Rassistische Normalität
Massiver Anstieg von Angriffen auf Asyllager in den Jahren 2012/2013
Mittlerweile vergeht kaum mehr als eine Woche, in der es keinen Angriff oder Anschlag auf ein Asyllager in Deutschland gibt. Auch viele Medien – nicht nur linke – berichten über Angriffe, Anschläge, aber auch Demonstrationen extrem rechter Gruppen und örtlicher Bürgerinitiativen gegen Asyllager. Gleichwohl es an einigen Orten durchaus ermutigende Gegenbewegungen zu den rassistischen Vorkommnissen gibt, bleibt eine breite gesamtgesellschaftliche Empörung weitestgehend aus. Insofern kann von einer Normalität von Rassismus gesprochen werden – von einer gewaltvollen Normalität, die eben nicht die Mitte der Gesellschaft, sondern Menschen, die strukturell bereits diskriminiert sind und werden, trifft. Anschläge und Angriffe gegen Asyllager bedeuten stets, dass die Menschen, denen eine derartige Gewalt gilt, vertrieben oder auch getötet werden sollen, da sie nicht zur weißdeutschen „Norm“‘ und damit nicht hierher gehören würden. Sie werden damit nochmals zu den „Anderen“‘ – die sie bereits qua Status als Asylsuchende mit all den rechtlichen und damit diskriminierenden Effekten sind – gemacht und verobjektiviert. Gleichzeitig wird ein homogenes weißdeutsches „Wir“ als Normalität imaginiert und gewaltvoll geschaffen.
Angriff ist nicht gleich Angriff
Angriffe gegen Asyllager bilden einen Teil der manifesten gewaltförmigen Seite des Rassismus und werden im Folgenden näher beleuchtet. Dabei wird zwischen drei Arten von Angriffen auf Asyllager differenziert, um deren unterschiedliche Qualität zu verdeutlichen: Brandanschläge beziehen sich auf Taten, bei denen Brände/Brandsätze in oder auf Asyllager oder in deren unmittelbarer Nähe gelegt/geworfen werden. Dazu zählen auch Böller und Silvesterknaller, da sie massive Brände auslösen können. Tätliche Angriffe sind solche, bei denen auf das Gelände von Lagern bzw. in die Gebäude eingedrungen wurde – bis hin zu Bedrohungen und Verletzungen von Geflüchteten. Auch derartige Vorkommnisse unmittelbar vor Asyllagern zählen dazu. Der Beschuss oder das Bewerfen von Asyllagern mit Gegenständen stellt die dritte Angriffsart dar. Zu Angriffen werden keine Hakenkreuzschmierereien, Kundgebungen vor Asyllagern oder Plakatierungen gerechnet, da es derart viele Vorkommnisse sind, die wir als Dokumentationsstelle mit unseren Kapazitäten nicht umfassend recherchieren können. Angriffe auf sich im (Um-)Bau befindende Gebäude werden ebenfalls nicht dokumentiert.
Nicht jedes Feuer in einem Asyllager ist Folge einer Brandstiftung. Aufgrund defekter elektrischer Geräte, Überlastungen von Stromleitungen, beengten Wohn- und damit auch Kochverhältnissen kommt es recht häufig zu Bränden, die allerdings auch nicht immer aufgeklärt werden (können). Gibt es jedoch Aussagen oder Hinweise, die den Verdacht einer Brandstiftung verstärken, gehen wir von einem Brandan-schlag aus. Dies gilt auch für die anderen beiden Angriffsarten. Des Weiteren erfahren wir mit Sicherheit nicht von allen Angriffen. So haben unsere Rechercheerfahrungen ergeben, dass es der jeweiligen Staatsschutzabteilung obliegt, ob eine polizeiliche Pressemeldung zu einem „Fall“ herausgegeben wird oder nicht, was wiederum Einfluss auf die Medienberichterstattung hat. Wenn in solchen „Fällen“ kein Kontakt zu Betroffenen oder Unterstützer_innen vor Ort besteht, erreicht unsere Recherchearbeit ihre Grenzen. Die hier dargestellten Ausprägungen rassistischer Gewalt sind daher als gesellschaftliche Tendenzen zu verstehen.
