„Angsträume“

Der Umgang von Betroffenen mit Orten rechter und rassistischer Gewalt

Die Ausstellung „Berliner Tatorte“ der Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt „ReachOut“ zeigt Fotos von alltäglichen Orten: einen Straßenzug mit Cafés, den Eingang zu einer U-Bahn-Station oder ein Mehrfamilienhaus. An diesen Orten wurden Menschen aus rassistischen und rechten Motiven angegriffen. Hintergrund dieses Artikel ist ein Gespräch, das die Autorin mit Sabine Seyb, einer Mitarbeiterin von ReachOut, über die Intention der Ausstellung und über Bezeichnungen für „diese Orte“ führte.

Die Ausstellung „Berliner Tatorte“ der Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt „ReachOut“ zeigt Fotos von alltäglichen Orten: einen Straßenzug mit Cafés, den Eingang zu einer U-Bahn-Station oder ein Mehrfamilienhaus. An diesen Orten wurden Menschen aus rassistischen und rechten Motiven angegriffen. Hintergrund dieses Artikel ist ein Gespräch, das die Autorin mit Sabine Seyb, einer Mitarbeiterin von ReachOut, über die Intention der Ausstellung und über Bezeichnungen für „diese Orte“ führte.

„Ganz normale Orte“

Es sind „ganz normale“ Orte: U-Bahnhöfe wie die Station Senefelder Platz im Prenzlauer Berg, Straßen wie die Urbanstraße in Kreuzberg, große S-Bahnhaltestellen wie der S-Bahnhof in Lichtenberg, aber auch öffentliche Plätze wie der Alexanderplatz in Berlin-Mitte. Diese Orte waren in der Vergangenheit Plätze, an denen rassistische, antisemitische oder homo-/transphobe Übergriffe stattgefunden haben. Eine Auswahl dieser Orte wird in der Ausstellung „Berliner Tatorte“ dokumentiert. Die Ausstellung, die von der Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt ReachOut im Jahr 2005 ins Leben gerufen wurde, beinhaltet Schwarz-Weiß-Fotografien von Jörg Möller mit Informationen zu den gezeigten „Tatorten“. Die Idee zu der Ausstellung entstand als Antwort auf die Frage, wie das Ausmaß und die erschreckende Normalität rassistischer und rechter Gewalt und Bedrohung visualisiert und begreiflich gemacht werden können.

Begriff „No- Go- Area“: nicht zielführend

Die Ausstellung zeigt, wie alltäglich rassistische und rechte Gewalt für viele Men­schen in Deutschland ist. Es wird sicht­bar, dass rechte und rassistische Gewalt nicht nur in dunklen Gassen oder an abgelegenen Orten verübt wird. Die Fotos zeigen Orte mitten in der Stadt. Die Angriffe aus rechter und rassistischer Motivation trafen ihre Opfer meist vollkommen unvermittelt im öffentlichen Raum, auf dem Weg zur Arbeit, in der U-Bahn oder vor einem Café auf einer belebten Straße. „Natürlich gibt es in Berlin Stadtteile, Straßen und Bahnhöfe, an denen vermehrt Angriffe passieren“, verdeutlicht Sabine Seyb. Trotzdem hält sie Begriffe wie „No-Go-Area“ für nicht zielführend, um potenziell Betroffene vor möglichen Angriffen zu war­nen. „Denn auch an diesen Orten leben Leute, die davon betroffen sind oder sein könnten. Sie haben sich entweder bewusst entschieden, genau dort zu leben, oder sie haben aus unterschiedlichen Gründen gar keine andere Wahl – sei es wegen der Wohnung, dem Job, der Familie oder anderer sozialer Netzwerke.“

