"Abendland"

Zur Geschichte und Wirkungsmacht eines polemischen Begriffs

Ein Blick auf die Ideologiegeschichte des „Abendlandes“ zeigt, dass sich der Begriff mit Antikommunismus ebenso füllen lässt, wie mit antiwestlichen Ressentiments, Kulturpessimismus und Kritik an der Moderne oder mit Rassismus und Islamfeindschaft.

Ein Blick auf die Ideologiegeschichte des „Abendlandes“ zeigt, dass sich der Begriff mit Antikommunismus ebenso füllen lässt, wie mit antiwestlichen Ressentiments, Kulturpessimismus und Kritik an der Moderne oder mit Rassismus und Islamfeindschaft.

Björn Höcke, Landesvorsitzender der AfD in Thüringen und Protagonist des Rechtsaußen-Flügels seiner Partei präsentierte sich Ende letzten Jahres in einem Gespräch mit der Online-Ausgabe der Zeitschrift Sezession äußerst zufrieden. Im Zentrum des von Götz Kubitschek geführten Interviews standen die zu diesem Zeitpunkt wöchentlichen Pegida-Demonstrationen in Dresden und deren rasant wachsende TeilnehmerInnenzahlen. Höcke lobte, dass die „Initiatoren und Unterstützer der Pegida“ ihre „Freiheitsrechte in vorbildlicher Art und Weise“ ausüben würden. Schließlich lohne es sich zu demonstrieren, da eine „Islamisierung“ dem „Abendland“ kaum Innovationsschübe verleihen könne, vielmehr berge die Entwicklung ein „bedrohliches Restrisiko“ für „unsere Identität“. Gleichwohl äußerte der Thüringer AfD-Funktionär Kritik an einem bei Pegida verkürzten „Abendland“-Begriff, der sich zwar auf „christlich-jüdische“ Prägungen beziehe, dessen „antike und germanische Wurzeln“ jedoch nicht erwähne.

Was ist das „Abendland“?

Die Frage, was das allenthalben beschworene „Abendland“ kennzeichne, beschäftigte auch zahlreiche LeserInnen der Sezession. Während ein Kommentator jüdische und sogar „osmanische Einflüsse“ ausgemacht haben wollte, wurde diese Sichtweise von anderen vehement zurückgewiesen. Demnach sei von einem „germanisch-christlichen Abendland“ zu sprechen, da „wir“, so ein weiterer Beiträger „zu unser aller Glück keine jüdische Kultur haben.“ Andere wiederum verwiesen auf das „römische Recht“, die „griechische Philosophie“ und die „deutsche Klassik“ als zentrale Bestandteile der abendländischen Tradition. Der Kommentator „Waldgänger“ indessen wollte die historischen Verdienste der katholischen Kirche um die „Abwehr der islamischen Expansion“ gewürdigt wissen. Blieb die positive Bestimmung des „Abendlandes“ somit reichlich diffus, herrschte hinsichtlich der angeführten Gründe für dessen angeblichen Niedergang weitgehende Einigkeit. Verantwortlich sei die „Amikanisierung“ [sic!], die „reeducation“ nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die „willkürliche Überflutung“, die mit dem Schengener Abkommen eingesetzt habe und zu einer „Umvolkung“ führen werde. Letztendlich sei das „Abendland“ durch „Zersetzung“, „Auflösung“ und „Auslöschung“ bedroht.

Ähnliches lässt sich nahezu täglich in den einschlägigen Blogs wie Politically Incorrect ebenso vernehmen wie auf den Facebookseiten der diversen Pegida-Ableger. Was jedoch unter dem schillernden Topos des „Abendlandes“ in historischer und aktueller, aber auch in topografischer Perspektive zu verstehen sei, dazu haben diese Foren indessen nichts beigetragen. Doch darum scheint es augenscheinlich auch nicht zu gehen.

Das „Abendland“ als Verheißung

Das „Abendland“ lässt sich vielmehr in eine Reihe extrem rechter Schlüsselkategorien wie etwa „Volk“, „Nation“, „Gemeinschaft“ und „Organismus“ einordnen, die nicht der differenzierten Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Zustände dienen sollen. Vielmehr fungieren sie, so der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer, als „polemische Begriffe“, die „nicht primär Wirklichkeit erfassen, sondern als Waffen gegen die Wirklichkeit verwandt werden.“ Sie rufen die unhinterfragte und unhinterfragbare Fiktion einer vermeintlich ursprünglichen Ordnung an, die durch Bedrohungen von „außen“ und moralischen Niedergang im „Inneren“ gefährdet sei.