Drastischer Anstieg
Der in vielen Medien in jüngster Zeit konstatierte Anstieg von Angriffen gegen Asyllager und Wohnhäuser, in denen Geflüchtete leben, kann anhand unserer Recherchen klar bestätigt werden. Für das Jahr 2012 haben wir bisher 16 Angriffe recherchiert: acht Brandanschläge, einen tätlichen Angriff sowie sieben mit Gegenständen verübte Angriffe. Für das Jahr 2013 sind es insgesamt 24 Angriffe1: zwölf Brandanschläge sowie das Zünden einer Nebelkerze in einem Gebäude, sechs tätliche Angriffe sowie ein geplanter als auch fünf mit Gegenständen verübte Angriffe. Verletzt wurden in den letzten beiden Jahren sieben Geflüchtete.
Besonders deutlich werden die dramatischen Anstiege der Jahre 2012/2013, wenn die Jahre 2008 bis 2011 als Vergleich herangezogen werden: Für die Jahre 2008 und 2009 recherchierten wir insgesamt fünf Brandanschläge, einen tätlichen Angriff sowie drei Angriffe mit Gegenständen; für 2010/2011 sind es ein Brandanschlag, zwei tätliche Angriffe sowie zwei Angriffe mit Gegenständen. Verletzt wurden in diesem Zeitraum fünf Geflüchtete. Insgesamt gibt es folglich für den Zeitraum 2008 bis 2011 14 Angriffe, während es 2012 bereits 16 waren. Damit bilden die Vorkommnisse in den Jahren 2012/2013 einen vorläufigen Höhepunkt an Angriffen gegen Asyllager in Deutschland in den letzten sechs Jahren.
Es ist ein deutliches Ost-West-Gefälle zu konstatieren. Werden sämtliche Vorkommnisse für den Zeitraum 2008 bis 2013 zusammengefasst, ergibt sich folgendes Bild: In den ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) gab es insgesamt 17 Brandanschläge, während es in den westdeutschen neun waren. Tätliche Angriffe gab es sieben in Ost und vier in West, verübte Angriffe mit Gegenständen elf in Ost und sechs in West. Diese Zahlen sind auf der einen Seite insofern zu relativieren, als es in allen ostdeutschen Bundesländern Opferberatungsstellen gibt, die entsprechende Geschehnisse dokumentieren, so dass es grundsätzlich mehr dokumentierte „Fälle“ für Ostdeutschland gibt. Allerdings ist auch bekannt, dass die manifeste (extrem) rechte Gewalt in Ostdeutschland – in Relation zu der jeweiligen Einwohner_innenanzahl – wesentlich höher als in Westdeutschland ist, was auch die Zahlen vom Bundeskriminalamt (s.u.) bestätigen.
Qualitativ sind die Angriffe gegen Asyllager durchaus verschieden, und es lassen sich unseren Recherchen nach keine eindeutigen Tendenzen für den Zeitraum 2008 bis 2013 ausmachen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie oft durch mehr als eine Person ausgeführt werden. Brandanschläge werden zum Großteil mit Molotowcocktails durchgeführt. Bei mit Gegenständen verübten Angriffen werden häufig Steine oder Flaschen gegen Asyllager geworfen. In zwei uns bekannten Fällen wurde gar mit einem Luftgewehr auf eine Einrichtung geschossen, in einem weiteren mit Stahlkugeln. Bei tätlichen Angriffen dringen – nicht immer, aber oft – Neonazis in die Lager ein, bedrohen Geflüchtete, verursachen Sachbeschädigungen und hinterlassen entsprechende neonazistische Schmierereien. In einem uns bekannten Fall wurde mit einem PKW versucht, einen Menschen an- bzw. umzufahren.
