Nazis – Naumann – Nationale Sammlung
Zur Frühgeschichte der FDP in Nordrhein-Westfalen
Ende Februar 1956 überschlugen sich in der NRW-Landespolitik die Ereignisse. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wurde Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) gestürzt. Abgeordnete der FDP und des Zentrums waren aus der Regierungskoalition mit der Union ausgeschert und hatten den SPD-Kandidaten Fritz Steinhoff (SPD) ins Amt gehoben. Der Koalitionsbruch kam einem kleinen politischen Erdbeben gleich.
Zum einen stellte der Seitenwechsel der Liberalen die kaum zu erschütternde Stabilität des auf Bundesebene regierenden Bürgerblocks unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in Frage. Zum anderen hätte noch einige Monate zuvor kaum jemand eine Koalition zwischen SPD und Liberalen in NRW für möglich gehalten. Die Politik der NRW-FDP war nicht nur von einer Frontstellung gegenüber der Sozialdemokratie geprägt, sondern auch durch Versuche, sich rechts von der Union zu profilieren. Verwundert vom sich anbahnenden Koalitionsbruch zeigte sich daher der vormalige FDP-Vorsitzende und amtierende Bundespräsident Theodor Heuss. In einem privaten Brief bezeichnete er Anfang Februar 1956 die Freien Demokraten an Rhein und Ruhr abschätzig als „Nazi-FDP“.
„Wiederergreifung der Macht“? Die Naumann-Verschwörung
Heuss bezog sich dabei auf einen politischen Skandal, der drei Jahre zurücklag. Im Januar 1953 waren in Düsseldorf, Solingen und Hamburg insgesamt acht ehemals hochrangige NS-Funktionäre von britischen Sicherheitsoffizieren auf Grundlage des Besatzungsstatuts festgenommen worden. Unter ihnen befanden sich der frühere Staatssekretär im Reichspropagandaministerium Werner Naumann, der vormalige Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg Gustav Scheel, der frühere Gauleiter von Hamburg Karl Kaufmann, der ehemalige SS-Brigadeführer Paul Zimmermann und Karl Bornemann, der als HJ-Gebietsführer fungiert hatte. Die britischen Behörden verdächtigten die Gruppe, die „Wiederergreifung der Macht in Westdeutschland“ geplant und „antiwestliche Anschauungen und Richtlinien“ verbreitet zu haben.
Obgleich keiner der Festgenommenen der FDP angehörte, bewegten sich einige von ihnen im Umfeld des NRW-Landesverbandes. Vorangegangene Observationen und beschlagnahmte Dokumente nährten den Verdacht, dass der Kreis um Naumann geplant habe, den Parteivorstand systematisch zu unterwandern. Diese Vorgänge sind als „Naumann-Affäre“ oder „Gauleiter-Verschwörung“ in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen. Mit Blick auf die erste Hälfte der 1950er Jahre wird oftmals auch von der „unterwanderten FDP“ (Heinz-Georg Marten) gesprochen. Die massenhafte Aufnahme belasteter Nationalsozialisten in die FDP verlief jedoch keineswegs heimlich. „Nationale Sammlung“ lautete das in aller Offenheit verkündete politische Konzept, mit dem der nordrhein-westfälische FDP-Vorsitzende Friedrich Middelhauve einen „dritten Block“ rechts der Union schaffen wollte. Tatsächlich entwickelte sich seine Partei zu einem zeitweiligen Biotop extrem rechter Demokratiefeinde.
„Nationale Sammlung“ – Liberalismus ohne Liberale?
Die Voraussetzungen hierfür waren bereits in der Entstehungsgeschichte des im Mai 1947 gegründet Landesverbandes angelegt. Im Gegensatz zu den Freien Demokraten in Südwestdeutschland, die nach 1945 an die Traditionen eines an Rechtsstaatlichkeit, parlamentarischer Demokratie und individueller Freiheit orientierten Honoratiorenliberalismus anzuknüpfen versuchten, fehlten derartige Bezüge der FDP in NRW fast vollständig. In ihrer scharfen Abgrenzung zum katholischen und sozialdemokratischen Milieu repräsentierten die „Liberalen“ dort vor allem jene bürgerlichen Schichten, die schon der Weimarer Demokratie distanziert gegenübergestanden und seit dem Ende der 1920er Jahre dem NS den Weg zur Macht geebnet hatten. Zudem gerierte sich die Partei als Sprachrohr für all jene, die sich zu Opfern angeblicher alliierter „Willkürherrschaft“ stilisierten. Im Millionenheer der durch den Zusammenbruch des NS Enttäuschten und Deklassierten erblickte Middelhauve die Massenbasis seiner national ausgerichteten FDP.
