Kein Raum ist irgendein Raum
Zur Raumtheorie aus linker Perspektive
Der Raum ist eine soziale Kategorie.
Es bedarf ein wenig Theorie, um deutlich zu machen, in welchem Spannungsfeld die Idee von Freiräumen betrachtet werden kann. Räume sind keine objektiv existierenden Gefäße oder Container und können als solche nicht zulänglich verstanden werden, da sie gesellschaftlich hergestellt sind. Räume sind eine veränderbare und umkämpfte gesellschaftliche Größe. „Raum“ bedeutet in diesem Kontext nicht ein Zimmer mit Tür und Wänden, sondern „Raum“ impliziert offene und geschlossene, öffentliche und private sowie mehr oder weniger begrenzte Orte.
Viele Wissenschaftler*innen betrachten Räume heute als soziale Kategorien, sowohl in der Kultur- und Sozialwissenschaft, den Urban Studies als auch in der Anthropologie. Für einen der Begründer der marxistischen Raumtheorie, David Harvey, ist die Beschaffenheit des Raumes eine grundlegende Kategorie für das Funktionieren des kapitalistischen Systems. Denn die Zirkulation des Kapitals durch eine ständige Produktion und Vermarktung kann nur gewährleistet werden, wenn die soziale und physische Infrastruktur dementsprechend gegeben ist. Harvey spricht auch von der „Geopolitik des Kapitalismus“. Im Sinne Harveys ist die Aufgabe einer linken, materialistischen Raumtheorie, den Raum nicht als Fetisch oder abstrakte Größe, sondern als soziale Begebenheit zu verstehen. Mit anderen Worten: Nach Harvey muss sich das Denken von Raum von einem abstrakten Denken von Raum „an sich“ distanzieren.
Ein Raum ist also nie irgendein Raum, sondern wird „kontinuierlich mittels kultureller, sozialer und politischer Praktiken verhandelt“i und ist demnach immer ein Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um die Funktionen bestimmter Orte beschreiben zu können, müssen wir ihre Konstitution und Struktur kennen, ihre soziale und materielle Aufstellung. Ein besonderer Ort und daher ein Ort, für den wir besondere Beschreibungskategorien brauchen, ist der urbane Raum, die Stadt. Christoph Schäfer definiert die Stadt als „Raum verdichteter Konflikte“ii. Weltweit leben 50 Prozent der Menschen in Städten, und diese Städte entwickeln sich immer mehr zu transnational vernetzten Orten, in denen das öffentliche Leben und Kultur stattfindet. Die Stadt ist daher „der Ort, an dem das globale Kapital sichtbar wird. Und in dieser Sichtbarkeit liegt die Möglichkeit einer politischen Antwort“.iii Verdichtung bedeutet also einen Kulminationspunkt für soziale Auseinandersetzung. Das bedeutet für unseren Blick auf Stadt, dass zunächst kein Raum so gegeben ist, wie wir ihn vorfinden, sondern diese Räume stets Entstehungsgeschichten haben. Henry Lefebvre hat in „Die Revolution der Städte“ Räume als multidimensional und als Form, Handlung und Denkweise zugleich beschrieben. Stadt wird gleichzeitig gedacht, gemacht und erlebt.iv Die Stadt steht in einem gesellschaftlichen Machtverhältnis und ist zugleich Ergebnis desselben. Ohne dieses Machtverhältnis in den Blick zu nehmen, ohne die Hintergründe von Raum zu interpretieren, sind die existierenden Räume und ihre Funktionen nur oberflächlich zu verstehen. Konkret sind auch alle „Freiräume“ im Kontext des sie umgebenden Systems verhaftet und über diesen Rahmen zu erklären. Der Raum ist gegenwärtig immer auch ein Raum in einem kapitalistischen System. Welche Funktionen Freiräume darin haben, wird nur vor diesem Hintergrund erklärbar.
