Erhobenen Hauptes
Ein Dokumentarfilm mit Shoah-Überlebenden im Kibbuz Ma’abarot
In vierjähriger Arbeit entstand der Dokumentarfilm „Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma’abarot“ der Projektgruppe „Docview“. Dieser orientiert sich an den biographischen Erzählungen von fünf Menschen, die – der nationalsozialistischen Verfolgung in Deutschland entkommen – einen sozialistischen Kibbuz im damaligen Palästina aufbauten. Als lebendiges Zeitzeugnis soll er auch kommenden Generationen einen empathischen Zugang zum Erlebten vermitteln. Der Produktionsprozess des Filmes wurde basisdemokratisch und ohne klare Aufgabentrennung organisiert.
Unsere maßgebliche Motivation bei der Arbeit am Film „Erhobenen Hauptes“ war das Erlebte der Protagonist*innen aufzugreifen und dieses möglichst vielen Menschen zugänglich und nachvollziehbar zu machen. Der Film soll nur in zweiter Linie historische Fakten vermitteln. Diese kann jede*r im Geschichtsbuch oder auf Wikipedia nachlesen. Auch wären 95 Minuten viel zu kurz, um zugleich NS-Faschismus und Antisemitismus im Deutschland der 30er und 40er Jahre, der (versuchten) Flucht jüdischer Menschen vor diesem, als auch der Entstehung und Entwicklung der Kibbuzim im damaligen Palästina gerecht zu werden. Wesentlich beim Festhalten der Zeitzeug*innen-Berichte war für uns deshalb, das Erfahrene soweit wie möglich nachvollziehbar und greifbar zu machen. Wir versuchten folglich, entlang der biographischen Erzählungen ein empathisches Bild der Protagonist*innen zu zeichnen. Klar ist, dass es sich hier nur um eine Annäherung handeln kann, denn die Erfahrungen von Verfolgung und Vernichtung können unmöglich umfassend begriffen und nachempfunden werden.
Lebensgeschichten
Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte von fünf jüdischen Menschen, die der Verfolgung und Vernichtung des NS-Faschismus in Deutschland entkamen, ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina migrierten, und dort einen sozialistischen Kibbuz mit aufbauten. Hannah Schalem, Joav Burstein und Ora Lahisch gelangten 1939 kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges mit Hilfe des sozialistisch-zionistischen Jugendbundes Hashomer Hatzair und der Jugendalijah über Triest in den Kibbuz Ma’abarot nahe der Stadt Netanya. Der Großteil ihrer Familien wurde von den Deutschen ermordet. Hanni Aisner migrierte zur gleichen Zeit mit ihren Eltern nach Chile, gründete dort eine jüdisch-sozialistische Kommune und ging nach der Staatsgründung nach Israel. Zvi Cohen überlebte die ersten beiden Kriegsjahre in einer Dachgeschosswohnung in Berlin, wurde mit seinen Eltern nach Theresienstadt deportiert, und konnte dank eines historisch einmaligen Ereignisses – ein Zug mit KZ-Häftlingen als Austausch gegen Geld und Medikamente – im Februar 1945 in die Schweiz entkommen. Von dort ging auch er in das damalige Palästina und in den Kibbuz Ma’abarot.
Kibbuz-Bewegung
Joav ist im November 2011 verstorben, die anderen vier leben noch in Ma’abarot und beteiligen sich dort seit ihrer Ankunft am Aufbau des Kibbuz und der Organisierung des kollektiven Lebens. Die Kibbuz-Bewegung kann als ein erfolgreicher Versuch betrachtet werden, Gesellschaft in jüngerer Vergangenheit nicht-kapitalistisch zu organisieren. Arbeit – inklusive der meisten Reproduktionsarbeiten und Kindererziehung – ist kollektiviert, das Privateigentum an Produktionsmitteln ist abgeschafft, Entscheidungen werden gemeinsam in der Kibbuz-Versammlung getroffen, und statt Gesetzen gibt es Komitee-Entscheidungen. Auch wenn die Kibbuz-Bewegung in den letzten Jahrzehnten in eine Krise geraten ist und kollektiv organisierte Lebensbereiche in vielen Kibbuzim zunehmend privatisiert werden, ist die Erfahrung der Kibbuz-Organisierung interessant und gewinnbringend für jede emanzipatorische Gesellschaftsperspektive.
