Der § 130 StGB
Was ist eigentlich Volksverhetzung?
Viele verbinden mit dem Begriff Volksverhetzung vor allem die Strafbarkeit der Holocaust-Leugnung und sehen ihn als spezifischen Anti-Nazi-Paragraphen an. So einfach ist es aber leider nicht: Zum einen kann die Strafnorm auch gegen andere Positionen gewendet werden, zum anderen gibt es viele eindeutig rassistische und nazistische Äußerungen, die nicht bestraft werden.
Der Straftatbestand der Volksverhetzung in § 130 des Strafgesetzbuches (StGB) umfasst zwei verschiedene Arten von Taten: In den Absätzen 1 und 2 bestraft er bestimmte Angriffe auf die klassischen Zielgruppen nationalsozialistischer Propaganda, aber auch auf andere „Teile der Bevölkerung“. In den Absätzen 3 und 4 greift er bestimmte klassische Inhalte nationalsozialistischer Propaganda an. Dabei erfasst er aber nicht jede eindeutige Äußerung im Sinne des NS, auch nicht jede öffentliche.
Aufstacheln zum Hass gegen Minderheiten…
Nach § 130 Abs. 1 StGB wird bestraft, wer gegen bestimmte Gruppen oder Einzelne wegen ihrer Mitgliedschaft in einer Gruppe „zum Hass aufstachelt“ oder „zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert“ oder wer ihre Menschenwürde dadurch angreift, dass er sie „beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet“. Absatz 2 verbietet Herstellung, Verbreitung usw. entsprechender Schriften, Filme etc. Die geschützten Gruppen sind einerseits „nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppen“ – das klingt nach Bestrafung von Hetze gegen Minderheiten, von hate crimes. In der Praxis dürfte auch die Mehrzahl der Strafverfahren nach dieser Norm gegen Nazis und andere RassistInnen gerichtet sein.
… oder andere „Teile der Bevölkerung“
Andererseits schützen aber § 130 Abs. 1 und 2 neben den genannten Gruppen jeweils auch „Teile der Bevölkerung“. Der Standardkommentar zum StGB von Fischer listet z.B. auf: „die Arbeiter; die Bauern; die Beamten; die Soldaten […]; die Katholiken; die Protestanten“; erst dann folgen klassische Opfer rechter Propaganda wie „die Juden“ oder AsylbewerberInnen. Auch „die Polizisten“ werden mitunter als geschützte Gruppen angesehen – was ein Stück weit zurückführt zu den Wurzeln des § 130, der ursprünglich einmal die „Anreizung zum Klassenkampf“ unter Strafe stellte.
Holocaustleugnung und NS-Verherrlichung
Absätze 3 und 4 des § 130 dagegen bestrafen klassische Nazipropaganda. Am bekanntesten ist § 130 Abs. 3, der die Billigung, Leugnung und Verharmlosung der Shoah oder des NS-Völkermords an anderen Gruppen unter Strafe stellt, wenn sie öffentlich begangen wird.
2005 eingefügt wurde § 130 Abs. 4, nach dem bestraft wird, wer in bestimmter Weise „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“. Dieser Absatz ist auch als „Lex Wunsiedel“ bekannt, denn er dient weniger der Strafverfolgung, sondern vor allem dazu, bestimmte Nazi-Großaufmärsche mit der Begründung zu verbieten, auf diesen würde es zu Straftaten nach § 130 kommen. Tatsächlich wurden die Verbote der Rudolf-Heß-Märsche in Wunsiedel 2005 und 2006 auch hierauf gestützt, während Strafverfahren nach § 130 Abs. 4 weiter selten sind. § 130 Abs. 4 war unter JuristInnen und auch unter AntifaschistInnen nicht unumstritten, denn das Bestrafen einer Meinungsäußerung wegen ihres Inhalts stellt in einem Staat, der sich zu absoluter Meinungsneutralität verpflichtet, einen Tabubruch dar. Aus antifaschistischer Sicht war zu befürchten, dass bald unter Berufung auf „Extremismustheorien“ auch gegen linke Äußerungen vorgegangen würde. Das Bundesverfassungsgericht räumte solche Sorgen mit der „Wunsiedel-Entscheidung“ vom 4.11.2009 weitgehend aus: § 130 Abs. 4 sei zwar nicht meinungsneutral, das sei aber ausnahmsweise zulässig, weil das Grundgesetz ein expliziter Gegenentwurf zu der in § 130 Abs. 4 genannten NS-Gewalt- und Willkürherrschaft sei. Also ein ganz kleines bisschen „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ aus Karlsruhe – das Gericht machte aber auch deutlich, dass es dem Grundgesetz keinen darüber hinausgehenden anti-faschistischen Grundsatz entnimmt, wie ihn antifaschistische Organisationen unter Berufung auf Art. 139 immer wieder eingefordert hatten.