Räume sind Orte der Repräsentation,
deutlich zu sehen in Form von Regierungsgebäuden, Parteibüros oder dem Spind im Sportverein, in den jemand ein Foto geklebt hat. Personen oder Gruppen stellen sich mittels Gestaltung von Räumen dar. Diese Räume sind verletzbar, angreifbar, demonstrieren Macht oder Niederlage. Sie sind nie gegeben, sondern immer erkämpft, gekauft, geerbt, verhandelt oder eben auch durch Nutzung besetzt. Repräsentation ist notwendig für Gruppen und Personen, die ansprechbar sein wollen. Aber weil Räume repräsentieren, können die darin repräsentierten Gruppen auch über den Raum mehr als symbolisch angegriffen werden. Wenn die Scheiben eines linken Zentrums eingeworfen werden, verletzt das nicht nur die Scheiben, sondern beinhaltet einen Angriff auf linke Strukturen. Raum bekommt niemand geschenkt, schon gar nicht in den schönen, zentralen Lagen der Städte. Denn Stadt ist verdichteter, komplexer Raum. Verdichtet deshalb, weil in Städten die zentralen Lagen exponentiell stärker umkämpft sind, je weniger es von ihnen – gemessen am Bedarf – gibt. Aber, wie oben ausführlich beschrieben: „Prozesse treten nicht im Raum auf, sondern definieren ihren eigenen räumlichen Rahmen. Das Konzept des Raumes ist eingelagert in einen Prozess oder ist ein innerer Bestandteil desselben“v.
Der kapitalistische Raum ist die Grenze,
sowohl in großen als auch in lokalen Maßstäben. Im globalen Wirtschaftssystem grenzen sich „reiche“ gegen „arme“ Länder ab, indem sie Handelsräume begrenzen und gleichzeitig sogenannte Freihandelszonen öffnen. Die EU schafft verbesserte Bedingungen für EU-Länder, grenzt damit andere aus. Aber so einfach ist es nicht, denn wo „frei“ draufsteht, ist selten Freiheit drin. Ausbeutung funktioniert auch über die Auflösung von Grenzen, wie nicht zuletzt durch das seit dem 1. August 2013 in Kraft getretene Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien. Das Abkommen sichert unbegrenzten Zugang auf Ressourcen, durch diese Auflösung der handelsbeschränkenden Grenzen wird es für europäische Konzerne möglich, beispielsweise Bodenschätze in Kolumbien abzubauen ohne minimale Standards bezüglich Arbeitsschutz, Umweltschutz oder Menschenrechte zu übernehmen. Im kleineren, dem urbanen Raum, werden zum Beispiel über den Mietpreis oder die Privatisierung von öffentlichen Räumen Grenzen geschaffen, Menschen aus der Teilhabe am zentralen öffentlichen Leben ausgeschlossen. Dieser Vorgang wird als Segregation beschrieben.
Räume sind einschließende und ausschließende Orte,
solche der Zusammenkunft, sowohl der zufälligen Treffen wie an einem Bahnhof, als auch der exklusiveren Begegnungen, wie in Linken Zentren. Räume können mehr oder weniger öffentlich oder privat sein. Dieses Kriterium betrifft den Zugang zum Raum, also die Beschränkung, wer wen treffen kann, allerdings nicht die soziale Funktion. Privatisierung betrifft nicht nur klassisch private Räume wie Wohnraum oder Geschäftsgebäude, Fabriken oder Büros, die nicht jede*r betreten kann, sondern zunehmend auch öffentliche Plätze und Innenstädte, die privatisiert und damit der Öffentlichkeit entzogen werden. Über solche Privatisierungen werden Menschen nicht nur aus bestimmten Vierteln verdrängt, sondern auch von der Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen. Was können Freiräume dem entgegensetzen? Ivo Bozic hat damit Recht, „dass Hausbesetzungen nicht per se der Privatisierung des öffentlichen Raums entgegenstehen.“ Er behauptet sogar: „Es entstehen neue, exklusive Privaträume einer bestimmten Szene.“vi Auch damit hat er Recht, aber die Funktion von Besetzungen und anderen Freiräumen liegt nicht darin, sie allen zugänglich zu machen, sondern einen Raum zu schaffen, der außerhalb kapitalistischer Zwänge bespielt werden kann. Diese Auseinandersetzung ist wahrscheinlich so alt wie es linke Bewegungen und Wohneigentum gibt. Wenn Räume privat sind, verändert sich die Möglichkeit des Zugangs, was nicht bedeuten soll, dass private Räume nicht politisch seien, im Gegenteil:
Räume sind immer politisch,
auch wenn sie privat sind. Besonders private Räume können immense politische Interventionen bedeuten, wie zum Beispiel gated communities in armen Vierteln in Metropolen des globalen Südens. Auch die Expansion dieser Städte verläuft in unterschiedliche Richtungen: Auf der einen Seite entstehen Slums und verarmte Vorstädte, auf der anderen Seite von privaten Sicherheitsdiensten beschützte Vororte der oberen Mittelschicht. Ob in reichen Vororten oder als Eingriff in eine heruntergekommene Gegend: Private Räume, die sich abgrenzen und den öffentlichen Raum einnehmen, sind immer ein politisches Ereignis. Aber auch das kleine Eigenheim, das in Berlin-Neukölln zur Gentrifizierung beiträgt, ist ein politisches Moment. Raum kann Öffentlichkeit herstellen, öffentlicher Raum gilt als Ort des Austretens aus dem Privaten, ist aber nicht mehr oder weniger politisch als der private Raum.
