEK) gekommen sah. Der DHKKV übernahm quasi die Organisa­tionsstruktur und Aufgaben, die für das NEK der dann Ende 1992 verbotenen NF vorgesehen war. In der Kampfsportschule sammelten sich unter der Leitung von Schmitt bundesweite neonazistische Prominenz, sich als SA verstehende militante Neonazis und rechte Solinger Jugendliche. Bei letzteren nahm Schmitt offenbar eine Art Vaterrolle ein, er kümmerte sich um Probleme des täglichen Lebens, erwartete aber andererseits Unterordnung. Nichtrechte Personen, die ihn damals kennenlernten, beschreiben seine Auftritte in Begleitung von Bodyguards als mit denen eines „Billigzuhälters“ und „lokalen Platzhirsches“ vergleichbar. Zumeist ungefragt betonte er mehrfach, dass er nichts gegen „Ausländer“ habe, in seiner Kampfsportschule würden sogar einige trainieren. Ob Schmitt selbst politische Ambitionen hatte oder aber – was wahrscheinlicher ist – seine Profilneurose und die Hoffnung auf eine schnelle Mark im Vordergrund standen, konnte nie wirklich geklärt werden. Sicher aber ist, dass unter seiner Leitung militante neonazistische Strukturen weiter ausgebaut, Neonazis in Waffentechniken und Kampfsportarten trainiert, extrem rechte Gruppen zum Aufbau eigener „Truppen“ animiert und Jugendliche an die organisierte Neonaziszene herangeführt wurden. Nach dem Anschlag warnte er sogar die Clique um Markus G., Felix K. und Christian B. vor Hausdurchsuchungen und gab ihm vorliegende Hinweise auf Christian R. als möglichen Täter nicht weiter.

Der Verfassungsschutz (VS)

Viel ist seit dem Bekanntwerden des NSU darüber geschrieben worden, um welchen Preis die deutschen Inlandsgeheimdienste V-Leute in der Neonazi-Szene anwerben und „führen“, ohne dass die neonazistische Szene hierdurch geschwächt und massive Straftaten verhindert werden – ganz im Gegenteil. Ähnliches geschah in Solingen. Fakt ist, dass Bernd Schmitt, der schon zuvor enge Kontakte zur Wuppertaler Polizei pflegte, seit dem 3. April 1992 zunächst als „Gelegenheitsinformant“, später als V-Mann für den VS NRW tätig war. Dieser hatte begierig zugegriffen, nachdem sich der stets finanziell abgebrannte Schmitt angeboten hatte, schließlich hatte der VS große Schwierigkeiten, V-Leute in der Nähe von Schönborn zu platzieren. Mit eben diesem aber arbeitete Schmitt eng zusammen. Offiziell bekannt wurde Schmitts V-Mann-Tätigkeit, als er am 3. Juni 1994 vor dem Düsseldorfer OLG als Zeuge aussagen und hierfür erst eine Aussagegenehmigung seines Dienstherrn einholen musste. Der VS NRW und das NRW-Innenministerium gaben Schmitt volle Rückendeckung. Dieser sei „nachrichtenehrlich und zuverlässig“ und habe sich „szenetypisch“ verhalten. Hierfür wurde ihm ein Monatsgehalt, vergleichbar dem eines „Arbeiters am Hochofen“, gezahlt. Den zum Mitgliederverband ausgebauten DHKKV hatten der VS und Schmitt offenbar als Pool zur Abschöpfung von Informationen angesehen, quasi als Kristallisationspunkt, der extrem rechte AkteurInnen anlocken sollte, um über sie Informationen zu sammeln. Dass diese dabei zunehmend rechte Jugendliche agitierten und integrierten, spielte dabei keine Rolle. Und was von Schmitts „Nachrichtenehrlichkeit“ zu halten ist, zeigte seine Äußerung vor Gericht, dass er in Solingen gerade einmal zwei bis drei „Rechtsextremisten“ kennen würde, der Rest sei unpolitisch und hätte eher ein Alkoholproblem. Möglicherweise entsprach das aber auch seiner tatsächlichen Wahrnehmung, was eventuell Rück­schlüs­se darauf zuließe, wieso das Innenministerium in Solingen kei­ne extrem rechte Szene erkennen konnte – oder wollte. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Bürgerrechtsaktivist mit Schwerpunkt auf Geheimdienste, fasste Schmitts Rolle wie folgt zusammen: „Bernd Schmitt […] hat im Zusammenhang mit dem Solinger Brandanschlag nicht nur nichts verhindert […] Auch im Nachhinein hat er praktisch nichts aufklären können, im Gegenteil, er hat einen wichtigen Personenhinweis auf die Täter nicht weitergereicht, hat durch seine Warnung vor Hausdurchsuchungen und die Verschleppung von Akten verdächtigen Inhalts hochgradige Verdunkelung betrieben. Mit der Existenz und durch das Verhalten des V-Manns Schmitt sind die Ermittlungen des Solinger Mordanschlags erheblich verkompliziert und stark belastet worden […]“

