Sommer des Antisemitismus?
Eskalation bei Protesten gegen den Gazakrieg
Kurz nachdem Israel Anfang Juli mit Militärschlägen auf den wochenlangen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen reagierte, kam es bundesweit zu Demonstrationen gegen den Krieg. Mitglieder der palästinensischen Gemeinden, türkische NationalistInnen, IslamistInnen aber zum Teil auch linke wie rechte AktivistInnen zogen zusammen durch die Innenstädte. „Die Linke“ NRW erklärte sich gar in einer Pressemitteilung mit allen in NRW stattfindenden Demonstrationen solidarisch. Dabei wurden auf diesen derart häufig antisemitische Inhalte verbreitet wie selten zuvor.
„Allahu Akbar“ rufend zogen etwa 100 Personen am 11. Juli durch die Essener Innenstadt. Das Ziel der DemonstrantInnen: Die Alte Synagoge. In letzter Minute konnten PolizeibeamtInnen den aggressiven Mob daran hindern, die Synagoge anzugreifen. Der versuchte Angriff war eine der ersten wahrnehmbaren antisemitischen Aktionen im Zuge der Proteste gegen den Gazakrieg. In den nächsten Wochen folgten zahlreiche von Antisemitismus begleitete Demonstrationen.
Gleich in der Nacht nach dem versuchten Angriff auf die Synagoge in Essen, am 12. Juli, zogen 120 Personen, „Kindermörder Israel“ rufend, durch die Straßen Bochums. Zeitgleich fand auch in Gelsenkirchen eine propalästinensische Demo mit rund 150 TeilnehmerInnen statt. „Wir haben gegen die Zionisten in Israel protestiert. Die Demo war natürlich friedlich“, so Taylan Can, Anmelder der Demonstration. Immer wieder betont Can, „gegen die Zionisten“ protestieren zu wollen und nicht „gegen die Juden“. Was ihm in Gelsenkirchen womöglich entgangen ist, zeigt das Video eines freien Kamerateams bei YouTube: „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandieren die DemonstratInnen dort.
Neonazis laufen mit
Ebensfalls am 12. Juli versammelten sich mittags in Dortmund und Frankfurt am Main Tausende, um gegen den Gaza-Krieg und Israel zu demonstrieren. In Dortmund wuchs die für 200 bis 300 Personen angemeldete Demonstration schnell zu einer Veranstaltung mit rund 2.000 TeilnehmerInnen an. Auf Transparenten wurde „Stop Israel Juden“ gefordert, die Militärschläge der israelischen Armee mit dem Holocaust verglichen. Zu sehen waren auch Fahnen der Hamas und der Hisbollah.
Schnell kam es zu Anfeindungen in Richtung der JournalistInnen. Die „Zionisten“- oder „Judenpresse“ solle verschwinden, sonst könne man was erleben, war von den DemonstrantInnen zu hören. Die Polizei war mit der Lage völlig überfordert. Den 2.000 TeilnehmerInnen standen zwei Streifenwagen und zwei Motorradbeamte gegenüber. JournalistInnen, die sich bei der Polizei über die Bedrohungen beschwerten, wurde erklärt, man müsse jetzt damit leben. Unter die DemonstrantInnen mischten sich auch ein paar Kader aus dem Umfeld des verbotenen Nationalen Widerstand Dortmund, die gegen den „Weltbrandstifter Israel“ demonstrieren wollten. Mit dabei waren unter anderem der stellvertretende NRW-Landesvorsitzende von Die Rechte, Michael Brück, sowie Christoph Meier und Lukas Bals. Kurzzeitig führten sie sogar die Demonstration mit an.
Am selben Tag, knapp 200 Kilometer nördlich in Bremen blieb es nicht bei antisemitischen Parolen und Drohungen. Ein 28-jähriger Passant wurde verletzt. Der Mann hatte sich schützend vor einen Journalisten der tageszeitung gestellt, der von den DemonstrantInnen angegriffen wurde. Dabei wurde er mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt und blieb bewusstlos liegen. Polizisten, vor deren Augen der Vorfall stattfand, blieben tatenlos in ihrem Streifenwagen sitzen.