Was ist alles strafbar – und was nicht?
Alle Absätze des § 130 stellen für eine Strafbarkeit weitere Voraussetzungen auf: Insbesondere sind Äußerungen nach den Absätzen 1 und 3 nur strafbar, wenn sie geeignet sind, den „öffentlichen Frieden“ zu stören, Äußerungen nach Absatz 4 nur, wenn sie den öffentlichen Frieden tatsächlich stören und zudem die Würde der Opfer des NS verletzen. Hinzu kommt, dass die Begriffe, die die verbotenen Handlungen beschreiben, durchaus auslegungsbedürftig sind und von den Gerichten oft mit auch nicht viel klareren Begriffen ausgefüllt werden: „Aufstacheln zum Hass“ etwa wird im schon erwähnten Standardwerk von Fischer definiert als „eine auf die Gefühle des Adressaten abzielende, über bloße Äußerung von Ablehnung und Verachtung hinausgehende Form des Anreizens zu einer feindseligen Haltung“. Ähnliche Formeln finden sich zu den meisten anderen Begriffen.
So überrascht es nicht, dass etwa die Frage, ob eine bestimmte Parole auf einer Demo strafbar ist oder nicht, von feinsinnigen Differenzierungen abhängt. So ist etwa die Parole „Türken raus“ dann nicht strafbar, wenn damit „nur“ gemeint ist, sie sollten das Land verlassen – etwas anders gilt aber, wenn sich aus den Umständen eindeutig ergibt, dass „konkludent“ zu Willkürmaßnahmen aufgerufen wird, z.B. gegen die, die der „Aufforderung“ nicht Folge leisten. Eingestellt wurde auch ein Strafverfahren gegen einen Neonazi, der auf einer Demo „Nationalsozialismus jetzt!“ gebrüllt hatte: § 130 Absatz 4, so die Begründung der Staatsanwaltschaft, verbiete ja nur die Glorifizierung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, die Parole aber habe wohl nur den NS „als solchen“ gemeint. Derlei Spitzfindigkeiten mögen juristisch vielleicht sogar vertretbar sein, politisch sind sie nur schwer verdaulich.
Gleichzeitig kann die Offenheit des § 130 auch dazu führen, dass seine Anwendung von politischen Stimmungen und individuellen Einstellungen der Entscheidenden abhängt – und dass er auch gegen linke Positionen gewendet wird: So hat vor wenigen Jahren die Staatsanwaltschaft Kiel einen Demo-DJ wegen Volksverhetzung angeklagt, weil er den Fischmob-Track „Polizei Osterei“ abgespielt hatte. Dieser enthält die Textzeile „Mollies und Steine für Bullenschweine“. Dass der ganze Track in schlumpftechnomäßiger Verfremdung vorgetragen wird und sich selbst auf die Schippe nimmt und dass es sich um eine reine „Latschdemo“ handelte, deren TeilnehmerInnen zu Gewalt gegen PolizistInnen weder aufgerufen werden konnten noch sollten – all das interessierte die Staatsanwaltschaft keinen Deut. Erst das Gericht hatte ein Einsehen und stellte das Verfahren ein.
Aus antifaschistischer Sicht ist die Praxis zu § 130 damit ein weiterer Beleg, dass im Kampf gegen Nazis und andere RassistInnen das staatliche Strafrecht nie mehr als nur ein untergeordnetes Mittel sein kann.