Ein Krieg gegen die Armen
Diskriminierung und Verfolgung von „Asozialen“ im NS-Staat
Zumindest seien Bettler und Obdachlose von den Straßen verschwunden, heißt es manchmal noch über das „Dritte Reich“. Verschwunden waren diese Menschen tatsächlich: als sogenannte „Asoziale“ in den nationalsozialistischen Haftanstalten und Konzentrationslagern.
Ein Kleid, drei Blusen, ein Paar Schuhe, zwei Hemden und Unterwäsche: Aus dem Speicher ihrer Arbeitsstelle ließ die 22-jährige Hausangestellte Marlene H. (alle Namen geändert) im März 1941 diese Kleidungsstücke mitgehen. Nachbarn ihrer Arbeitgeberin hatten sie dort verstaut. Es war Krieg. Einige Nächte zuvor waren Bomben auf die rheinische Metropole Köln niedergegangen und hatten auch eine benachbarte Wohnung getroffen. An den geretteten Habseligkeiten bediente sich die junge Frau; das gestohlene Kleid trug sie wenige Tage später bei einer Verabredung mit einem Soldaten. Als die Hausangestellte den Rest des Diebesguts holen wollte, war die Tat bereits aufgeflogen.
Harte Bestrafungen
Marlene H. kam in Haft und sechs Wochen später vor das Kölner Sondergericht: Die Frau sei „eine verwahrloste, asoziale Persönlichkeit“, so die Richter, auch wenn sie nicht vorbestraft sei. Der Diebstahl stelle sie außerhalb der Volksgemeinschaft, offenbare „Gewissenlosigkeit“ und „Verwerflichkeit“. Marlene H. galt als „asozial“. Zu ihrem persönlichen Unglück kam hinzu, dass die Gerichte während des Krieges Delikte besonders hart ahndeten, die in Zusammenhang mit einem Bombenangriff standen. Fünf Jahre Zuchthaus lautete das Urteil, selbst für damalige Verhältnisse eine sehr harte Strafe. Vor allem aber waren ihre Persönlichkeit und ihr Lebenslauf ausschlaggebend für das Urteil: Unehelich geboren, war sie bereits als Mädchen in Fürsorgeerziehung gewesen. Nach Kriegsbeginn kam Marlene H. nach Köln und versuchte sich, ohne festen Wohnsitz, als Hausmädchen durchzuschlagen. Einmal griff die Sittenpolizei die junge Frau am Bahnhof auf und brachte sie für sechs Wochen in ein Krankenhaus, angeblich wegen einer Geschlechtskrankheit. Vor allem ihr abweichendes soziales und sexuelles Verhalten hoben die Richter in der Urteilsbegründung hervor.
Eine solch hohe Strafe, wie sie die Richter gegen Marlene H. verhängten, bedeutete nicht nur lange Inhaftierung. In den Gefängnissen und Zuchthäusern des „Dritten Reichs“ herrschten Gewalt, Erschöpfung und Hunger, was für viele Häftlinge im Tod mündete. „Asoziale“ Langzeitgefangene und Sicherungsverwahrte wurden zudem ab Herbst 1942 in die Konzentrationslager deportiert.
Wer gehört zur „Volksgemeinschaft“?
„Ein Krieg gegen die Armen und ‘Minderwertigen’“ wurde im Nationalsozialismus geführt, schrieb der Historiker Wolfgang Ayaß Mitte der 1990er Jahre in seinem Buch über „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Eine einige Gemeinschaft aller Deutschen, in der es keine sozialen Konflikte mehr geben sollte, versprachen die Nationalsozialisten. Hinter dieser Utopie stand jedoch niemals die Vorstellung einer Gemeinschaft gleichwertiger Mitglieder, sondern sie umfasste stets den Ausschluss von denjenigen, die nicht dazugehören sollten.