Raum ist nicht einfach gerecht verteilt,
deswegen ist die Verteilung von Raum ein zentrales Problem bei Gerechtigkeitsfragen, sowohl wenn es um Wohnraum geht, als auch bei der Verteilung von Landbesitz. Um Raum wird gestritten und gekämpft, daher ist Raum immer bestimmt durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher und antagonistischer Wünsche, Perspektiven und Interessen. Diese Konstitution von Raum und besonders von urbanem Raum als verdichtetem Raum findet nicht eindimensional statt, sondern in Überlagerung von unterschiedlichen Interessen, materiellen Kontexten und sozialen Ebenen. Und zudem durch eine diskursive Praxis.
Raum ist diskursiv produziert,
also durch performative Sprechakte erzeugt. Ein Beispiel: Selbst wenn sich noch so viele Menschen noch so lange in einem leerstehenden Gebäude aufhalten, ist dieses Ereignis erst dann eine Besetzung, wenn der Akt der Äußerung vollzogen ist. Klassischerweise ist das der Moment, in dem ein Transparent aus einem Fenster gehängt wird und dadurch klar ist: „Dieses Haus ist besetzt.“ Selbstverständlich kann diese Äußerung auch kreativer formuliert werden, jedoch muss sie geäußert sein, um das Gebäude zu einem besetzen Gebäude zu machen. Sprache schafft Fakten, der Diskurs hat performative Macht.vii Bereits der Begriff, den wir von Raum und Stadt haben, verändert unsere Wahrnehmung desselben. Mit Ingo Warnkes Worten:
„Die sprachliche Fixierung von Stadtkonzepten kann intervenieren, sie kann Entwicklungen befördern, das begriffliche Konzept Stadt kann also Entwicklungstendenzen verhindern oder unterstützen. Der Ausdruck Stadt ist damit weit mehr als eine bloße Bezeichnung, er ist zentraler Bestandteil in argumentativen Strategien, die darauf zielen, das Lebensumfeld des urbanen Menschen zu gestalten.“viii
Raum ist eine Folie für unsere Erinnerungen und Erzählungen,
denn unser Leben spielt sich immer in Räumen ab, sei es in der Schule, im Elternhaus, auf der Straße oder am Badesee. Die Beschaffenheit der Räume, in denen wir uns bewegen, gestaltet stark unser Erleben und damit auch unsere Erinnerung. Welche Vorstellung wir mit bestimmten Räumen verbinden, beeinflusst uns sowohl im Vorhinein als auch in unserer Bewertung. In der lateinamerikanischen Raumtheorie und -forschung wird dafür der Begriff Imaginarios verwendet. Das Betreten eines Raums ist laut dieser Theorie kein neutraler Vorgang, sondern stets geprägt durch Vorannahmen. Diese sind individuell und gleichzeitig überindividuell, es herrschen gesellschaftlich-gemeinsame Konzepte oder Ideen – Imaginarios. Tiefgaragen beispielsweise gelten allgemein als Gefahren- und Angstraum, können aber selbstredend individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. Autonome Zentren sind für ihre Besucher*innen dagegen als Schutz- und Freiräume konnotiert, auch wenn ein Großteil der Menschen diese eher als chaotische und obskure Räume wahrnehmen dürfte.
