Schon alles aufgearbeitet?
Der hessische NSU-Untersuchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf
Ähnlich wie in NRW gab es auch in Hessen lange keine Initiative für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (UA). Und das, obwohl mit Andreas Temme ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen (LfVH) zum Tatzeitpunkt am Ort des Mordes an Halit Yozgat in Kassel war. Am 1. Juli trat der hessische UA erstmals zusammen.
Eingesetzt worden ist der UA mit den Stimmen von SPD und Die Linke, die Regierungskoalition aus CDU und Grünen sieht dagegen keinen Bedarf. Letzteres ist kaum verwunderlich, der heutige Ministerpräsident Volker Bouffier verweigerte damals als Innenminister die Befragung der von Temme geführten Quellen durch die Staatsanwaltschaft. Der Geheimdienst legte den ermittelnden Beamt_innen einige weitere Steine in den Weg.
Als Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internet-Café ermordet wurde, waren am Tatort sechs Personen anwesend, unter ihnen Andreas Temme, Mitarbeiter des LfVH. Auf den Zeugenaufruf meldete er sich nicht, erst über Verbindungsdaten des von ihm genutzten PC konnte er identifiziert werden. Am Tag des Mordes telefonierte er zweimal mit einem von ihm geführten V-Mann aus der Naziszene: Benjamin Gärtner, der Bruder eines Kopfes der Kasseler Naziszene mit Einbindung in Blood & Honour (B&H).
Im Zuge der Ermittlungen gegen Temme, der unter Mordverdacht stand, sollten Gärtner und die anderen von Temme geführten V-Personen verhört werden. Bouffier erteilte keine Aussagegenehmigung.
„Nur ein Tötungsdelikt“...
Aus abgehörten Telefongesprächen von Temme geht hervor, dass er auch große Unterstützung aus dem Amt erfahren hat. Vorgesetzte sollen ihn über „Inhalte von Absprachen“ mit Ermittlungsbeamten informiert haben. Ein Vermerk spricht davon, dass das strategische Ziel eines Gesprächs von Staatsanwaltschaft und Mordkommission mit dem VS die „Aufhebung der Unterstützungshaltung verschiedener LfVH-Vorgesetzter gegenüber des TV“ (Tatverdächtigen) gewesen sei. Nach dem Gespräch macht ein Polizist den Vermerk: es „bestand seitens der LfVH-Vertreter von Beginn an kein Interesse an sachfördernder Kooperation. Äußerungen wie „...wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun...“ und „...Stellen Sie sich vor, was ein Vertrauensentzug für den Menschen (Temme) bedeutet...“ machten deutlich, dass das LfVH die eigene Geheimhaltung ... über die mögliche Aufklärung der im Raum stehenden Verdachtsmomente gegen einen LfVH-Mitarbeiter stellt.“
Auch Dr. Iris Pilling, damals Referatsleiterin, heute Abteilungsleiterin für Links- und Rechtsextremismus im LfVH, soll für Temme Partei ergriffen haben, er sei „ihr bester Mann“. Während gegen ihn noch Ermittlungen liefen, traf sie sich mit Temme zu einem Vieraugengespräch – nicht in Diensträumen, sondern auf einer Autobahnraststätte. Bei dem Treffen sei es „um Menschliches“ gegangen, so Temme vor dem Bundestags-UA.
Beim Verfassungsschutz scheint man mit dem Ermittlungsverlauf sehr zufrieden zu sein. Lutz Irrgang, damals Direktor des LfVH, resümierte bei seiner Aussage im Münchner NSU-Prozess: „Ich bin heute noch unheimlich stolz darauf, mit welcher Ruhe und Gelassenheit das Amt seine Geschäfte weitergeführt hat.“
NSU-Unterstützung aus Hessen?
Immer wieder zeigt sich, dass die isolierte Betrachtung des NSU als Trio mit ein paar wenigen Helfer_innen eine folgenschwere Verkürzung darstellt. Für den hessischen UA sollte daher auch die regionale Naziszene und eine mögliche Einbindung ins Unterstützungsnetzwerk in den Blick rücken. Interessant sind hier insbesondere Verbindungen zu Thorsten Heise aus Fretterode, gerade 40 Kilometer von Kassel entfernt, der eng mit der nordhessischen Szene verbunden ist, zum (Ex-)Blood & Honour-Milieu sowie zum verurteilten Rechtsterroristen Manfred Roeder.