Dass der Film „Erhobenen Hauptes“ von fünf Menschen handelt, die nach den Erfahrungen in Deutschland ein sozialistisches Kibbuz mit aufbauten, die folglich von der zivilisierten Barbarei in eine Welt der Hoffnung, des Aufbruchs und der Perspektive auf befreite Gesellschaft kamen, unterscheidet ihn von anderen Filmen, die von der Verfolgung der europäischen Jüd*innen während des NS-Faschismus handeln. Es war uns als Filmgruppe wichtig, unsere Interviewpartner*innen nicht nur als Verfolgte zu porträtieren, sondern vor allem als Menschen, die sich mit Hoffnungen und Ideen für ein Leben im Kibbuz entschieden haben und daraus eine erstaunliche Lebensfreude entwickelt haben.
Zugänge
Die Verbindung dieser Themen war auch der Ausgangspunkt unserer Diskussionen im Zuge des Konstitutionsprozesses unserer Filmgruppe. Mit dieser Grundidee für einen Film und ersten Kontakten in den Kibbuz bereiteten wir uns in der ersten Hälfte des Jahres 2010 auf die Interviews mit den Protagonist*innen durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Hauptthemen des Films vor und erstellten unter anderem einen ausführlichen Interviewleitfaden.
Mit diesem im Gepäck besuchten wir während zweier Reisen die Protagonist*innen des Films bei sich zuhause im Kibbuz Ma’abarot, um die Dreharbeiten für den Film durchzuführen. Zu Beginn waren zwar alle Interviewten skeptisch und konnten sich nicht wirklich erklären, was die Motivation dieser Gruppe von Menschen der dritten Täter*innengeneration war, den Film zu erstellen.
Unserer Meinung nach führten besonders zwei Aspekte aber dazu, dass sich bei allen Beteiligten bald ein vertrautes Gefühl einstellte. Zum einen pflegte ein Mitglied der Projektgruppe durch ein früheres Filmprojekt bereits ein vertrautes Verhältnis zu zwei Frauen, die mit Menschen aus dem Kibbuz befreundet sind. Es handelt sich um die zwei Frankfurter*innen Trude Simonsohn und Irmgard Heydorn. Die erste überlebte Theresienstadt und Auschwitz, die andere leistete während des NS-Faschismus Widerstand im Internationalen Sozialistischen Kampfbund. Beide sind bis heute gut befreundet und telefonieren regelmäßig mit Menschen aus dem Kibbuz Ma’abarot, die sie von früher kennen. Sie stellten für uns den Kontakt in den Kibbuz her und bezeugten, dass man uns Vertrauen schenken kann. So lernten einige Mitglieder der Gruppe bei einer vorherigen Reise Zvi Cohen kennen. Dieser erklärte sich dann auch bereit, andere aus Deutschland geflohene Kibbuzmitglieder für unser Filmprojekt zu gewinnen. Zum anderen konnte dadurch ein enges Verhältnis hergestellt werden, dass die jeweiligen Protagonist*innen nicht – wie im wissenschaftlichen Kontext eher üblich – nur von einer Person interviewt wurde, sondern von zwei Mitgliedern der Gruppe. In dieser Konstellation stellten wir uns ihnen vor, erläuterten die Idee zu unserem Film und unsere antifaschistische Motivation. Möglichst offen beantworteten wir auch die Fragen einiger Protagonist*innen nach unserer eigenen Familienvergangenheit.
Mitteilungsbereitschaft
In ausführlichen Interviews erzählten sie uns dann von ihren Erinnerungen an die Kindheit, von Antisemitismus und Verfolgung in Deutschland, von der Migration nach Palästina und den Anfangsjahren dort sowie vom Verhältnis zur arabischen Bevölkerung. Wir sprachen über das Leben, die Arbeit und den Alltag im Kibbuz, die Entwicklung und Bedeutung der Kibbuzim im mittlerweile gegründeten Staat Israel, die Organisation von Kindererziehung und Arbeitsteilung im Kibbuz, über Anspruch und Wirklichkeit bei geschlechtsspezifischer Rollenverteilung und vieles mehr.
