Die „Sentieri Partigiani“
Wandern auf Partisan*innenwegen in Italien
1992 fand die erste vom Istoreco organisierte Wanderung von und für Antifaschist*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien durch die Berge der Region Reggio Emilia statt. Die Wanderung ermöglicht es, sich an den historischen Orten mit dem antifaschistischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung in Italien auseinanderzusetzen.
Lebendige Gedenkarbeit
Das Istoreco (Institut für die Geschichte der Resistenza und Zeitgeschichte in der Provinz Reggio Emilia) ist eines von 61 Dokumentationsarchiven in Italien, in denen die Berichte und Dokumente der Partisan*innen gesammelt wurden. Die lose miteinander verbundenen Geschichtsinstitute wurden in den 1960er Jahren von lokalen Partisanenverbänden gegründet. Das Istoreco steht in engem internationalen Kontakt mit kritischen Geschichtsinitiativen und antifaschistischen Projekten und hat eine recht vielschichtige und lebendige Erinnerungs- und Bildungsarbeit entwickelt. Das ist nicht bei allen Geschichtsinstituten der Fall. Die Sentieri Partigiani bieten mit ihren Zeitzeuginnen-Gesprächen und mit ihren Diskussionen eine Möglichkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit der Resistenza.
Zeitzeugen
Während der viertägigen Sentieri Partigiani trafen wir an verschiedenen Orten ehemalige Partisan*innen, die von ihrem Kampf und von ihrem Leben berichteten. Mit 87 Jahren ist Giacomo Notari, Kampfname „Willi“, einer der Jüngsten noch lebenden Partisan*innen in der Reggio Emilia. Er war Präsident der Provinzorganisation des Partisanenverbandes ANIP und empfängt uns am ersten Tag der Wanderung im Garten seines Hauses in dem kleinen Dorf Mamoreto, in dem er am 26. Dezember 1927 geboren wurde. In Bussana, der Gemeinde, zu der Mamoreto gehört, befand sich eine faschistische Ferienkolonie, die nach der Besatzung Italiens im September 1943 zum Stützpunkt der Wehrmacht in den Bergen wurde, da sie direkt an der Staatsstraße 63 lag. Weil die Staatsstraße für die Wehrmacht eine der wichtigsten Versorgungsrouten von der Po-Ebene durchs Gebirge an die Front darstellte, waren sie und die an ihr stationierten Wehrmachts-Einheiten immer wieder Ziel von Sabotage-Anschlägen.
Wie unterschiedlich die Geschichten der Partisan*innen und die Gründe sein können, warum Menschen in die Berge gingen und sich den Partisan*innen anschlossen, zeigt die Geschichte von Francesco Bertacchini, auch genannt „Volpe“.
In die Berge
Vor einer beeindruckenden Kulisse sitzt Volpe, geboren 1926, auf einem Parkplatz; im weiten Kreis um ihn herum haben sich die Teilnehmer*innen der Sentieri niedergelassen. Volpe lebte in Reggio Emilia, arbeitete in einem Radiogeschäft, liebte Musik und ging gerne tanzen. Mit seinem Freund Amando, der später den Kampfnamen Pancho trug, ging Volpe 1943 in die Berge. Sie hatten in einer Bar im Stadtzentrum von Reggio Emilia von den Rebellen gehört; Amandos Onkel hatte gute Kontakte und wusste einiges über die Rebellen. Von ihm bekamen sie eine Adresse. Da sie auf dem Weg jedoch in eine Razzia der deutschen Wehrmacht gerieten und sich auf einem Friedhof verstecken mussten, zogen sie mehrere Tage lang ziellos immer höher in die Berge. Dort trafen sie auf eine Gruppe Rebellen, die sich in einem kleinen Dorf eingerichtet hatten. Volpe beschreibt die Begegnungen mit den Rebellen, als habe er endlich „Amerika gefunden“. Denn bei dieser Gruppe gab es reichlich zu essen, eine Tatsache, die zu dieser Zeit eine große Bedeutung hatte. Doch Volpe erzählt: „Amerika währte nicht lange.“ Nach ein paar Tagen wurden sie von der Gruppe weggeschickt, nachdem Amando den Wunsch geäußert hatte, er wolle lieber zu kommunistischen Partisanen. Volpe erinnert sich, dass er auf diese Äußerung seines Freundes äußerst irritiert reagierte, denn er wusste zu dem Zeitpunkt nicht einmal, was er mit dem Begriff Kommunismus anfangen sollte.
Volpe erzählt seine Geschichte wie ein Abenteuer - als sei er durch Zufall zu den Partisanen gelangt. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich bewusst entschied, gegen den Faschismus zu kämpfen und dass er es nie bereut hat, zu den Partisanen gegangen zu sein.
Als Verbindungsfrau unterwegs
„Ich bin vor zwei Jahren das erste Mal seit dem Krieg wieder zu diesem Haus gekommen, anlässlich eines Gedenktages; vor zwei Jahren war ich und auch jetzt bin ich wieder total aufgeregt, weil ich das Haus auch heute so sehe, wie es damals war.“ Mit diesen Worten beginnt Giovanna Quadreri, genannt „Libertà“, ihre Erzählung. Als junges Mädchen brachte sie Jungen und Männer, die sich vor den Faschisten verstecken mussten, in die Berge zu Don Carlo, der als Pfarrer eine wichtige Rolle in der Resistenza spielte. Da Giovannas Mutter Verwandtschaft in der Stadt Reggio Emilia hatte, konnte sie sich unauffällig zwischen den Bergen und der Stadt hin und her bewegen und so Leute in die Berge bringen. Später war sie als Verbindungsfrau tätig. Sie war damit ein wichtiges Bindeglied zwischen der politischen Organisation der Resistenza und den Partisan*innen-Einheiten in den Bergen. Giovanna war immer alleine unterwegs; für die weiblichen Partisan*innen, die als Verbindungsfrauen arbeiteten, war das so üblich. Sie entschied alleine, auf welche Art und Weise sie die ihr anvertrauten Aufgaben erfüllte. Wenn die Sachen zu kompliziert wurden, ritzte sie die Informationen auf ein Stück Zigarettenpapier, das sie, sollte sie geschnappt werden, hätte essen können.