Bei den im Nationalsozialismus Verfolgten handelte es sich zum einen um Menschen, die per se nicht als „Deutsche“ galten und welche die Nazis aus rassistischen Gründen ausgrenzten und ermordeten – etwa die jüdische Bevölkerung. Zum anderen gab es Personen, die eigentlich der deutschen „Volksgemeinschaft“ angehören sollten, jedoch ihres Verhaltens oder ihres sozialen Status wegen ausgeschlossen waren: Die größte Gruppe stellten sogenannte „Asoziale“ dar, eine vage Bezeichnung für einen äußerst heterogenen Personenkreis, den lediglich einte, dass ihr Verhalten von der Norm abwich: Es waren unter anderem Menschen aus den untersten Schichten, Wohnungslose, BettlerInnen, Prostituierte oder ArbeiterInnen, die sich den strengen Arbeitsstrukturen entzogen. Im Krieg erweiterten sich die Kategorien, es kamen unangepasste Jugendliche hinzu und Frauen, die lesbisch waren oder sich sexuell freizügig verhielten.
Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen „Asoziale“
Bereits kurz nach der Machtübernahme richteten sich konkrete nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen gegen BettlerInnen und Wohnungslose. Im September 1933 verhafteten Polizei und SA in einer Großrazzia auf Straßen, in Nachtasylen und Notunterkünften alle Wohnungslose, derer sie habhaft werden konnten. Schätzungen gehen von etwa zehntausend Festnahmen aus. Der Großteil der bei den Razzien Verhafteten kam nach kurzer Zeit wieder frei, andere wurden in Arbeitshäusern interniert. Ein Erlass über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ ebnete Ende 1937 den Weg, „Asoziale“ ohne richterlichen Beschluss oder Gerichtsurteil zu inhaftieren. Gleich der von der Gestapo verhängten „Schutzhaft“ ermöglichte es diese polizeiliche Vorbeugehaft, die Betroffenen unter anderem in Konzentrationslager zu internieren.
Im Frühling und Frühsommer 1938 holte das Regime zu einem weiteren zentralen Schlag gegen „Asoziale“ aus: Die „Aktion Arbeitsscheu Reich“ bezeichnet zwei groß angelegte Verhaftungsaktionen gegen über zehntausend Menschen im April und Juni 1938, die als „asozial“ galten: In der Razzia im April 1938 verhaftete die Gestapo etwa 2.000 sogenannte „Arbeitsscheue“, die sie zur Zwangsarbeit in das KZ Buchenwald verschleppte. Die Namen der Männer hatte die Gestapo von Arbeits- und Wohlfahrtsämtern erfahren. Die verschiedenen Einrichtungen, Wohlfahrtsbehörden, Fürsorge und Polizei, arbeiteten bei der „Asozialenverfolgung“ eng zusammen.
Im Mai und Juni 1938 erweiterte sich der Personenkreis noch einmal, als sich Razzien gegen LandstreicherInnen, BettlerInnen, Sinti und Roma, Zuhälter, Personen, die aufgrund ihrer Vorstrafen als nicht „gemeinschaftsfähig“ galten, und auch gegen männliche Juden mit Vorstrafen richteten. Wie bereits im Herbst 1933 durchstreifte die Kriminalpolizei, die im NS für die Verfolgung der als „asozial“ Stigmatisierten verantwortlich war, die Aufenthaltsorte, Herbergen und Asyle von Wohnungslosen und BettlerInnen. Die Nazis verschleppten die Verhafteten in die Konzentrationslager, wo sie, als „Asoziale“ mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet, nun eine große Häftlingsgruppe bildeten.
Schnittmengen der Verfolgung
Bei der Verfolgung von „Asozialen“ offenbaren sich immer wieder Schnittmengen mit anderen Verfolgtengruppen, was zeigt, wie vage und willkürlich die Klassifizierung und wie heterogen der Kreis der Betroffenen war. Die Stigmatisierung wurde zu einem Instrument, das alle treffen konnte, die von der Norm abwichen.
Mit der Kategorie ging häufig auch eine (sozial-)rassistische Diskriminierung einher, genauso wie rassistisch Verfolgte gleichzeitig auch als „Asoziale“ gelten konnten – beispielsweise Roma und Sinti. „Asoziale“ waren Opfer von Zwangssterilisierung, kamen in Polizeihaft und wurden in Arbeitshäuser und in Konzentrationslager eingewiesen.