Seyb hat zusammen mit ihren Kol­leg_in­nen vor der Fußball- Weltmeisterschaft im Jahr 2006 gegen die Auflistung sogenannter „No-Go-Areas“ argumentiert. Un­terschiedliche Initiativen wollten ei­ne Karte veröffentlichen, auf der „No-Go-Areas“ markiert sein sollten, um po­ten­ziell Betroffene vor Städten und Land­strichen in Deutschland – vor allem in den östlichen Bundesländern – zu war­nen. Aber rechte und rassistische Ge­walt konnte schon damals nicht als Pro­blem vorwiegend der östlichen Bundesländer beschrieben werden. Der Wunsch, die Gefahrensituation einzu­gren­zen, sei zwar verständlich, so Seyb, lasse sich aber nicht verwirklichen. Im Um­kehrschluss liefe das ja auf die Aussage hinaus, dass es Orte gebe, die für die Betroffenen sicher seien. Dass die Wahr­nehmung „rechter Osten und nicht-rechter Westen“ nicht haltbar ist, macht Seyb anhand der Mordserie des Na­tionalsozialistischen Untergrunds (NSU) deutlich. Die Morde und Sprengstoffanschläge des NSU wurden bis auf die Tat von Rostock alle in den westlichen Bundesländern verübt. Seyb spricht sich ge­gen räumliche Zuschreibungen wie „Angst­räume“ oder „No-Go- Areas“ aus. Durch die Fokussierung auf bestimmte Räume werden andere impilzit als ungefährlich gekennzeichnet. So wird eine vermeintliche Sicherheit suggeriert, die es nicht gibt.

Auch die Konzentration aktiver Neona­zi-Szenen in bestimmten Regionen muss nicht aussagekräftig sein, wenn es da­rum geht zu analysieren, wo ein erhöhtes Angriffsrisiko besteht. Manchmal gehen genau dort, wo Neonazis besonders aktiv sind, die Angriffszahlen zurück. Ein Grund dafür ist, dass sich potenziell Betroffene in solchen Regionen oder Stadtteilen gar nicht mehr aufhalten, nicht mehr im öffentlichen Raum sichtbar sind oder sich anders bewegen. Zudem zeigt sich in der Beratungsarbeit von ReachOut immer wieder, dass vor al­lem rassistisch motivierte Angriffe nur selten von organisierten Neonazis und Per­sonen aus deren Umfeld verübt werden. Vielmehr handelt es sich um Tä­ter_innen, die Sabine Seyb als „ganz nor­male Rassist_innen“ bezeichnet.

Begriff „Angstraum“: problematisch

Kritik äußert Seyb auch an der Verwendung des Begriffs „Angstraum“, weil er in erster Linie ein passives Verhalten von Betroffenen suggerieren kann. „Natürlich gibt es Orte, die Angst auslösen können. Und zwar immer dann, wenn in bestimmten Stadtteilen, Straßen oder Bahnhöfen vermehrt Angriffe passieren. Menschen, die von Angriffen betroffen sind oder sein könnten, verhalten sich dann an diesen Orten anders als sonst. Angst zu haben, ist eine mögliche Reaktion, die dazu führen kann, vorsichtiger, wachsamer zu sein oder auch gemeinsam mit anderen Strategien zu entwickeln, um einen öffentlichen Raum positiv zu besetzen“.

Für manche Betroffene sei der Rückzug aus dem öffentlichen Raum eine Reaktion, um mit dem erlebten Angriff umzugehen, sagt Seyb. Eine weitere Strategie von Betroffenen – beispielsweise von Punks, alternativen Jugendlichen oder Linken – ist es, auf identitätsstiftende Symbole und Kleidung verzichten, um in der Öffentlichkeit nicht als links, alternativ oder antifaschistisch wahrgenommen zu werden. „Diese Symbole abzulegen, kann besonders für Jugendliche schmerzhaft sein“, sagt Seyb. Über diese Option verfügen Schwarze Menschen jedoch nicht. Das sei der Unterschied zwischen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, und Weißen, die mit rechter Gewalt konfrontiert werden: Von Rassismus Betroffene hätten schlicht keine Option, sich gegenüber Täter_innen unsichtbar zu machen. Das könne sich auch auf den Umgang mit Orten auswirken, erläutert Seyb.