„Unsere Großväter waren keine Verbrecher“ stand auf einem Transparent, das 1996 im Amtsgericht Erfurt entrollt wurde. Mit dabei Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, André Kapke, Ralf Wohlleben. Anlass war eine Verhandlung gegen Roeder (siehe #46, S. 23f) wegen Sachbeschädigung an der“Wehrmachtsausstellung“. Kapke bot später die Unterstützung der Kameraden aus Jena auch für folgende Verhandlungen an. Roeder gilt aufgrund seiner Taten einigen militanten Neonazis als Vorbild. Sein „Reichshof“ im nordhessischen Schwarzenborn diente immer wieder als Ort für Treffen und war Anlaufpunkt für Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet. Dies macht den mittlerweise greisen Roeder für eine weitere Aufklärung des NSU-Komplexes mehr als interessant.
Blood & Honour und Sturm 18
Bis in die 2000er Jahre hinein florierte die nordhessische Rechtsrock-Szene. Bands wie Hauptkampflinie und Kommando Freisler kamen aus der Region. Bis zum Verbot 2000 bestand eine B&H-Sektion Nordhessen, deren Sektionsleiter zeitweise „stellvertretender Divisionsleiter Deutschland“ war. In dieser Struktur soll auch der Stiefbruder von V-Mann Gärtner eine führende Person gewesen sein. Gärtner selber tauchte eher am Rande der Szene auf, war aber zusammen mit einigen exponierten Mitgliedern der nordhessischen Neonazi-Szene an Straftaten beteiligt. Seine Anwerbung soll in die Zeit gefallen sein, als er bereits dabei war, sich von der Szene zu distanzieren. Schaut man jedoch in die virtuelle Welt Sozialer Netzwerke, finden sich noch immer Verbindungen zum Neonazi-Milieu. Bedenkt man, wie viel Unterstützung für den NSU aus dem sächsischen B&H-Milieu kam, liegt auch hier ein Bereich, den der UA zu beleuchten versuchen könnte.
Seit Anfang der 2000er Jahre existiert der Sturm 18 Cassel , aus unerfindlichen Gründen wurde er erst kürzlich ins Vereinsregister eingetragen. Die Gruppierung war (und ist) in der gewaltaffinen Skinheadszene zu verorten. Ein Mitglied bereits aus den Anfängen der Gruppe ist Berndt Tödter (vgl. LOTTA #47, S. 27). Er ist immer wieder durch Straf- und Gewalttaten aufgefallen. Um eine B&H-Nachfolgestruktur dürfte es sich beim Sturm 18 eher nicht handeln, enge Beziehungen gab es jedoch zur Oidoxie Streetfighting Crew aus Dortmund, Sturm 18-Mitglieder waren in den Sicherheitsdienst eingebunden (vgl. S. 10).
Während seines letzten Gefängnisaufenthalts ließ Tödter verlauten, er verfüge über Informationen über den NSU, wisse, wer ihnen in Kassel geholfen hat und habe Böhnhard und Mundlos bei einer „Garagenfeier“ in Zwickau kennengelernt. Tödters Andeutungen wurden jedoch als unglaubwürdig eingeschätzt. Dies ist naheliegend, betrachtet man Tödters Persönlichkeit und Profilierungssucht. Allerdings wohnte sein Bruder von 2003 bis 2005 tatsächlich in Zwickau und hatte Besuch von Tödter. Auch um eine Geburtstagsfeier eines Sturm 18-Mitglieds gibt es Gerüchte, Mundlos und/oder Böhnhardt seien anwesend gewesen.
All dies bietet einige Ansatzpunkte für kritische Fragen im UA. Bleibt zu hoffen, dass sich die Mitglieder im UA nicht auf die Abläufe rund um Temme beschränken. Und dass die CDU konstruktiv mitarbeitet. Denn der CDUler Hartmut Honka verfügt als Ausschussvorsitzender über zentrale Einflussmöglichkeiten auf die Arbeit des UA.