Auch ein feministischer Kampf
Für Giacomina Castagnetti, die 1925 geboren wurde, war der Kampf gegen den Faschismus auch ein Kampf für soziale Gerechtigkeit und vor allem auch ein feministischer Kampf. Die Zeit ihrer Kindheit im faschistischen Italien beschreibt sie als eine Zeit, in der alle Bereiche der Gesellschaft faschistisch durchdrungen waren. Dazu gehörte auch ein strikt traditionalistisches Geschlechter- und Frauenbild, das die Frauen als Mütter und Hausfrauen an Küche und Kindererziehung band. Giacomina wuchs mit einer Schwester und sechs Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre Mutter war alleinerziehend.
Als am 8. September 1943 die Wehrmacht Norditalien besetzte, waren es die Selbstorganisationen der Frauen, unter ihnen Giacomina, die - indem sie die desertierenden Soldaten versteckten, ihnen zivile Kleidung besorgten und ihnen halfen, in die Berge zu flüchten - die Grundlage dessen schufen, woraus sich später die Resistenza speisen konnte.
Als „Staffetta“ transportierte Giacomina Nachrichten, Lebensmittel und Waffen per Fahrrad durch die Po-Ebene in die Berge. Um die gefährliche Arbeit der meist weiblichen Staffetten besser zu organisieren, wurden Frauenverteidigungsgruppen gegründet. Doch diese stellten nicht nur ein klandestines Netzwerk zur Unterstützung der Partisan*innen in den Bergen dar. Es fanden auch politische Versammlungen statt, bei denen die Rolle der Frau in der Nachkriegsgesellschaft diskutiert wurde. „Nicht die Engel am Herd, sondern eine andere Rolle in der Gesellschaft – Gleichberechtigung, Wahlrecht, Emanzipation“: Das wurde thematisiert, wie sich Giacomina erinnert. Nach dem Krieg ging aus den Frauenverteidigungsgruppen der italienische Frauenverband UDI („Unione Donne in Italia“) hervor, in dem auch Giacomina aktiv war.
„Nicht mehr für den Krieg arbeiten“
Nach dem Gespräch mit Giacomina im Hof der ehemaligen Präfektur trafen wir auf dem verfallenden Industriegelände der Reggiane-Werke Fernando Cavazzini, der „Toni“ genant wird.
Toni arbeitete im Sommer 1943 in der Munitions- und Waffenfabrik der Reggiane-Werke in der Stadt Reggio Emilia. Er liebte seine Arbeit, es machte ihm Spaß, sich mit den Maschinen auseinanderzusetzen und die Produktion zu optimieren. Daher galt er als ein zuverlässiger Arbeiter. Zwei Erlebnisse im Juli 1943 veränderten sein Leben grundlegend und führten zu dem Entschluss, sich den Partisan*innen in den Bergen anzuschließen.
Am 26 Juli 1943, nach der Absetzung Mussolinis durch den König, schloss er sich den Demonstrationen an, die ein Ende des Faschismus und die Freilassung der politischen Gefangenen forderten. Ein paar Tage später wurde abermals gestreikt. Die Arbeiter*innen wollten gegen den Krieg demonstrieren, denn trotz der Absetzung Mussolinis setzte Italien den Kampf an der Seite Deutschlands fort. Als die streikenden Arbeiter*innen jedoch das Werksgelände verlassen wollten, wurde auf sie geschossen. Nach diesen Erlebnissen wollte Toni nicht mehr in einer Waffenfabrik für den Krieg arbeiten. Er nahm Kontakt zu den Partisan*innen auf und wurde Spezialist für Sabotage-Aktionen.
Genau dort, wo im Juli 1943 die Friedensdemonstration niedergeschossen wurde, sitzen wir 71 Jahre später. An der Wand eines der verfallenden Fabrikgebäude hat ein Street Art-Künstler ein großes Wandbild gemalt, das an eine hochschwangere Frau erinnert, die sich vor den Kugeln in einen Hauseingang flüchten wollte, jedoch von den Schüssen getroffen wurde und nicht überlebte. Auch 71 Jahre später ist Toni anzumerken, wie sehr ihn die Erinnerungen an die Ereignisse im Juli 1943 bewegen. Seine Hände zittern, und Tränen stehen ihm in den Augen, als er berichtet, wie um ihn herum Demonstrant*innen erschossen wurden. Solche Emotionen, aber auch die Kraft und Energie, die die heute um die 90 Jahre alten Partisan*innen bei ihren Berichten ausstrahlen, machen die Begegnungen mit Zeitzeug*innen zu einer ganz besonderen Erfahrung.
Die Geschichte der Partisan*innen prägt die Region Reggio Emilia bis heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es bei der Abstimmung über die zukünftige Staatsform Italiens die nördlichen Regionen, die entschieden für eine Republik und gegen die Monarchie stimmten. Lange Zeit war die Kommunistische Partei die eindeutig stärkste Kraft in der Region. Alle Zeitzeug*innen, die wir während der Wanderungen trafen, blieben auch nach dem Sieg über den Faschismus politisch aktiv. Heute begreifen sie das Erzählen ihrer Geschichte als Beitrag zur antifaschistischen Kultur- und Bildungsarbeit.
Mehr Informationen: www.sentieripartigiani.it/de