Auch auf der Frankfurter Zeil eskalierte nahezu zeitgleich mit dem Dortmunder Aufmarsch eine israelfeindliche Demonstration von 2.500 Menschen. Neben einigen AnhängerInnen der Studierendenorganisation Die Linke – SDS hatten sich auch viele zumeist junge IslamistInnen und einige Aktivisten der Neonazi-Organisation Freies Netz Hessen unter die Teilnehmenden gemischt. Nach Beendigung der Demo zogen mehrere Hundert DemonstrantInnen über die Einkaufsmeile Zeil. Die Situation eskalierte. Die Gruppe versuchte, Polizeiketten zu durchbrechen. Erst als einer der DemonstrantInnen die Menge über einen Lautsprecher der Polizei dazu aufforderte, friedlich zum Ausgangspunkt zurückzukehren, beruhigte sich die Situation. Auf dem Rückweg gab derselbe Demonstrant durch den von der Polizei gestellten Lautsprecherwagen immer wieder die antisemitische Parole „Kindermörder Israel“ durch. Am Tag darauf, dem 13. Juli, versammelten sich in Frankfurt wieder 500 israelfeindliche ProtestlerInnen in der Innenstadt. Eine aggressive Gruppe von rund 30 Personen bedrängte eine Gruppe JournalistInnen. Die Polizei versuchte daraufhin, den Pressefotografen das Fotografieren zu untersagen.
Mangelnde Abgrenzung
Schon bevor sie überhaupt stattfand, sorgte eine weitere Demonstration für Schlagzeilen. Die Linksjugend [‘solid] Ruhr, Die Linke NRW und die palästinensischen Gemeinden hatten für den 18. Juli unter dem Motto: „Stoppt die Bombardierung Gazas“ zu einer Demonstration in Essen aufgerufen. In der Einladung wurde Israel die alleinige Schuld an der Eskalation gegeben. Die zu der Zeit in vierstelliger Zahl auf Israel abgefeuerten Raketen der Hamas wurden mit keinem Wort erwähnt. Erst als der Protest immer stärker wurde, überwand man sich, einen Halbsatz in den Aufruf einzubauen, der die Raketenabschüsse aller Seiten verurteilte.
In den Facebook-Kommentaren zur Veranstaltung tobte sich ein antisemitischer Mob aus. Fast einen Tag stand dort ein Hitlerbild mit dem Zusatz: „Er hat es geplant – FREE PALESTINA!!!“ Nur zaghaft wurden die schlimmsten Kommentare entfernt. Linksjugend und Linke NRW hätten also wissen können, welches Publikum ihre Veranstaltung anzieht. So stand die Demonstration – frei nach Goethe – an diesem Tag unter dem Motto: „Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.“ Türkische FaschistInnen und NationalistInnen sowie radikale Muslime, gewappnet mit islamistischen Fahnen, gesellten sich zu einem bunten Haufen vermeintlich linker DemonstrantInnen. Einzelne Personen, die den antisemitischen Bogen überspannten, zog die Polizei aus dem Verkehr. So auch eine junge Frau, die ein Plakat mit einer israelischen Flagge, in deren Davidstern ein Hakenkreuz eingeflochten war, trug.
Der antiemanzipatorische Block der über 1.000 DemonstrantInnen großen Kundgebung war mit Abstand der größte und dominierte die Veranstaltung. Er übertönte die eigentlichen Redner mit „Allahu Akbar“- und „Kindermörder Israel“-Parolen. Als der Landessprecher der Linken in NRW, Ralf Michalowsky, ebenso wie der Bundestagsabgeordnete der Linken, Niema Movassat, in ihren Reden auch die Hamas-Raketen verurteilten, schrie die Masse der Kundgebung die zwei Redner nieder und forderte weitere Raketen auf Israel. Lange vor dem geplanten Ende der Versammlung lösten die VeranstalterInnen die Kundgebung auf. Die Parole „Hoch die internationale Solidarität“ war da schon von den FundamentalistInnen niedergebrüllt worden.