Insofern erfüllt der Rekurs auf das „Abendland“ die Funktion eines „Kampfbegriffs“, der „Wir“- und „Sie“-Gruppen entlang ethnischer, kultureller und religiöser Trennlinien konstruiert. In dieser Hinsicht weist er Ähnlichkeiten mit dem nationalsozialistischen Leitbegriff der „Volksgemeinschaft“ auf, dessen politische Anziehungskraft, wie die Historiker Michael Wildt und Frank Bajohr betonen, nicht auf der „Feststellung eines sozialen Ist-Zustandes“ gründete, sondern auf der mobilisierenden Wirkungsmacht der Verheißung. Wenngleich die „Volksgemeinschaft“ eine weitaus größere und präzedenzlose mörderische Dynamik entfaltete, war (und ist) in beiden Konzepten das Versprechen der Zugehörigkeit vor allem mit der Frage verknüpft, wer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden müsse.

Während der positive Bezug auf die „Volksgemeinschaft“ nach 1945 in Deutschland politisch und gesellschaftlich überwiegend diskreditiert war, erzielte die Anrufung des „Abendlandes“ besonders in der Hochphase des Kalten Krieges in den 1950er Jahren sowie nach der Jahrtausendwende im Kontext eines zunehmenden antimuslimischen Rassismus’ in Deutschland und in Europa erstaunliche Resonanzen, die bis weit in die „Mitte der Gesellschaft“ reichten. Die Mobilisierungsfähigkeit dieses autoritären Vergemeinschaftungskonzepts resultierte dabei zum einen aus der jahrhundertelangen Tradition des Abendlandbegriffs, zum anderen aus dessen inhaltlicher Diffusität. Stets repräsentierte er jedoch einen Gegenentwurf zu demokratischen, emanzipatorischen, pluralistischen Positionen.

„Abendland“ versus „Aufklärung“

Bis zum 18. Jahrhundert war der Begriff „Abendland“ vorwiegend in einem religiösen, gleichwohl keineswegs unpolitischen Kontext gebraucht worden. Zunächst berief sich die römisch-lateinische Kirche auf das „Abendland“, um sich gegenüber der orthodoxen Kirche abzugrenzen. Nach der Eroberung Konstantinopels durch das türkisch-osmanische Heer im Jahr 1453 avancierte schließlich der Islam zu einem Feindbild, gegen das wiederum die Einheit der christlich-abendländischen Welt beschworen wurde. Von dieser konnte freilich angesichts der in Europa über Jahrhunderte hinweg ausgefochtenen Religionskriege kaum die Rede sein. War die Anrufung des „Abendlandes“ jedoch bis dahin auf einen vorwiegend äußeren Gegner bezogen, brachten nun vor allem die AutorInnen der Deutschen Romantik, wie etwa Novalis oder Friedrich und Wilhelm Schlegel, das „christliche Abendland“ gegen die entstehende „moderne“ Welt in Stellung. Sie beschworen eine ihrer Auffassung nach verloren gegangene Gemeinschaft, die angeblich im Mittelalter seit Karl dem Großen unter dem einigenden Dach der Kirche bestanden hatte. Ihre Begeisterung für gotische Baukunst und mittelalterliche Mystik war gleichzeitig Ausdruck einer romantischen Kritik am „seelenlosen“ Rationalismus und Materialismus der Aufklärung und den damit verknüpften gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen. Aber auch die Französische Revolution 1789 mit ihren universalistischen Postulaten stieß unter den frühen ProtagonistInnen des „Abendlandes“ auf Ablehnung.

Die sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts formierenden ideologischen Vordenker des (deutschen) Nationalstaats rekurrierten gleichermaßen auf den Topos des „Abendlandes“. Leopold Ranke, einer der Urväter der modernen deutschen Geschichtswissenschaft und Verfechter der preußisch-deutschen Nationalstaatsidee beschwor in seiner im Jahr 1839 erschienenen „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation“ die „Gefahr des Abendlandes“ durch die „Heiden“ und den Islam. Die historische Mission des „Abendlandes“ bestehe darin, aus dem „kriegerisch-priesterlichen Staat“ des Mittelalters, den „Geist der Nationen“ hervorzubringen. Auch bei Ranke waren somit „Inklusion“ und „Exklusion“ eng miteinander verwoben.