Sie berichtet, dass ihre Beratungsstelle auch Anfragen von Menschen erhält, die sich informieren wollen, ob sie als potenziell von Rassismus Betroffene in bestimmte Stadtteile ziehen können. Aufgrund der Erfahrung, dass Angriffe und Beleidigungen an jedem Ort und zu jeder Zeit stattfinden können, sei es aber gar nicht möglich, Entscheidungshilfen zu geben. Zudem kön­ne der Eindruck von einem Ort, ei­ner Straße, einer Nachbarschaft individuell ganz verschieden sein. Deswegen empfiehlt das Team von ReachOut den Ratsuchenden, selbst in die entspre­chen­den Stadtteile zu fahren, sich einen ei­genen Eindruck zu verschaffen, zu schauen, welche Projekte, welche Infrastruktur es dort gibt, und mit Menschen zu sprechen, die dort leben.

Handlungsstrategien?

Um die Gefahr extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Vorfälle und An­griffe zu beschreiben, wird es auch zu­künftig nicht weiterhelfen, Schlag­wor­te wie „No-Go-Areas“ oder „Angsträume“ zu benutzen. Vielmehr wird es uns nicht erspart bleiben, möglichst genau zu dokumentieren, zu beschreiben und zu analysieren. Die koninuierliche Recherche und Dokumentation rechter, rassistischer und antisemitischer Vorfälle ist unverzichtbar, um das Ausmaß überhaupt annähernd erfassen zu können. Offizielle Angaben sind hierbei wenig hilfreich. Darüber hinaus sind Analysen (und eben keine Schlagwörter) wichtig, um mit den Initiativen vor Ort Handlungsstrategien zu entwickeln, die potenziell Betroffene langfristig besser schützen können und andere für ihre Situation sensibilisieren. Das Monitoring selbst ist also noch keine Strategie, aber eine wichtige Voraussetzung dafür, Konzepte zu entwickeln. Dabei ist es sinnvoll, einigen Fragen nachzugehen: Bestehen zivilgesellschaftliche Strukturen, die gewillt sind, die Situation zu ändern? Sind Menschen im jeweiligen Bezirk bereits gegen Neonazis oder Rassismus aktiv? Oder soll die Situation vielmehr verharmlost oder geleugnet werden?

ReachOut Berlin

ReachOut ist das Berliner Beratungsprojekt für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohung. Unterstützt und beraten werden auch die Angehörigen und Freund_innen der Opfer und Zeug_innen eines Angriffs. ReachOut recherchiert und dokumentiert rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Berlin und veröffentlicht darüber eine Chronik. Das Projekt bietet außerdem Bildungsarbeit mit Schwerpunkt Antirassismus an.

Kontakt: www.reachoutberlin.de

„Berliner Tatorte“

Die Ausstellung Berliner Tatorte – Dokumente rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zeigt die von Jörg Möller fotografierten Orte dieser Angriffe. Auf den Fotografien sind bewusst ganz gewöhnliche Straßen und Plätze zu sehen, die nichts von der dort erfahrenen Angst und den dort erlittenen Schmerzen der Opfer erkennen lassen. Die Texte zu den Fotografien sind der berlinweiten Chronik der Opferberatung ReachOut entnommen. Die für das Ausstellungsprojekt ausgewählten Beispiele zeigen die erschreckende Normalität der Angriffe. Es geht darum, an Geschehnisse zu erinnern, die die Betroffenen niemals vergessen können und die viele der vermeintlich Unbeteiligten am liebsten gar nicht wahrnehmen wollen. Die Ausstellung soll daher dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Angriffe gewahrt bleibt, ohne dabei die Würde der Opfer zu verletzen. Gleichzeitig ist sie ein Appell an uns alle, nicht wegzuschauen, sich einzumischen und Hilfe zu holen, wenn andere bedroht und angegriffen werden – auch und gerade an den uns so vertrauten Orten, an denen vielen das Recht abgesprochen wird, zu sein und ihren Alltag zu leben.