Nach der Auflösung liefen etwa 300 bis 400 Menschen durch die Innenstadt und durchbrachen dabei zwei Polizeiabsperrungen. Den Weg in Richtung Alter Synagoge konnte die Polizei in letzter Minute erfolgreich versperren, sodass die aggressive Gruppe Richtung Hauptbahnhof abbog. Auf dem Bahnhofsvorplatz fand eine pro-israelische Kundgebung statt. Mit letzter Mühe konnte die völlig überforderte Polizei die Gruppe einige Meter vor der Pro-Israel-Veranstaltung stoppen. Vor der Polizeikette sammelten sich immer mehr DemonstrantInnen, die unter anderem „Tod den Juden“ sowie „Hitler, Hitler“ riefen und den „Deutschen Gruß“ zeigten. Immer wieder kam es auch zu Würfen in Richtung der eingekreisten DemonstrantInnen. Nach einiger Zeit mussten diese von der Polizei mit einem Bus evakuiert werden. Unter den Einpeitschern befand sich – mal wieder – Taylan Can.
In völliger Verdrängung des Ablaufs zog die Linksjugend Ruhr ein positives Fazit: „Wir haben klar gemacht: Antisemitische, rassistische und antimuslimische Statements werden auf der Kundgebung nicht geduldet und haben dies auch durchgesetzt.“ Und weiter: „Auch die Panikmache im Vorfeld, es könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Angriff auf die Synagoge geben, hat sich nicht bewahrheitet.“ Dass dies am Einsatz der Polizei lag und nicht an der fehlenden Motivation der DemonstrantInnen, ist der Linksjugend wohl entgangen.
Auch bei der Linken NRW ist im Nachgang wenig Einsicht zu erkennen. Stattdessen fühlt man sich von der Presse verfolgt. Unter anderem forderten Özlem Alev Demirel, Ralf Michalowsky und Niema Movassat die Süddeutsche auf, „ihre falsche Medienberichterstattung im Zusammenhang mit den Kundgebungen für einen Frieden im Nahen Osten am 18.07.2014 zurückzuziehen“.
Die Reihe der Demonstrationen setzte sich weiter fort. Schon einen Tag nach der Veranstaltung in Essen kam es im Dortmunder Norden zu einer ähnlichen Demonstration, bei der antisemitische Sprüche wie „Kindermörder Israel“ und „Zionisten sind Faschisten“ dominierten. Wieder mit dabei war Ralf Michalowsky, der zum Ende eine Rede hielt. Erneut war auch eine Abordnung der Partei Die Rechte erschienen, deren Beteiligung nicht auf nennenswerte Gegenwehr stieß.
Antisemitisch motivierte Gewalt
Während des Gaza-Krieges kam es nicht nur zu antisemitisch aufgeladenen Demonstrationen, sondern auch zu mehreren Gewalttaten. Am 14. Juli warfen Unbekannte in der Nacht des WM-Endspiels eine Scheibe der Gelsenkirchener Synagoge mit einem Gullideckel ein. Am 24. Juli nahm die Polizei in Essen vier Männer vorläufig fest, die auf Facebook einen Anschlag auf die Alte Synagoge angekündigt hatten. Wie ernsthaft ihre Tatabsichten waren, ist nicht klar. Fünf Tage später wurden mehrere Brandsätze auf die Synagoge in Wuppertal geworfen. Ein Sachschaden entstand aber nicht. Ende Juni erhielt ein Frankfurter Rabbiner einen Anruf, in dem ihm gedroht wurde, 30 jüdische Menschen aus der Stadt zu ermorden, falls der Familie des Anrufers in Gaza etwas zustoßen solle. Nur wenige Tage später wurde eine Flasche in das Badezimmer einer Frankfurter Jüdin geworfen, sie selbst unter anderem als „Judenschwein“ beschimpft.
Ohrenbetäubendes Schweigen
Festzuhalten bleibt: Trotz antisemitischer Parolen und Schilder sowie der massiven Anwesenheit von IslamistInnen und türkischen NationalistInnen hielten Teile der Linken an ihrer Beteiligung an den Demonstrationen fest. Teils gehörten sie gar zu den Organisatoren. Bodo Ramelow, der thüringische Landesvorsitzende der Linken, erklärte in Anbetracht der Ereignisse in Essen: „Wenn Mitglieder der Linken oder der Linksjugend das schweigend akzeptieren, dann verlieren sie jedes Recht, sich Antifaschisten zu nennen oder gar zu behaupten gegen Rassismus und Faschismus zu kämpfen. Für solches ohrenbetäubendes Schweigen empfinde ich tiefe Scham!“