„Vollendung“ des

„Abendlandes“ im Zeichen seines Untergangs?

Spiegelte sich in der Verklärung des „Abendlandes“ durch die AutorInnen der Deutschen Romantik deren kulturpessimistischer Blick auf die zeitgenössische Gegenwart, galt dies auch für die geschichtsphilosophischen Betrachtungen Oswald Spenglers, die er am Beginn der 1920er Jahre in seinem monumentalen Werk „Der Untergang des Abendlandes“ veröffentlichte. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, des revolutionären Systemumbruchs sowie der einsetzenden politischen und gesellschaftlichen Demokratisierung formulierte er seine Kulturkreislehre, der zufolge die Geschichte der „Hochkulturen“, zu denen er auch das seit rund 1000 Jahren bestehende westeuropäische „Abendland“ zählte, durch den immer gleichen Prozess von Aufstieg, Blüte, Niedergang und Zerfall gekennzeichnet sei. Für den drohenden „Untergang des Abendlandes“ macht Spengler den westlichen Kapitalismus, die Urbanisierung sowie die seiner Ansicht nach damit einhergehende kulturelle Dekadenz und nicht zuletzt die Ideen der Französischen Revolution verantwortlich. Diese gelte es letztendlich durch ein autoritäres Regime zu beseitigen, um das „Abendland“ zu „vollenden“. In den Worten Spenglers: „Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie.“ Der „Untergang des Abendlandes“ zählt zu den bis heute einflussreichsten Texten des antidemokratischen Denkens der Zwischenkriegszeit, auf den beispielsweise auch der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington seit den 1990er Jahren in seinen umstrittenen, von extrem rechten IslamhasserInnen jedoch breit rezipierten Thesen vom „Kampf der Kulturen“ positiv Bezug nahm.

In den Grundpositionen der „Konservativen Revolution“ avancierte jedoch besonders das „Reich“ zu einem weltanschaulichen Schlüsselbegriff. Vor allem in den katholisch geprägten Strömungen der „Konservativen Revolution“, etwa bei Edgar Julius Jung in dessen Werk „Die Herrschaft der Minderwertigen“ (1930) oder bei Wilhelm von Schramm, firmierte die nicht nur von den Nationalsozialisten gebrauchte Formel vom „Dritten Reich“ als „Einheit des christlichen Abendlandes unter der Führung der deutschen Nation.“

Auch die antibolschewistische Rhetorik des eigentlichen „Dritten Reichs“ bezog sich bisweilen positiv auf das „Abendland“. Als sich mit der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad dessen Scheitern abzeichnete, stilisierte Adolf Hitler in einem Tagesbefehl Ende Januar 1943 das „heldenhafte Ausharren“ der Wehrmacht zu einem „unvergesslichen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und zur Rettung des Abendlandes.“

Antikommunistische Integrationsideologie

An diese Topoi konnten die Diskurse in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nahtlos anknüpfen. Im Zeichen des Kalten Krieges bildete der Antikommunismus gleichsam die Basisideologie der jungen Bundesrepublik. „Hitler ist tot, aber Stalin lebt“ lautete ein viel zitierter Satz, mit dem sich die NS-Vergangenheit durch den Verweis auf die gegenwärtige kommunistische Bedrohung bequem entsorgen ließ. Zentrale sinn- und gemeinschaftsstiftende Bedeutung kam in diesem Kontext dem Rekurs auf das „christliche Abendland“ zu und erfüllte, wie der Historiker Axel Schildt argumentiert, die Funktion einer „hegemonialen Integrationsideologie“.