Raum macht die Existenz der Anderen beschreibbar,
macht jede*n zu Beobachter*in und Beobachtetem zugleich. Die Existenz von Anderen nehmen wir über den Raum wahr, in dem sie oder er sich mit uns befindet. Über den Abstand im Raum definieren wir, ob jemand uns zu nahe kommt, aber auch Distanziertheit und Sehnsucht sind räumliche Kategorien. Das Dasein von Anderen ist nur über die Erfahrung der Distanz – und sei sie noch so gering – erlebbar, Personen werden erst als Ausdehnung im Raum erfassbar.
Interessant sind daher nicht nur die Blicke auf das Leben in Räumen, auch nicht allein auf den Zustand bestimmter konkreter Räume, sondern eben auf die Schnittstellen von dem, was den Raum ausmacht und dem, was darin stattfindet und durch die räumliche Konstitution auch nur stattfinden kann. Eine Veränderung dessen, was im Raum passiert, muss eine Veränderung der Bedingungen einschließen. Unter diesen Voraussetzungen kann die Bedeutung von Freiräumen diskutiert werden. Exemplarisch wird hier eine Position der Bundeszentrale für Politische Bildung aus einem ausführlichen Dossier zu Extremismus zur Diskussion gestellt. An dem Text maßgeblich beteiligt war Karsten Dustin Hoffmann, der von 2000 bis 2012 als Bereitschaftspolizist in Hamburg arbeitete und 2011 über das Autonome Zentrum Rote Flora promovierte. Er beschreibt die Bedeutung von Freiräumen wie folgt:
„Autonome Zentren sind die Herzen der militanten linksextremen Szenen. Ihre Betreiber betrachten sie als Mittel, um die bestehende politische Ordnung zu beseitigen und sie durch eine ,Herrschaftsfreie Gesellschaft’ zu ersetzen. [...] Vor allem die mythologische Funktion Autonomer Zentren ist keineswegs zu unterschätzen. Die Zentren sind für die Aktivisten der Beleg für die Vitalität der Autonomenbewegung und den Sinn des eigenen politischen Handelns.“ix
Von der Funktion von Räumen, von Städten und Freiräumen, geht eine Macht zur Veränderung aus. Das Potenzial durch die verschiedenen Funktionen von Raum wird einerseits im Kontext linker Freiraumtheorie nicht ausreichend diskutiert, die bereits vorhandenen Strukturen werden eher intuitiv und zumeist nur als unkommerzielle Veranstaltungsräume genutzt. Andererseits lässt die Theorie der Funktion von Raum erst eine angemessene Analyse rechter Freiräume zu.
Literatur
[i] Huffschmid, Anne; Wildner, Kathrin (Hg.) (2013): Stadtforschung aus Lateinamerika. Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios. 1. Aufl. Transcript, S. 9
[ii] Schäfer, Christoph (2010): Die Stadt ist unsere Fabrik. Spector Books
[iii] Sassen, Saskia (2000): Cities in a World Economy. Sage Publications
[iv] Lefèbvre, Henri; Roeckl, Ulrike (1972): Die Revolution der Städte. Dt. Erstausg. List.
[v] Harvey, David (2007): Räume der Neoliberalisierung. Zur Theorie der ungleichen Entwicklung. VSA, S. 130
[vi] Bozic, Ivo (2008): Der Traum ist Haus. In: Jungle World, 10. April 2008.
[vii] Vgl. Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte. Reclam.
[viii] Warnke, Ingo (2006): Die begriffliche Belagerung der Stadt. Semantische Kämpfe um urbane Lebensräume bei Robert Venturi und Alexander Mitscherlich. In: Ekkehard Felder (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. De Gruyter, S. 186
*[ix] Hoffmann, Karsten Dustin (2012): Autonome Zentren. Bundeszentrale für politische Bildung (Dossier Linksextremismus). Online unter http://www.bpb.de/politik/*\
extremismus/linksextremismus/62924/autonome-zentren