Tradition ohne Moderne?
Die 100-Jahrfeier des „Freideutschen Jugendtages“ auf dem Hohen Meißner
Es ist eine kleine Zeltstadt, die am Hang des Meißners im östlichen Nordhessen aufgebaut ist. Schwarze Kohten – spezielle Zelte – dominieren das Bild, überall brennen kleine Feuer. Auf dem zentralen Platz zwischen den Zelten tanzt ein bunter Haufen junger Menschen im Kreis: junge Männer, aber auch Frauen in Zimmermannshosen, Lederhosen, Wanderstiefeln, langen Kleidern. Viele tragen jene uniformähnliche Bekleidung der Pfadfinder, andere die aus der bündischen Jugend stammenden Jungenschaftsjacken. Am Rande des zentralen Platzes prangen die Worte „eigene Bestimmung“, „eigene Verantwortung“ und „innere Wahrhaftigkeit“, die zentralen Begriffe der sogenannten „Meißnerformel“ von 1913.
Historisches Geschehen
Fast genau vor 100 Jahren traf unweit des heutigen Zeltplatzes eine heterogene Schar von um die 2.000 zumeist jungen Menschen zusammen: von jungen lebensreformerischen Schwärmern – später hätte man sie als Hippies bezeichnet – bis zu reformpädagogisch orientierten älteren Teilnehmern. Auch ihre inhaltlich-politischen Orientierungen waren nicht einheitlich. Viele vertraten eine völkische Weltanschauung, die Antisemitismus mit einschloss. Dem stand ein kleinerer Teil der Teilnehmer gegenüber, der aufgeklärt und eher links orientiert war. Was all diese Strömungen verband, war ihr Lebensgefühl, das von jugendromantischen Vorstellungen von Gemeinschaftsleben und Männerbund geprägt war. Insbesondere im frühen Wandervogel füllten beliebte völkische Autoren die diffusen Vorstellungen von Gemeinschaft mit deutlich rechter Ideologie. Nichts aber schweißt eine Gemeinschaft stärker zusammen als eine gemeinsame Feindbestimmung. Das Angebot von Rechts war Antiurbanismus, Antiintellektualismus, antislawischer Rassismus und Antisemitismus, die Teile der „Jugendbewegung“ erfasste. Schon 1913 wurde ein Mädchen aus antisemitischer Motivation aus dem Wandervogel ausgeschlossen, berichtet Christian Niemeyer in seinem kürzlich erschienenen Buch „Die dunklen Seiten der Jugendbewegung“. Dieser Antisemitismus war in der „Jugendbewegung“ zwar nicht durchgängig vorhanden, er wurde aber toleriert. Darüber hinaus waren Zivilisationskritik und Antiurbanismus, die sich in einem romantisierenden Naturbild ausdrückten, gepaart mit Antiintellektualismus, der das Gefühl überhöhte und die Vernunft als verkopft kritisierte, in weiten Teilen der Jugendbewegung virulent.
Deutlich gilt es aber auch, darauf hinzuweisen, dass in der deutschen Jugendbewegung auch Gruppen aus dem Kreis der Arbeiterjugend, der sozialistischen und auch der jüdischen Jugendorganisationen existierten. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Arno Klönne kommt zu folgender Einschätzung: „Vom ‘hohen’ Meißner führten Wege in Zuchthaus oder KZ des ‘Dritten Reiches’ – und in die nationalsozialistische Reichsjugendführung oder in die intellektuelle Elite des Hitlerstaats. Und auch in die Kibbuzim.“ Das Treffen auf dem Meißner 1913 wird oftmals als Gegentreffen zu der hurra-patriotischen Feier anlässlich des 100. Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig und der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals bewertet, die pazifistischen Einstellungen eines Teils der Anwesenden werden betont. Dies hielt jedoch tausende der Jugendbewegten nicht davon ab, sich freiwillig an die Front zu melden und in den Krieg zu ziehen. In der „Meißner-Formel“ wurde zwar ein Autonomieanspruch formuliert („Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten“), dieser wurde aber gegen die freiwillige Unterwerfung unter das Prinzip von Befehl und Gehorsam des Kommiss getauscht. Die „Meißner-Formel“, von Teilen der Bündischen ohnehin als kosmopolitisch bekämpft, war zum einen hohler Pathos, zum anderen bot sich ihre unkonkrete Formulierung geradezu an, sie mit eigenen, auch rechten Inhalten zu füllen. Adorno resümierte rückblickend in den 1950er Jahren: „Man weiß, wohin es die Jugendbewegung gebracht hat; wie ohnmächtig und unwahr sich der Versuch erwies, die Ferienmaskerade zum Sinn des Daseins zu erheben.“