Der Prozess und das Urteil

Der international beachtete Prozess gegen die vier Angeklagten startete am 13. April 1994 vor dem OLG Düsseldorf. Die Anklage lautete auf fünffachen Mord, 14-fachen Mordversuch und besonders schwere Brandstiftung aus niederen Beweggründen. Erst am 13. Oktober 1995 wurde nach 127 Prozesstagen ein Urteil gesprochen, nachdem es zuvor zu diversen Komplikationen gekommen war. Markus G. hatte zunächst fast zwei Jahre lang an seinem detaillierten und glaubwürdigen Geständnis festgehalten und sich sogar am 14. Januar 1994 schriftlich bei den Überlebenden der Familie Genç entschuldigt. Am 80. Prozesstag zog er sein Geständnis völlig unerwartet zurück. Er sei an der Tat nicht beteiligt gewesen und damals zu dem Geständnis genötigt worden. Er sei deshalb dabei geblieben, weil er bei einer von ihm erwarteten Verurteilung eine mildere Strafe angestrebt habe. Christian R. blieb bei seiner letzten Version, dass er die Tat alleine begangen habe, die anderen beiden hatten eine Tatbeteiligung von Beginn an bestritten und blieben dabei. Letztendlich kassierte G. 15 Jahre, die anderen erhielten eine zehnjährige Jugendstrafe. Entscheidend bei der Verurteilung von Markus G., Felix K. und Christian B. war nach Auffassung des Gerichtes das detaillierte, authentische und auf Täterwissen basierende Geständnis von G., dessen Widerruf als unglaubwürdig bewertet wurde. Letztendlich aber wurden die drei, insbesondere Felix K. und Christian B., „nur“ auf Grundlage von Indizien verurteilt, was nicht ohne Folgen blieb.

Zweifel an der Täterschaft und Abgründe beim Umgang mit den Opfern

Bis heute halten sich Positionen, dass mindestens zwei, eventuell sogar drei Unschuldige verurteilt wurden. Auch in Solingen gibt es nicht wenige Menschen – auch im linken Spektrum –, die der Auffassung sind, es habe zumindest teilweise „die Falschen erwischt“ und es sei entgegen der Regel „in dubio pro reo“ verurteilt worden. Wichtige Fragen blieben für sie im Laufe des Prozesses nicht ausreichend beantwortet: Wo und wann besorgten sich die Verurteilten das als Brandbeschleuniger benutzte Benzin und wann wurde der Brand frühestens gelegt? Ist dieser Zeitpunkt in Einklang zu bringen mit einem belegbaren Ort und Zeitpunkt des Aufeinandertreffens der vier Beschuldigten, also mit der nötigen Zeit, um zum Tatort zu gelangen? Über ihren Kumpel Karsten H., den sie in der Nacht auf den 29. Mai besuchten, hatten Markus G., Felix K. und Christian B. auch versucht, sich ein Alibi für die Tatzeit zu besorgen, was letztendlich an Widersprüchen sowie an der Unglaubwürdigkeit und am temporären Widerruf von Karsten H. scheiterte. Eine weitere wichtige Frage war die nach dem Täterwissen. Hatten Christian R. und Markus G. im Juni 1993 alle Angaben freiwillig gemacht und ohne dass ihnen Aussagen des jeweils anderen Beschuldigten vorgehalten worden waren? Schließlich standen die Ermittlungsbehörden unter einem hohen Druck, möglichst schnell Täter zu präsentieren. Fragen, die 1993 bis 1995 auch diverse AntifaschistInnen beschäftigten. Bei der Suche nach Hinweisen auf bisher unbekannte TäterInnen erwiesen sich jedoch alle „Spuren“ als völlig unergiebig. Insbesondere die Eltern und Verteidiger von Felix K. und die Verteidiger von Christian B. nutzten alle Möglichkeiten, Zweifel an der Schuld der beiden bzw. drei zu nähren und sie als Opfer darzustellen. Hierbei wurden alle möglichen Wege beschritten, auch einige Medien ließen sich hierbei vor den Karren spannen. Und leider gerieten hierbei die tatsächlichen Opfer zunehmend in den Hintergrund, zumindest temporär auch bei AntifaschistInnen. Hinzu kam durch nichts belegtes Gerede in Solingen und auf den Gerichtsgebäudefluren über einen möglichen Versicherungsbetrug der Familie Genç sowie gefakte und skandalöserweise sogar vom Vorsitzenden Richter in den Prozess eingeführte „Hinweise“ in Form einer erkennbar gefälschten notariell beglaubigten eidesstattlichen Erklärung, dass Berliner „Türken“ das Haus angezündet hätten, da einer der Genç-Söhne eine Berliner Türkin vergewaltigt habe. All dies trug mit dazu bei, das Leid der Familie Genç noch weiter zu vergrößern. Am 101. Prozesstag wandte sich Mevlüde Genç persönlich an das Gericht mit den Worten: „Sie haben es zugelassen, dass meine Familie ein weiteres Mal verbrannt wird.“