Zwischen Parteitaktik und Expert_innenwissen
Zum Start des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses
In dem Artikel legen die Autoren Dirk Laabs, Per Hinrichs und Stefan Aust unter Bezugnahme auf Beweisanträge der Nebenklage im NSU-Prozess nahe, der V-Mann-Führer Andreas Temme habe bereits im Vorfeld von dem geplanten Mord an Halit Yozgat gewusst. Dies gehe aus abgehörten Telefonaten Temmes hervor. Seither steht die Frage im Raum, ob der VS Informationen über den geplanten Mord hatte, und nicht zuletzt, ob der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier darüber in Kenntnis gesetzt war. Eine Flut von Medienberichten und Kommentaren folgte, bis Bouffier sich wenige Tage später genötigt sah zu reagieren. In einer Pressekonferenz dementierte er, sichtlich wütend, jegliche Mitwisserschaft.
Seit Februar tagt der hessische NSU-Untersuchungsausschuss (UA) öffentlich, fünf Anhörungen haben bis Ende März stattgefunden. Vorher hatten die Fraktionen über ein halbes Jahr – in zehn nichtöffentlichen Sitzungen – darum gestritten, wer als Sachverständige_r geladen werden kann, wie ein sinnvoller Ablauf aussieht und wann die Sitzungen stattfinden sollen. Klar war schon im Vorfeld, dass die aktuelle Parteienkonstellation die Arbeit des Ausschusses erschweren würde. Die schwarz-grüne Regierungskoalition will verhindern, dass der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier Schaden nimmt, weil er als damaliger Innenminister die Verantwortung für den Verfassungsschutz trug. Der Opposition ist genau daran gelegen.
Expertise vom VS? Fehlanzeige
Für die ersten drei Sitzungen des UA waren Sachverständige geladen, die zu „Rechtsextremismus“ sowie zur „rechtsextremen Szene“ allgemein und in Hessen referieren sollten. Dies waren die Journalist_innen Andrea Röpke, Dirk Laabs und Joachim Tornau, die Professoren Hajo Funke und Benno Hafeneger sowie die (ehemaligen) Verfassungsschutzmitarbeiter Rudolf van Hüllen und Jürgen Leimbach.
Van Hüllen konzentrierte sich auf die Gleichsetzung von „Links- und Rechtsextremismus“ und steuerte wenig zur Analyse der rechten Szene bei. Leimbach sprach in seinem kurzen Vortrag hauptsächlich über die NPD. Aus deren verhältnismäßig schlechten Wahlergebnissen in Hessen schloss er auf die geringe Bedeutung der rechten Szene im Bundesland. Als spezifischere Nachfragen zu Verbindungen in andere Bundesländer oder zum Einsatz von V-Leuten gestellt wurden, verweigerte er konsequent die Aussage. Dass sich Leimbach so unkooperativ zeigte, sorgte auch deshalb für Unmut bei den Abgeordneten, weil am Tag zuvor der Welt-Artikel veröffentlicht worden war.
Diesen Aussagen widersprachen die Professoren Funke und Hafenegger mit ihren Analysen. Funke betonte, dass die rechte Szene in Hessen und über Landesgrenzen hinaus stark vernetzt ist. Konkret nannte er das Blood&Honour-Netzwerk und die Hammerskins. Außerdem stellte er klar, dass die extreme Reche kein „Ost-Phänomen“ sei, sondern gerade rechte Kader aus dem Westen nach der Wende nach Ostdeutschland gegangen seien, um dort Strukturen aufzubauen.
V-Mann für die „Deutsche Partei“?
Am detail- und erkenntnisreichsten waren die Vorträge der geladenen Journalist_innen. Andrea Röpke machte deutlich, dass die Erzählung von unentwickelten rechten Strukturen, auch in Hessen, nicht stimmt. Außerdem arbeitete sie Verbindungen zwischen Hessen, Thüringen und NRWheraus und betonte die Vernetzung der Szenen aus Kassel und Dortmund. Dass ausgerechnet Kassel zum NSU-Tatort wurde, hält Röpke nicht für einen Zufall, typischerweise seien westdeutsche Städte mit starken Neonaziszenen ausgesucht worden.
Röpke zweifelte auch die Aussagen Temmes, beispielsweise seine Behauptung, relevante Neonazigruppen gar nicht oder nur aus der Presse zu kennen, an. Auch dessen Behauptung, seine Quelle Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“) sei als Informant zur Deutschen Partei geführt worden, stellte sie in Frage. Dies sei wegen der Irrelevanz der Partei in Hessen kaum zu glauben. Viel eher hätte Gärtner, dessen Bruder Christian W. Teil von Blood&Honour war, Informationen über die militante Neonaziszene weitergeben können.
Dirk Laabs Ausführungen wurde mit besonderer Spannung erwartet. Er machte allerdings klar, selbst eher Fragen zu haben, als neue Antworten geben zu können. Meist in scharfem Ton stellte er Forderungen in verschiedene Richtungen auf. Der Verfassungsschutz solle sich bei der Familie Halit Yozgats entschuldigen und endlich zur Aufklärung beitragen. Einen Grünen-Abgeordneten forderte er dazu auf, Yozgats Vater als Zeugen in den UA zu laden, statt sich betroffen zu geben. Er kritisierte die mangelnde Aussagebereitschaft von Temme und anderen VS-Mitarbeiter_innen und wunderte sich, dass Temme noch immer in Schutz genommen werde.
Unglaublich transparent
Thema der beiden folgenden Sitzungen war die Arbeitsweise der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden. Selbstkritisch räumte der Dresdner „Extremismusforscher“ Uwe Backes ein, die Forschung habe das Potenzial rechten Terrors bislang unterschätzt. Für Erheiterung im Saal sorgte seine Aussage, der Vorteil des deutschen Verfassungsschutzes sei seine Transparenz. Während Andreas Röhrig von der Polizeidirektion Frankfurt die Aufgabe zukam, die polizeiliche Arbeitsweise bei Tötungsdelikten zu erläutern, sollte Dieter Bock vom Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (LfV) den Aufbau des LfV erklären. Bezüglich der V-Leute versicherte Bock, diese würden lange untersucht, bis sie angeworben würden. Grenzen für den Quellenschutz konnte er auch auf mehrfache Nachfragen hin nicht benennen. Christoph Gusy, Rechtswissenschaftler an der Universität Bielefeld, warf hingegen einen deutlich kritischeren Blick auf den VS, er problematisierte besonders den umfassenden Einsatz von V-Leuten. Diese seien das unzuverlässigste nachrichtendienstliche Mittel. Der Umgang mit ihnen habe sich darüber hinaus „para-legal“ entwickelt.
Im April sollen weitere Sachverständigen zum Thema Justiz und im Anschluss ehemalige Mitglieder der bisherigen UAs gehört werden. Bis Ende des Jahres sind jedoch nur noch zehn Sitzungen anberaumt. Wann die Befragung von Zeug_innen beginnen soll, ist völlig offen. Durch den Welt-Artikel hat sich die Atmosphäre im und um den UA deutlich verändert. Grüne und CDU hielten es für angebracht, öffentlich ihr Aufklärungsinteresse zu bekunden, die FDP änderte ihre Einschätzung zur Relevanz des UA. Auch der Ton ist schärfer geworden. Die neuen Erkenntnisse scheinen das öffentliche Interesse zu stärken. Allerdings tragen sie auch zur weiteren Fixierung auf Bouffier bei und bedienen parteipolitische Auseinandersetzungen, statt institutionellen Rassismus und die rechte Szene in Hessen und darüber hinaus in den Blick zu nehmen.