Wer legte die Bombe in der Probsteigasse?
Im NSU-Untersuchungsausschuss NRW begann die Beweisaufnahme
Laut Anklageschrift ist der Generalbundesanwalt überzeugt, dass entweder Uwe Böhnhardt oder Uwe Mundlos zwischen dem 19. und 21. Dezember 2000 die Sprengfalle in der Stollendose im Lebensmittelgeschäft der Familie M. in der Probsteigasse platzierte. Die Tochter des Inhabers hob am 19. Januar 2001 den Deckel der Dose an, woraufhin die Bombe explodierte und die junge Frau schwer verletzte. Im Bekennungsvideo bezichtigt sich der NSU der Tat, dies war zuerst dem Landeskriminalamt NRW (LKA) bei der Sichtung aufgefallen. Der damalige Leiter der dortigen BAO Trio NRW, Dieter Kretzer, gestand bei seiner Anhörung im PUA am 20. August ein, dass die „Konkretisierung des Anteils von Täterschaft und Teilhabe des NSU“ bei dieser Tat nicht dargestellt werden konnte. Es gebe im Detail Ungereimtheiten, die nicht zu klären seien, so Kretzer.
Im Bekennungsvideo werden keine Informationen verwandt, die auf exklusives Täterwissen schließen lassen. So ist das gezeigte Foto von der Stollendose in einer Lokalzeitung veröffentlicht worden, der Artikel fand sich im Schutt des NSU-Verstecks in Zwickau. Über das Video hinaus gibt es keine Hinweise auf Böhnhardt oder Mundlos als Täter, und auch das 2001 nach Angaben des Inhabers erstellte Phantombild weist keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden Neonazis auf. Mit neuen Methoden DNA-Spuren auf den Bombenresten zu suchen, ist nicht mehr möglich, da die Asservate bereits 2006 vernichtet wurden – dies sei seine alleinige Entscheidung gewesen, so Staatssanwalt Karl-Heinz Schlotterbeck im PUA. In der Vernehmung eines BKA-Beamten wurde zudem deutlich, dass der Ablegezeitpunkt der Bombe nicht genau bestimmt werden konnte, womit ebenso wenig geklärt ist, ob die Anmietung eines Wohnmobils vom 19. bis 21. Dezember 2000 auf die Alias-Personalien „Eminger“ mit dem Tatzeitpunkt übereinstimmt. Zumal auch seinerzeit von der Vermietungsfirma der Kilometerstand des Wohnmobils nicht festgehalten wurde.
Ein Rätsel stellt weiterhin die Tatortauswahl dar. Die Ermittler_innen konnten nach der Aufdeckung des NSU nicht klären, warum ausgerechnet in der unscheinbaren Nebenstraße Probsteigasse ein kleines Lebensmittelgeschäft gewählt wurde, bei dem von außen nicht ersichtlich war, dass es von einer aus dem Iran stammenden Familie betrieben wurde. LKA-Mann Kretzer hielt die Hilfe von Ortskundigen für wahrscheinlich. Auch in Hinblick auf andere beim NSU gefundene Adressen und Ausspähungen mit NRW-Bezug sagte er, manche Beschreibungen seien so konkret gewesen, dass die Orte „ausbaldowert“ sein müssten. Dass der NSU „Ankerpunkte“ in NRW hatte, sei deshalb eine Hypothese gewesen, die man aber nicht untermauern konnte, so Kretzer vor dem PUA. Dass in unmittelbarer Nähe der Probsteigasse 1933 der SA-Mann Walter Spangenberg von Kommunisten erschossen wurde, war dem LKA nicht bekannt. Spangenberg wird von Neonazis als „Blutzeuge“ verehrt und ist Namenspatron der Kölner Kameradschaft.
