Ausstieg und Gender

Eine gendersensible Betrachtung von Distanzierungsprozessen

Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im Prozess der Distanzierung von der extremen Rechten? Sicher ist, dass die Bedeutung von Geschlecht nicht als alleinige Erklärung herangezogen werden kann. Sicher ist aber auch: der Gender Gap macht vor der Auseinandersetzung mit Distanzierungsverläufen nicht halt.

Welche Rolle spielt die Geschlechtszugehörigkeit im Prozess der Distanzierung von der extremen Rechten? Sicher ist, dass die Bedeutung von Geschlecht nicht als alleinige Erklärung herangezogen werden kann. Sicher ist aber auch: der Gender Gap macht vor der Auseinandersetzung mit Distanzierungsverläufen nicht halt.Die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht wurde für die Analyse der extremen Rechten sowohl von wissenschaftlicher als auch von antifaschistischer Seite lange weitestgehend ignoriert. Dabei werden grundlegende, strömungsübergreifende Teile extrem rechter Ideologien von Geschlechterrollenvorstellungen mitbestimmt. Theoretisch dominiert in der extremen Rechten das klassische, heteronormative Geschlechterrollenbild. Dieses weist Männer und Frauen klar getrennte gesellschaftliche Bereiche zu. Während Männer für den „Kampf um die Straße“ zuständig seien, sollen Frauen sich qua Geschlechtszugehörigkeit um den „artreinen“ Nachwuchs und die dazugehörigen Reproduktionsarbeiten kümmern. Fast unnötig zu erwähnen, dass der Kampf gegen „Gender Mainstreaming“ nahezu alle extrem rechten Subkulturen eint. So weit die Theorie. Im Alltag lässt sich eine Ausdifferenzierung der oben skizzierten Rollenbilder beobachten. Dort bewegen sich Männer und Frauen, die den theoretisch propagierten Rollenerwartungen nicht vollumfänglich entsprechen. An ihrer Akzeptanz in der Szene ändert dies nichts.

Obwohl von vielen Seiten kritisch versucht wird, Frauen als gleichermaßen bedrohliche Akteurinnen der extremen Rechten sichtbar zu machen, wird „Rechtsextremismus“ nach wie vor häufig als ein „männliches Phänomen“ definiert. Wir finden den Gender Gap in der Nicht-Wahrnehmung von Frauen als rechtsextreme Akteurinnen und der gleichzeitigen, unmarkierten Dominanz von Männern. Ein gendersensibler Blick auf die extreme Rechte bedeutet zunächst, Männer und Frauen gleichermaßen als politische AkteurInnen wahrzunehmen. Und diese Anerkennung von Frauen beinhaltet auch ihre Wahrnehmung als potentielle „Aussteigerinnen“ aus der extremen Rechten.

Entpolitisierende Geschlechterstereotypen

Die Wirksamkeit des Gender Gaps hat auch Einfluss auf die Wahrnehmung von Distanzierungsprozessen. Dabei sind sowohl die Ausgestaltung von sogenannten Ausstiegsprogrammen als auch die Klischees, in denen über Ausstiegsverläufe verhandelt wird, mit Geschlechterstereotypen beladen, die Frauen entpolitisieren. So ist eine weit verbreitete Lesart, dass Frauen wegen ihres Beziehungspartners in die rechte Szene „einsteigen“ würden und dort als klassische Mitläuferin verweilten, solange die Beziehung bestünde. Eine Trennung vom Partner wird dann mit dem „Ausstieg“ aus der rechten Szene gleichgesetzt. Das dazugehörige männliche Klischee besagt, dass männliche Nazis zur Förderung von Distanzierungsprozessen mit demokratisch-orientierten Frauen zusammengebracht werden müssten. Diese Lesarten bestimmen weite Teile der staatlichen (und mit Einschränkungen auch zivilgesellschaftlichen) Ausstiegsprogramme. Die staatlichen Ausstiegsprogramme legen ihrer Arbeit häufig eine Definition von „Rechtsextremismus“ zugrunde, die eng mit Gewalttätigkeit (und nicht nur mit struktureller Gewaltakzeptanz), Straffälligkeit und gesellschaftlicher Desintegration verknüpft ist. Der Fokus liegt also auf straffälligen Neonazis, denen in das bürgerliche Leben zurück geholfen werden muss, damit sie sich von ihrer Ideologie lösen. Auf dieser Grundlage verwundert es nicht, dass die überwiegende Zahl der von diesen Programmen betreuten Personen männlichen Geschlechts ist. Für Frauen gilt häufig die Vorstellung eines klassischen Ausstiegs nicht, zumindest dann nicht, wenn er mit einer gesellschaftlichen Reintegration verbunden ist. Denn diese ist häufig überhaupt nicht nötig.