Mit bemerkenswerter Offenheit erzählten alle fünf ausführlich ihre Geschichte. Die meisten sprachen erstmals gegenüber Deutschen und auf Deutsch – der Sprache der Täter*innen, die sie in den ersten Jahrzehnten im Kibbuz bewusst abgelehnt hatten – über das Erlebte. Die traumatischen Erfahrungen von Antisemitismus, Verfolgung, Deportationen detailliert ins Bewusstsein zu rufen, brachte eine große psychische Belastung für die mittlerweile größtenteils 90-Jährigen mit sich. Wir waren überrascht, mit welcher Bereitschaft die Interviewten auf Rückfragen antworteten. Wo wir mit – mehr als nachvollziehbarem – Widerstand gerechnet hatten, sich der schrecklichen Phasen der eigenen Biographie wieder bewusst zu werden und damit den Erinnerungen auszusetzen, erfuhren wir vor allem Mitteilungsbereitschaft und offenes Interesse, das Erfahrene weiterzugeben.
Filmproduktion
Nach den Interviews transkribierten wir die über 30 Stunden Interviewmaterial komplett, und gingen sie anschließend als gesamte Gruppe durch. Dabei versuchten wir, auf Inhalt, emotionale Wirkung und persönliche Bedeutung der Sequenzen zu achten, und die Passagen entsprechend zu kategorisieren. So entstand eine erste Vorauswahl, anhand der einige Themenkomplexe ausgewählt wurde. Dank der Kategorisierungen konnten wir dann eine grobe Dramaturgie erstellen. Diese wurde anschließend von abwechselnden Unterteams der Gruppe im Schnitt umgesetzt und anschließend wieder von der ganzen Gruppe diskutiert und angepasst. Dass diese für eine Filmproduktion ungewöhnliche Arbeitsweise nicht ohne konflikthafte Prozesse auskommt, versteht sich wahrscheinlich von selbst. Gerade die starken Kürzungen, die für einen gut anderthalbstündigen Film vorgenommen werden müssen, waren für einzelne Personen der Gruppe immer wieder schwer hinnehmbar. Letztendlich konnten diese Konflikte aber produktiv ausgetragen werden. So schlägt sich die intensive Diskussion einzelner Szenen und die damit einhergehende lange Produktionszeit in der Qualität des Filmes wieder.
Unersetzliche Erfahrungen
Unsere Generation gehört zu den letzten, die noch selbst mit Verfolgten des Nationalsozialismus sprechen können. Lebendige Personen, die den NS-Faschismus als Verfolgte er- und überlebt haben, wird es altersbedingt nicht mehr lange geben. Die Folgen zeichnen sich bereits ab: wo es an direkten, empathischen und nachfühlbaren Zeitzeug*innenberichten fehlt, wird die Relativierung und Leugnung der deutschen Verbrechen zunehmen, wie es sich etwa in den letzten Jahren am bundesrepublikanischen Gedenkdiskurs abzeichnet, der sich immer stärker auf die „eigenen“ Opfer konzentriert. Die Schrecken von nationalsozialistischer Verfolgung und Holocaust drohen zu verblassen. Das Wissen über Geschichte ist maßgebliche Voraussetzung, um zu verhindern, dass diese sich wiederholt. In diesem Sinne sind Aufzeichnungen von Zeitzeug*innen-Berichten wichtige Dokumente des Erinnerns und unmittelbar antifaschistische Zeugnisse. Das Medium Film kommt dabei noch am nächsten an die leider unersetzlichen Erfahrungen direkter Zeitzeug*innengespräche heran. Deshalb lassen wir den Protagonist*innen im Film bewusst viel Zeit mit ihren Erinnerungen und haben ein langsames Filmtempo gewählt. Auch haben wir auf eine Stimme ›aus dem off‹ verzichtet. Die Hoffnung ist, so ein möglichst lebendiges Bild der fünf Personen entstehen zu lassen, das auch für spätere Generationen greifbar und nachvollziehbar bleibt.
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Homepage: www.docview.org
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