„Bündische Phase“
Die Phase nach dem 1. Weltkrieg kann als die „bündische Phase“ bezeichnet werden. In ihr wurden vorhandene emanzipative Ansätze in der deutschen „Jugendbewegung“ immer mehr zurückgedrängt. Das Ordnungsprinzip von „Führer und Gefolgschaft“ prägte immer stärker den nicht linken Teil der „Jugendbewegung“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den 1920er Jahren ein Großteil der bündischen Gruppen im nationalen Lager zu verorten war. Einige der wichtigsten Akteure dieser Bünde sind der Strömung der sogenannten „Konservativen Revolution“ zuzuordnen. In dieser Strömung wurde die ideologische und praktische Delegitimierung der Weimarer Republik und der Demokratie verfolgt. Folgerichtig begrüßten große Teile der bündischen Gruppen den aufkommenden Nationalsozialismus. Viele Bünde mussten daher nicht gleichgeschaltet werden, sie schlossen sich freiwillig der Hitlerjugend an. Teile der Bündischen übernahmen wichtige Positionen und Funktionen beispielsweise in der Reichsleitung der HJ. All jene, die sich später dem Alleinvertretungsanspruch verweigerten oder aus ideologischen Gründen den Anschluss an die HJ verweigerten, wurden verfolgt, die HJ wurde ab 1935 von jugendkulturellen und widerständigen Einflüssen „gereinigt“. Der in der „Meißner-Formel“ formulierte Anspruch der „eigenen Bestimmung“ wurde dem Willen des Führers unterworfen, „bündische Umtriebe“ wurden systematisch verfolgt. Im kollektiven Gedächtnis verankerte sich zum Thema „Jugendbewegung“ insbesondere die Verfolgung jugendbewegter Akteure wie beispielsweise Hans und Sophie Scholl. Die Nähe von Teilen der „Jugendbewegung“ zum NS wurde hingegen systematisch von vielen – fast ausschließlich selbst jugendbewegten – Chronisten aus der Geschichte der „Jugendbewegung“ ausgeblendet. Beispielhaft hierfür steht Werner Kindt und seine dreibändige „Dokumentation der Jugendbewegung“. Dass diese „Dokumentation“ planmäßig jene „dunklen Seiten“ der Jugendbewegung unterschlägt, weist Christian Niemeyer in seinem oben genannten Buch nach.
Zeitgemäßer Widerschein?
Das Treffen vom 1. bis 6. Oktober 2013 wurde von 60 Gruppen vorbereitet. Unter diesen Gruppen befanden sich der Zugvogel, die Deutsche Freischar und die Deutsche Waldjugend. Das Bild des Treffens prägten aber maßgeblich die mitgliederstarken Pfadfinderbünde, wie der Bund Deutscher Pfadfinder, der Deutsche Pfadfinderbund, der Verband Christlicher Pfadfinder und die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands. Neben vielen Themen rund um Fahrt und Lager standen auch politische Themen auf dem Programm. Beispielsweise zu den Themen „Pazifismus in der Jugendbewegung“ und zu „Tibet – Solidarität mit einem bedrohten Volk“. Mit „Abenteuer, Scouts und Männlichkeit“ wurden die Anfänge der Pfadfinderbewegung im Spannungsfeld des britischen Kolonialismus thematisiert. Das Kultbuch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ von Walter Flex, das im 1. Weltkrieg maßgeblich Kriegsverherrlichung und Bündisches miteinander verknüpfte, stand zur kritischen Debatte. Der 94-jährige jugendbewegte Herbert Westenburger berichtete vom bündischen Widerstand gegen den NS. Auch zum Thema „Extremismus“ versuchte man sich, verlor dabei aber offensichtlich jede Orientierung. So wurden nicht nur Gruppen der extremen Rechten und der völkischen Jugendgruppen ausgeschlossen, sondern auch die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken. Bereits 2010 hatte die „Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des hundertjährigen Meißnerjubiläums“ erklärt, dass die Falken als politischer Jugendverband unerwünscht seien.