Der Verleger, der sich am Ende der Weimarer Republik in der autoritären Deutschen Staatspartei engagiert hatte, propagierte schon im Dezember 1945 die Gründung einer antiklerikalen und antisozialistischen Partei, in der „die natürlich national und vaterländisch empfindenden Kräfte unseres Volks […] eine politische Heimat finden“ sollten.
In seiner Rede auf dem Münsteraner Landesparteitag postulierte Middelhauve im Juli 1951 die Öffnung der Partei für alle, die „den guten Willen hatten und haben, dem Vaterland beim Aufbau einer zukunftsstarken Demokratie als einer echten Lebensform in einer echten Volksgemeinschaft zu dienen“. Die FDP sei die „Wahrerin des Reichsgedankens, des Gedankens der deutschen Einheit, die einzige Partei, die als große Sammelpartei hierfür in Frage kommt“.
Zum inhaltlichen Schwerpunkt des Landesverbandes avancierte die Forderung nach einem rigorosen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Die FDP polemisierte gegen die von ihr als „Unrecht“ und „Unfug“ denunzierten Entnazifizierungsverfahren und präsentierte sich als lautstarke Fürsprecherin einer breit angelegten Kampagne für eine „Generalamnestie“, die der Ahndung von NS-Verbrechen ein Ende setzen sollte.
„Unterwanderung“ oder „systematisch betriebene Integration?
Ausgearbeitet wurden diese Positionen nicht nur vom Landesvorsitzenden, sondern von einer Reihe ehemals hochrangiger NS-Funktionäre, die unter dem Dach der FDP oder in deren Umfeld Vergangenheitspolitik in eigener Sache betrieben. Eine zentrale Rolle kam beispielsweise Wolfgang Diewerge zu, der als persönlicher Sekretär Middelhauves firmierte. Er entwarf dessen Reden, beteiligte sich an der Formulierung programmatischer Positionen und organisierte parteiinterne Schulungen. Sein Handwerk hatte der Jurist beim Völkischen Beobachter gelernt, bevor er im Propagandaministerium zum Leiter der Rundfunkabteilung aufstieg. Als Verfasser zahlreicher antisemitischer Traktate kann Diewerge, so der Historiker Ulrich Herbert, als „einer der radikalsten antijüdischen Publizisten“ des NS-Regimes bezeichnet werden. Sein Engagement für die FDP war auf Vermittlung von Friedrich Grimm zustande gekommen. Der Rechtsanwalt hatte sich in nationalistischen Kreisen schon während der Weimarer Republik als Verteidiger von Freikorpsaktivisten einen Namen gemacht. Als Stichwortgeber besonders für deren vergangenheitspolitischen Positionen erfreute sich der Mitbegründer der extrem rechten Zeitschrift Nation und Europa in der FDP-Führung höchster Wertschätzung.
Die einflussreichste Figur der „Nationalen Sammlung“ war jedoch Ernst Achenbach. Der Landtagsabgeordnete, der bis 1953 auch als außenpolitischer Sprecher der Partei firmierte und über beste Kontakte sowohl zu Ruhrindustriellen als auch zum Kreis um Naumann verfügte, konnte ebenfalls auf eine NS-Karriere zurückblicken. Zwischen 1940 und 1943 hatte er die Politische Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris geleitet und war in diesem Kontext organisatorisch in die Deportationen der französischen Jüdinnen und Juden eingebunden gewesen. Nach 1945 eröffnete er in Essen eine Rechtsanwaltskanzlei und profilierte sich als einer der umtriebigsten Lobbyisten der Kampagne für eine Generalamnestie. Unterstützung erhielt er von seinem Mitarbeiter Werner Best. Der ehemalige hochrangige Funktionär des Reichssicherheitshauptamtes baute nicht nur eine effektive Kameradenhilfe für NS-Täter auf, sondern war zudem als Rechtsberater des FDP-Landesverbandes beschäftigt.
Diese Beispiele waren keineswegs Einzelfälle. Insgesamt habe es sich, urteilt der Historiker Kristian Buchna, bei der Personalpolitik der NRW-FDP um „eine systematisch betriebene Integration, nicht aber um eine unwillentliche oder gar unwissentliche Unterwanderung durch unliebsame Kräfte gehandelt“.