Zahlen und Statistik der Bundesregierung
Was sagt nun die ‘’offizielle’’ Statistik? In der Antwort der Bundesregierung vom 18. Dezember 2013 auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion werden 24 „Delikte“ für 2012 und 42 für das Jahr 2013 aufgezählt. Dies sind politisch motivierte rechte Straftaten, bei denen „eine Asylbewerberunterkunft Tatort oder Angriffsziel war“‘2. (Mittlerweile geht das BKA jedoch von 58 Delikten für 2013 aus.) Diese Zahlen spiegeln zwar auch unsere Tendenz wider, auch die Ost-West-Differenz, sind allerdings ihrer Abstraktheit wegen nicht unmittelbar interpretierbar, da nicht klar ist, was sich genau hinter den jeweiligen „Fällen“ verbirgt. Wir konnten bisher in mühsamer Recherche fast alle Geschehnisse recherchieren, die von Hakenkreuzschmierereien über gegenständliche Angriffe bis zu Brandanschlägen – auch auf sich im (Um-)Bau befindende Asyllager – reichen.
Besonders bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass der überwiegende Teil der aufgezählten Straftaten auf der einen Seite schlicht nicht – zumindest unmittelbar – recherchierbar ist. Das heißt: Weder in den Medien noch in Chroniken verschiedener Opferberatungsstellen oder anderer Initiativen finden sich entsprechende Informationen darüber. Vor diesem Hintergrund kann zumindest vordergründig nicht von einer bewusst zu niedrig angesetzten „offiziellen“ Zahl ausgegangen werden. Auf der anderen Seite sind aber auch etliche Angriffe nicht in der Statistik des BKA erfasst. Nach unseren Recherchen sind dies insgesamt – unter Berücksichtigung, dass die BKA-Zahlen nur den Zeitraum von Januar 2012 bis Mitte November 2013 umfassen – fünf Brandanschläge sowie vier tätliche und fünf mit Gegenständen verübte Angriffe.
Die Ursache für das Fehlen dieser Angriffe ist derzeit Teil weiterer Recherchen von uns. Eine eindeutige Logik ergibt sich aus unserer Sicht zunächst nicht. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass wir bei unseren Recherchen bei einigen örtlichen Polizeidienststellen auf Skepsis stießen, ob es sich bei dem vom BKA aufgeführten Vorkommnis in ihrer Region wirklich um eine PMK-rechts-Straftat handele, obwohl diese in der Regel ja entsprechende Einschätzungen vornehmen. Vor dem Hintergrund, dass ferner bei etlichen in der BKA-Statistik aufgeführten Delikten die TäterInnen nicht bekannt sind, verwundert es umso mehr, dass beispielsweise ein Brandanschlag auf die Asylbewerberaufnahmestelle in Weiden (Bayern) im Jahre 2012, zwei schwere tätliche Angriffe von Neonazis in Vockerode (Sachsen-Anhalt) auf ein dortiges Asyllager sowie ein Brandanschlag auf ein Asyllager in Arnstadt (Thüringen) im Jahre 2013 nicht aufgeführt sind. In all diesen „Fällen“ wurden die Täter gefasst und ein rassistischer Hintergrund ist eindeutig.
Ausblick
Die Ereignisse des Jahres 2014 sind wenig ermutigend: Uns sind bereits aus den ersten beiden Monaten zahlreiche Angriffe auf Asyllager bekannt. Hinzu kommen – wie auch im Jahre 2013 – viele Demonstrationen und Mobilisierungen, die nicht zuletzt ebenso die extreme Rechte für sich zu nutzen weiß. Auch die rassistischen politischen und teils gesellschaftlichen Diskurse reißen nicht ab. Vor diesem Hintergrund ist das Dokumentieren von Angriffen auf Asyllager eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. Damit ist es gleichermaßen eine gewichtige Argumentationshilfe im Kampf gegen jede Form rassistischer Normalität in Deutschland.
Fußnoten
[1] Die Angriffe auf ein Haus in Duisburg-Rheinhausen, in dem Menschen aus Südosteuropa leben, sowie ein vermuteter Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Duisburg-Hochheide sind nicht mit inbegriffen, da nach unseren Recherchen unklar ist, ob darin auch Nicht-EU-Bürger_innen leb(t)en.
[2] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/002/1800203.pdf