Großes Interesse im Rechtsaußen-Lager
Auf dem „Markt der Jugendbewegung“, der im Rahmen der Meißner-Feierlichkeiten auf Burg Ludwigstein stattfand und auf dem lediglich der Sturmvogel ausgeschlossen war, zeigten sich prominente Vertreter des rechtsintellektuellen Spektrums, so zum Beispiel Götz Kubitschek, und des völkischen Freibunds. Dieter Stein von der Jungen Freiheit nahm mit Kindern an der Meißner-Fahrt – ebenfalls Teil des Programms – teil. Gerade auf Burg Ludwigstein finden Vertreter völkischer Jugendbünde immer wieder einen Platz und werden als Teil der „Jugendbewegung“ aufgenommen.
Das 100. Jubiläum des Treffens auf dem Meißner wurde in Teilen der extremen Rechten interessiert wahrgenommen und rezipiert. Vertreter der extremen Rechten besuchten die Fest-Veranstaltungen, und auch im rechten Blätterwald rauschte es kräftig. Das Magazin Götz Kubitschekbrachte einen Artikel über das Treffen. „Wie damals erklangen die Klampfen am Lagerfeuer, es wurde gesungen und getanzt, gewerkt und gefeiert“, stellt das Blatt die Kontinuität des Treffens dar. Betont werden hier die kultur- und zivilisationskritischen Aspekte des historischen Treffens. „Auch die heutigen ‘Meißner-Fahrer’ haben den sogenannten Fortschritt kritisch im Blick“, heißt es. Eine in der Allgemeinen Zeitung (Rhein Main Presse) zitierte Äußerung eines Teilnehmers („Wir sind so etwas wie ein Gegenentwurf zur Medienkultur und Konsumgesellschaft“) dient Zuerst! als Beleg dafür, dass Anknüpfungspunkte für völkische Ideen bestehen oder solche sogar vorhanden sind. In der NPD-Parteizeitung Deutsche Stimme war es Jürgen Gansel (NPD-MdL in Sachsen), der einen ganzseitigen Artikel zum Thema verfasste. Mit Bezug auf die Ideale der „Selbsterziehung, Naturnähe und Vaterlandsliebe“ verortet er das historische Treffen konträr zu nicht rechten Autoren und versucht, dieses als homogene völkische Bewegung darzustellen. Auch wenn er dabei deutlich die Vielfalt der Jugendbewegung unterschlägt, so verweist er aber doch durchaus berechtigt auf tatsächlich vorhandene völkische Traditionen.
Romantisierte Vergangenheit
Die extreme Rechte ist bestrebt, sich als legitime Nachfolgerin der bündischen Jugend darzustellen. Damit würde ein Teil des in der Öffentlichkeit vorhandenen Glanzes dieser deutschen „Jugendbewegung“ auch auf die extreme Rechte fallen. Doch hier ist Vorsicht geboten. Tatsächlich bestanden organisatorische und ideologische Schnittmengen zwischen der „Jugendbewegung“ und der völkischen extremen Rechten. Die „Jugendbewegung“ aber war eine heterogene Bewegung mit unterschiedlichsten politischen Ansätzen, unter denen sich auch sozialistische befanden. Dieses Themenfeld der extremen Rechten zu überlassen, wäre also fatal. Gleichzeitig ist es wichtig, das sehr unkritische und positive Bild, das bislang inszeniert wurde, zu hinterfragen. Es gilt, die rechten Elemente freizulegen und der Kritik zugänglich zu machen. Nur so ist ein Befreien aus den aktuellen Umarmungsversuchen der extremen Rechten möglich. Die Feier im Oktober 2013 auf dem Meißner hat in diesem Sinne nichts Positives bewirkt, das Agieren war zu unkritisch und zu sehr auf Kontinuität setzend. Es fehlte ein Aufbruch, der die gesellschaftlichen Zustände und die Geschichte der „Jugendbewegung“ reflektiert. Arno Klönne spricht mit Blick auf das Treffen von einer „grassierende(n) Gedächtnisschwäche“. Die bloße und undifferenzierte Abgrenzung vom „Extremismus“ hilft hier nicht weiter, es geht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Mythos und dem tatsächlichen „Aufbruch der Jugend“.