Der Kurs der „Nationalen Sammlung“ wurde auch von jenen mitgetragen, die im Februar 1956 der SPD in NRW zur Macht verhelfen sollten. Dies galt sowohl für Willy Weyer – ehemals NSDAP-Mitglied und später NRW-Finanz- und Innenminister – als auch für die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere Wolfgang Döring und Erich Mende. Letzterer hatte bereits 1947 die Partei aufgefordert, „den Gedanken des Reiches in den Vordergrund“ zu stellen.
Schwarz-weiß-rote FDP
Neben ihren Schlussstrichforderungen trat die Partei vehement für die „Ehre des deutschen Soldaten“ ein und erhob das Schwarz-Weiß-Rot der Reichsfahne gleichsam zu Parteifarben. Der autoritäre Gestus der FDP spiegelte sich innerparteilich im System sogenannter Außendienstgeschäftsführer, größtenteils ehemalige HJ- und SS-Mitglieder, die im Auftrag des Landesvorstands die Kreis- und Bezirksvorsitzenden kontrollieren und auf Linie bringen sollten. Das „Presse- und Propagandareferat“ wurde mit Siegfried Zoglmann von einem einschlägigen Profi geleitet. Für seine Tätigkeit hatte sich der Untersturmführer der SS-Division Leibstandarte offenkundig als früherer Chefredakteur der HJ-Zeitungen Die HJ und Der Pimpf qualifiziert.
Die Jugendarbeit der Partei nahm phasenweise paramilitärische Züge an. Vormalige HJ-Funktionäre fanden bei den Jungdemokraten in NRW ein neues Betätigungsfeld, galt es doch, wie der frühere HJ-Gebietsführer für Westfalen Wolfram Dorn betonte, besonders „Aktivisten aus der bisher abseits stehenden jungen Kriegsgeneration“ zu integrieren. Bei den Jungen Adlern, der Kinder- und Jugendorganisation der FDP, herrschte Uniformpflicht. Landesgeschäftsführer Döring erwog sogar eine Kooperation mit der im Dezember 1952 gegründeten Wiking Jugend. Deren „Bundesführer“ Walter Matthaei war bereits mehrfach bei FDP-Veranstaltungen als Diskussionsredner aufgetreten.
Das „Deutsche Programm“
Ihren Höhepunkt erreichte der nationalistische Kurs mit dem Bielefelder Landesparteitag im Juli 1952, auf dem mit dem „Deutschen Programm“ gewissermaßen das Manifest der „Nationalen Sammlung“ beschlossen wurde. Das „Deutsche Programm“ war von einem informellen Zirkel verfasst worden. Zu den Autoren und Redakteuren gehörten Diewerge, Döring, Zoglmann und Best, mutmaßlich auch Naumann und Hans Fritzsche, der es in der NS-Zeit bis zum Ministerialdirektor im Reichspropagandaministerium gebracht hatte. Das Programm enthielt das Bekenntnis zum Deutschen Reich ebenso wie die Klage über die „Urteile der Alliierten, mit denen unser Volk und insbesondere sein Soldatentum diskriminiert werden sollten.“ Ferner spiegelte sich in der Forderung nach einem über den Parteien stehenden, vom Volk gewählten Staatsoberhaupt, eine in der FDP-Führung erkennbare Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus. Die Begriffe „Demokratie“ und „Liberalismus“ fanden keine Erwähnung.
Mit dem „Deutschen Programm“ versuchte Middelhauve auch die Bundespartei in die Bahnen der „Nationalen Sammlung“ zu lenken. In Baden-Württemberg und in Hamburg formierte sich jedoch Protest gegen den strammen Rechtskurs. Vor dem Bundesparteitag der FDP im November 1952 stand die Partei knapp vor der Spaltung. Während Middelhauve für das „Deutsche Programm“ warb, präsentierte der Hamburger Landesverband ein „Liberales Manifest“. Zwar konnte sich der nationale Flügel nicht durchsetzen, blieb jedoch durch die Wahl Middelhauves zum stellvertretenden Parteivorsitzenden weiter einflussreich.
Die Reaktionen besonders im Ausland waren verheerend. Obgleich die Vergangenheitspolitik der Adenauer Regierung, die „Bewältigung der NS-Bewältigung“ (Norbert Frei) in zentralen Punkten den im „Deutschen Programm“ erhobenen Schlussstrichforderungen entsprach, drohte die nationalistische Rhetorik der NRW-FDP zu einer Belastung für die angestrebte Westintegration zu werden.
Die Naumann-Affäre als Zäsur?