Deren Ausprägungen zeigten sich während der 1950er Jahre auf vielfältige Weise. Kulturpolitisch spiegelte sie sich beispielsweise in einer Reihe spektakulärer Ausstellungen mittelalterlicher und sakraler Kunst, in denen die historisch-kulturellen Traditionslinien des „christlichen Abendlandes“ beschworen wurden. Zu nennen ist hier etwa die im Jahr 1956 in der Essener Villa Hügel gezeigte Ausstellung „Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr“. In einem Grußwort definierte der Kölner Kardinal Joseph Frings Europa als „christliche Gemeinschaft“ und betonte die „Kulturkraft der Kirche“ bei der „Entstehung des christlichen Abendlandes“. Nicht zuletzt in der politischen Rhetorik der Bundesrepublik war die Abendlandideologie omnipräsent. Als schillerndes Beispiel kann die Ansprache von Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU) gelten, die dieser im Juli 1955 anlässlich der Jahrtausendfeier der Schlacht auf dem Lechfeld im Augsburger Rosenaustadion vor über 60.000 TeilnehmerInnen hielt. Darin verglich er den Sieg von König Otto über das ungarische Heer im Jahr 955 mit den gegenwärtigen Herausforderungen durch den „Osten“: „Damals standen vor den Toren des Abendlandes […] die heidnischen Nomadenscharen des Ostens. Verderben und Untergang drohten. Jetzt stehen wiederum nicht sehr viel weiter entfernt […] die Massen des Ostens.“

Geistiges Rüstzeug für derart fragwürdige historische Analogien lieferten weitverzweigte Netzwerke, die um die Wochenzeitung Rheinischer Merkur und die Monatszeitschrift Neues Abendland entstanden, sich aber ebenso in der 1952 im bayerischen Eichstätt gegründeten Abendländischen Akademie organisierten. Letzterer gehörten zahlreiche führende VertreterInnen der Unions-Parteien, konservativer Medien und des katholischen Klerus an – so etwa Heinrich von Brentano und der Erzbischof von Paderborn. Auf den teilweise durch die Bundeszentrale für Heimatdienst (die heutige Bundeszentrale für politische Bildung) geförderten Veranstaltungen der „Akademie“ wurde über die Wiedereinführung der Todesstrafe ebenso diskutiert wie über die Möglichkeiten, den Einfluss des Parlaments zugunsten einer aristokratisch-ständischen Ordnung zu begrenzen. In diesem Kontext zeigten sich immer wieder unverhohlene Sympathien mit den bis in die 1970er Jahre bestehenden rechts-autoritären Diktaturen in Spanien und Portugal, zu denen es über das Europäische Dokumentations- und Informationszentrum (CEDI), in dem wiederum „Akademie“-Angehörige vertreten waren, direkte Verbindungen gab.

Insgesamt war die Abendlandideologie der 1950er Jahre jedoch keineswegs nur antikommunistisch ausgerichtet, sondern transportierte auch unverkennbare Ressentiments gegenüber dem „westlichen“ Liberalismus und dem als „Unkultur“ geschmähten american way of life. Die ständig beschworene „abendländische Freiheit“, war demnach alles andere als ein demokratisches Bekenntnis. Im Zuge der sich tatsächlich vollziehenden Verwestlichung der Bundesrepublik, der Pluralisierung von Lebensstilen und vielschichtiger Emanzipationsprozesse verlor das „Abendland“ als Integrations- und Ausgrenzungsideologie in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung, ohne freilich gänzlich zu verschwinden.

Das „Abendland“ als ethnisierter Kampfbegriff

Eine Renaissance erlebte der Begriff in einer ethnisierten und antimuslimischen Aufladung besonders in Folge der Anschläge vom 11. September 2001. Erneut scheint es um nichts Geringeres zu gehen, als um den drohenden „Untergang des Abendlandes“, der in den unterschiedlichsten Facetten von Autoren wie Thilo Sarrazin oder Udo Ulfkotte, den verschiedenen Spektren der extremen Rechten, aber auch den VerfechterInnen einer „deutschen Leitkultur“ heraufbeschworen wird.

Dabei erscheint der Kampf gegen „den“ Islam als historisches Kontinuum. Dessen ständig zitierte Referenzpunkte bilden die Schlacht von Tours und Poitiers im Jahr 732, die das vorläufige Ende der arabischen Expansion in Europa bedeutete, die Verteidigung Wiens im Jahr 1683 gegen das türkisch-osmanische Heer und die spanische Reconquista bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Die Beliebigkeit, mit der in „neurechten“ und rechtspopulistischen Diskursen unterschiedliche historische Konstellationen und Ereignisse zu einer großen Erzählung zusammengefügt werden, die von der gleichsam ewig andauernden Verteidigung des „Abendlandes“ kündet, ist evident.