Gendersensible Perspektive

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, das gesamte Feld der Ausstiegsarbeit unter einer gendersensiblen Perspektive zu betrachten. Da Mädchen und Frauen nur selten als extrem rechte Akteurinnen wahrgenommen werden, bleiben sie auch im Feld der institutionalisierten Ausstiegsarbeit nahezu unsichtbar. Es ist zumindest ein Anfang, wenn mittlerweile gefordert wird, Ausstiegsprogramme für die besonderen Bedarfe von Frauen zu sensibilisieren. Allerdings wird diese Forderung bisher nur klischeehaft gefüllt, nämlich indem die Ausstiegsprogramme in ihrem Unterstützungsangebot auch für Frauen mit Kindern geeignet sein sollen.

Eine gendersensible Perspektive geht über solche geschlechterstereotypen Vorstellungen hinaus und schließt die Hinterfragung sowohl von Weiblichkeits- als auch von Männlichkeitskonstruktionen ein. Damit wird Gender als eine Zugangskategorie zum Verstehen extrem rechter Orientierungen ernst genommen und als Bestandteil der Beziehungen und Interaktionen, in denen sich die Personen bewegen, gedacht. Ihre Bedeutung kann nicht nur Bestandteil von Einstiegs- und Verbleibsmotiven, sondern auch von nachhaltigen Distanzierungsprozessen sein.

Genderspezifische Aspekte finden sich integriert in die biographische Verlaufsstruktur und eingebettet in unterschiedliche Beziehungs- und Interaktionsmuster. Wichtiger Bestandteil dieser Muster innerhalb von Szene-Interaktionen ist die Inanspruchnahme und die Herstellung von Macht und Anerkennung. Das lässt sich sowohl für männliche als auch für weibliche Neonazis rekonstruieren. Die theoretisch propagierten Geschlechterrollenkonzepte bilden keine alleinige Erklärungsgrundlage, warum sich z.B. eine junge Frau der Szene zuwendet. Im Prozess der Distanzierung sieht es anders aus: In sprachlichen Rechtfertigungen von „AussteigerInnen“ bildet die Distanzierung von den in der Szene vorherrschenden Geschlechterrollenvorstellungen ein häufiges Argument für die eigene Ausstiegsmotivation. Parallel dazu können Änderungen und Redefinitionen der eigenen Geschlechterrollenvorstellungen Teil des Distanzierungsprozesses sein. Dieses gilt aber nur dann, wenn die Personen diese Vorstellungen nicht (mehr) mit ihren eigenen Positionen in Einklang bringen können.

Schlussendlich finden Ausstiegsbegleitungen nicht nur im Rahmen institutioneller Ausstiegsprogramme statt. Ein Teil der „Ausstiegswilligen“ mit Unterstützungsbedürfnissen wendet sich an die bisherigen GegnerInnen. So sind gerade antifaschistische Gruppen in gewisser Regelmäßigkeit damit konfrontiert, dass distanzierungswillige Neonazis den Kontakt zu ihnen suchen. Die Kriterien für einen angemessenen Umgang mit diesen Personen werden seit Jahren immer wieder diskutiert und erweitert. Teil von ihnen sollte auch sein, den eigenen gendersensiblen Blick auf potentielle AussteigerInnen zu schärfen, damit die kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden Geschlechterrollenvorstellungen bewusst eingefordert werden kann. Denn wenn sie nicht reflektiert und verändert werden, können sie in den neuen Kontexten unreflektiert weitergelebt werden.