Insofern lässt sich der Schlag der britischen Besatzungsmacht gegen den Naumann-Kreis durchaus als eine Zäsur bezeichnen. Die Bedeutung der Aktion lag weniger darin, dass sie einer „Unterwanderung“ oder sogar einem „Staatsstreich“ durch ehemalige NS-Kader zuvorgekommen wäre. Mit ihrem Einschreiten verdeutlichten die britischen Behörden jedoch unmissverständlich, dass sie keineswegs bereit waren, der Reetablierung von NS-Strukturen und Netzwerken tatenlos zuzusehen.
Auch wenn Politik, Verwaltung und Gesellschaft der BRD eine normative Abgrenzung vom NS nur allmählich, oftmals widerstrebend und häufig erst aufgrund äußeren Drucks vollzogen, leistete die Naumann-Affäre und die damit einhergehende öffentliche Diskussioneinen entscheidenden Beitrag zur „irreversiblen Diskreditierung“ (Kristian Buchna) des Projekts der „Nationalen Sammlung“.
Einen konsequenten Bruch der FDP an Rhein und Ruhr mit der Vergangenheit bedeutete dies jedoch kaum. Der Koalitionswechsel der FDP im Februar 1956 resultierte weniger aus einer linksliberalen Wende der Partei als aus einem Zerwürfnis mit der CDU in Fragen des Wahlrechts. Middelhauve musste sich zwar von Diewerge trennen, blieb jedoch Landesvorsitzender. Auch den Posten als stellvertretender Bundesvorsitzender durfte er behalten. Die parteiinterne Untersuchungskommission richtete ihr Augenmerk vor allem auf die „Unterwanderung“ der FDP durch den Naumann-Kreis, dessen Angehörige bis zumSommer 1953 durch den Bundesgerichtshof ohne Anklage wieder freigelassen worden waren. Die Politik des Landesverbandes wurde vermutlich auch deshalb nicht zum Gegenstand kritischer Betrachtungen, weil dieser rund 73 Prozent des Gesamtetats der Partei beisteuerte.
Achenbach musste allenfalls einen kurzfristigen Karriereknick hinnehmen. 1957 zog er in den Bundestag ein. Seiner vergangenheitspolitischen Linie blieb er weiterhin treu, erst als Serge und Beate Klarsfeld durch spektakuläre Protestaktionen seine Versuche, das deutsch-französische Zusatzabkommen zur Ermöglichung der Strafverfolgung von in Frankreich in Abwesenheit verurteilten NS-Verbrechern in der Bundesrepublik zu behindern, skandalisierten und auf seine Rolle bei den Deportationen aus Frankreich hinwiesen, geriet er öffentlich unter Druck. In der FDP hingegen erfreute er sich weiterhin hoher Anerkennung. Als Achenbach im Dezember 1991 starb, würdigte ihn Hermann Otto Solms im Namen der Partei als eine Person, die sich „um den Liberalismus verdient gemacht habe“. Die FDP werde ihm „ein ehrendes Andenken bewahren.“
„Eklatante Unkenntnis“ – Die FDP und ihre Geschichte
Mittlerweile sind die Politik der „Nationalen Sammlung“ sowie die Bedeutung Achenbachs als Lobbyist der „vergangenheitspolitischen Interessen der SS“ (Norbert Frei) in neueren historischen Forschungen ausführlich dokumentiert worden. Die FDP in NRW scheint an einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Parteigeschichte jedoch kaum interessiert zu sein. Dies zeigen etwa die Reaktionen auf eine Initiative der VVN-BdA im Jahr 2010, an der Geschäftsstelle der Essener FDP eine Mahntafel anzubringen, mit der auf die Rolle Achenbachs in der NS-Zeit aufmerksam gemacht werden sollte. Ein entsprechender Antrag an den Rat der Stadt wurde verworfen. Ausschussmitglieder von FDP und CDU reagierten empört. Die VVN-BdA solle sich aufgrund „ihrer schwerwiegenden Recherchefehler“ bei der Familie Achenbach entschuldigen. Auch der Essener FDP-Vorsitzende und Landtagsabgeordnete Ralf Witzel behauptete, die Vorwürfe gegen Achenbach seien „historisch nicht haltbar“. Seine Argumentation stützte er auf ein Schreiben von Achenbachs Sohn Hanno Achenbach, der darauf insistierte, dass sein Vater für seine Einbindung in die Deportationen der französischen Jüdinnen und Juden strafrechtlich nicht belangt worden sei.
Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister und einer der wenigen verbliebenen Vertreter des linksliberalen Flügels der FDP, verlangte 2010 die Einrichtung einer Historikerkommission, die systematisch die Vergangenheit der FDP aufarbeiten solle, selbst wenn die Ergebnisse womöglich „schmerzlich“ seien. Seine Forderung wurde bislang nicht aufgegriffen.