Als „asozial“ Stigmatisierte konnten in sogenannte „Heil- und Pflegeanstalten“ eingeliefert werden, psychiatrische Krankenhäuser, in denen die Nationalsozialisten ab 1939 kranke und behinderte Menschen ermordeten. So erging es beispielsweise dem Bergmann Kurt S., der eine Taschenuhr gestohlen hatte. Das Aachener Landgericht verurteilte ihn im Sommer 1940 zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus und ordnete eine anschließende Einweisung in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ an. Die Richter waren der Ansicht, dass eine befristete Inhaftierung nicht ausreiche, „um den schon weitgehend asozialen Charakter des Angeklagten nachhaltig zu bessern“. Die Gerichtsentscheidung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die „Euthanasie“ in den psychiatrischen Anstalten auf vollen Touren lief.
Nach Kriegsbeginn verknüpfte sich die Kategorie „Asozialität“ immer mehr mit dem Vorgehen gegen „Kriminelle“, vor allem gegen sogenannte „Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher“, welches zuvor getrennt verlaufen war: Am 18. September 1942 einigten sich Reichsjustizminister Otto Thierack und SS-Reichsführer Heinrich Himmler in einer Besprechung über die „Auslieferung asozialer Elemente“ aus dem Strafvollzug: Sicherungsverwahrte und Häftlinge mit Haftstrafen über acht Jahren sollten neben anderen Häftlingsgruppen wie jüdischen, polnischen und russischen Gefangenen an die SS ausgeliefert werden. Etwa 20.000 Häftlinge wurden nach dieser Besprechung zur „Vernichtung durch Arbeit“ in die Konzentrationslager deportiert.
Gesellschaftliches Stigma
Nicht alle „Asoziale“ kamen ins Konzentrationslager, der Vorwurf wirkte auch als gesellschaftliches Stigma und führte zu Diskriminierung und Ungleichbehandlungen. Der Lebenslauf betroffener Menschen wies häufig ein als problematisch gekennzeichnetes Elternhaus – etwa wenn bei Vater oder Mutter „Geisteskrankheiten“, Arbeitslosigkeit oder Alkoholismus attestiert wurden –, Fürsorgeerziehung in der Jugendzeit und Vorstrafen für meist kleinere Delikte auf. Wer als „asozial“ galt, war bei der Jobvergabe und bei der Wohlfahrt benachteiligt oder lief – wie im Fall der Marlene H. – Gefahr, auch für kleinere Delikte vor Gericht zu harten Strafen verurteilt zu werden.
Lange nicht alle Menschen ohne Wohnung wurden im Nationalsozialismus automatisch verfolgt. Diejenigen, die ihre Häuser im Bombenkrieg verloren, versuchte die Regierung zu versorgen und zu entschädigen – häufig mit dem Eigentum deportierter Juden und Jüdinnen.
Das Vorgehen gegen „Asoziale“ und Wohnungslose richtete sich gegen die Menschen am Rande der Gesellschaft, die als faul, arbeitsscheu und verwahrlost galten. Das Problem hieß Armut, kombiniert mit Krankheit, Alkoholsucht, einer schwierigen Lebenssituation oder auch der Entscheidung der Betroffenen, nicht die vorgegebenen Verhaltensnormen zu erfüllen. Anders als vor 1933 ging es, wie Ayaß konstatiert, im Nationalsozialismus nicht mehr nur um Vertreibung und Ausgrenzung von sozialen Außenseitern, sondern um Vernichtung, um die rassistischen Vorstellungen der Nazis umzusetzen.
Nach dem Krieg
Es ist unklar, wie viele „Asoziale“ in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert waren und wie viele im NS ermordet wurden. Ein Anrecht auf Entschädigung oder Wiedergutmachung hatten die Überlebenden nach 1945 nicht, sie waren pauschal als „Kriminelle“ oder „Verbrecher“ verschrien. Die Nichtanerkennung als Opfer des NS wurde (leider) zum Teil auch von ehemaligen KZ-Häftlingen mitgetragen. Viele Verfolgte wagten nicht, in der Nachkriegszeit über ihre Geschichte zu sprechen, und auch in der historischen Forschung sind noch gravierende Lücken vorhanden. Dabei wäre eine lückenlose Aufarbeitung nicht nur notwendig, um die Opfer zu rehabilitieren. Sie würde auch viel zum Verständnis der nationalsozialistischen Gesellschaft beitragen, in der das Regime „Ordnung“, „Normalität“ und „Sauberkeit“ stets mit Gewalt und Terror herstellte.