Die Spur zum V-Mann
Im Februar 2012 befasste sich das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Phantombild des Bombenlegers und glaubte, eine Ähnlichkeit mit einem Mitglied eben jener Kameradschaft Walter Spangenberg aus Köln erkennen zu können. Das BfV informierte den NRW-Verfassungsschutz, wo die Person als Johann H., damals stellvertretender Kameradschaftsführer, identifiziert wurde. Am nächsten Tag wurde im Namen der damaligen VS-Leiterin Mathilde Koller (Amtszeit 2009-2012) eine „Dienstliche Erklärung“ an den Generalbundesanwalt (GBA) verfasst, in der die Personalien von H. aufgeführt wurden. Unterzeichnet wurde die Erklärung von Burkhard Schnieder, Gruppenleiter beim VS und damals Vertreter der Abteilungsleiterin Koller. In der Erklärung hieß es auch: „Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung bestehen nicht.“ Schnieder wurde vor dem Ausschuss gefragt, auf welcher Grundlage diese Aussage getroffen wurde. Seine Antwort: „Durch Aktenrecherche“. Nachfrage: „Das haben Sie alles innerhalb eines Tages gemacht?“ Antwort: „Ja, die Aktenrecherche und die Internetrecherche.“
Mathilde Koller äußerte sich in ihrer Vernehmung konkreter: „Nachdem diese Geschichte mit dem Phantombild aufkam, hat natürlich der zuständige Verantwortliche für diese Person mit ihm Kontakt aufgenommen.“ Bei H. habe es sich um eine Person gehandelt, die in einem „besonderen Vertrauensverhältnis“ zu der Behörde stand, so Koller. Johann H. war ein V-Mann - wie aus einer weiteren, von der „Welt am Sonntag“ zitierten, geheim eingestuften Erklärung Kollers vom 15. Februar 2012 hervorgeht, war er seit 1989 als Spitzel tätig. „Die Leute, die diese Person geführt haben, haben mir versichert, dass er eigentlich kein Rechtsextremist ist und dass er im Grunde nur im Auftrag von uns die Szene ausforscht“, so Koller vor dem PUA. Damals sei „die Meinung des Hauses, also des Fachbereichs“ gewesen, „der hatte damit nichts zu tun.“
Schnieder überbrachte die erste „Dienstliche Erklärung“ persönlich zum GBA nach Karlsruhe. Dort will er dann alles Weitere mündlich unterbreitet haben, auch, dass H. ein V-Mann seiner Behörde sei. Im weiteren Verlauf übersandte der Verfassungsschutz Fotos der Person, darunter auch ein Bild, das ihn in einer Gruppe stehend zeigt. Ein Ausschnitt dieses Fotos wird das Bundeskriminalamt (BKA) später den Augenzeug_innen vorlegen.
Das BKA klärt ab...
Mit der Abklärung der „Spur H.“ war dort 2012 die damals 22-jährige Beamtin Annika Voggenreiter beauftragt worden, die erst im Vorjahr ihre Ausbildung beendet hatte. Die Zeugin machte vor dem Ausschuss einen eingeschüchterten Eindruck, immer wieder suchte sie Blickkontakt mit einem mitgereisten BKA-Vertreter. Voggenreiter vernahm den Vater und die Schwester der Geschädigten, die 2000 den Bombenleger gesehen hatten. Auf Fotos konnten sie Mundlos oder Böhnhardt nicht als Täter erkennen, so Voggenreiter. Die Zeugen_innen hätten das am „Gesamteindruck“ festgemacht. Um den Verdacht gegenüber Johann H. abzuklären, wurden beim BKA zwei Wahllichtbildvorlagen erstellt, die eine zeigte Porträtfotos, die andere Ganzkörperaufnahmen.
Die Beschaffenheit dieser Vorlagen wurde von den Abgeordneten kritisiert. So besorgte sich das BKA ein Passbild von H., das ihn mit kurzen Haaren und einem Dreitage-Bart zeigt. Dieses Passbild wurde dann mit langen Haaren, ähnlich der Zeichnung des Phantombilds, versehen. Bei einer Wahllichtbildvorlage wird der Zeugin nicht nur ein Bild des Verdächtigen gezeigt, sondern dieses in eine Sammlung weiterer Fotos ähnlich aussehender Personen gemischt. Im konkreten Falle enthielt die Vorlage neben dem Foto von Johann H. vor allem Fotos mutmaßlicher NSU-Mitglieder und -Unterstützer. Bei allen Personen wurden die Frisuren verändert, so dass sie lange Haare ähnlich dem Phantombild trugen. Den Bart bei H. hingegen retuschierte man nicht weg, obwohl der Bombenleger keinen Bart getragen haben soll. Warum überhaupt das Passfoto von H. und nicht ein Foto von ihm mit langen Haaren genutzt wurde, blieb unklar.
Bei der Ganzkörperaufnahme griff das BKA auf das vom VS zur Verfügung gestellte Foto zurück. Auf die Frage, ob dieses ein qualitativ gutes Bild war, erwiderte Voggenreiter: „Das Bild war natürlich sehr schlecht. Aber es war nun mal das einzige Ganzkörperbild, was zu diesem Zeitpunkt vorlag. Daher haben wir das einfach in die Vorlage integriert. Mir ist klar, dass das nicht optimal war aufgrund der unterschiedlichen Qualitäten und Hintergründe – aber wir haben das halt einfach mit aufnehmen wollen.“ Sie versuchte nicht, ein besseres Foto zu besorgen, denn „hätte eins vorgelegen, hätten wir das auch bekommen.“ Wie groß H. sei, wisse sie nicht. Wie man anhand dieses Fotos denn die Größe erkennen könne? Die Beamtin antwortete: „Das ist schwierig, eine Aussage über die Größe zu machen. Allerdings hat die Zeugin auch nur gesagt, 'Er wirkt klein.'“ Trotzdem schrieb Voggenreiter nach der Vorlage der Fotos einen Vermerk, in dem sie feststellte, die Zeugin habe H. aufgrund „seiner kleinen Statur“ als Täter ausgeschlossen.
Zwar fand sie noch heraus, dass H. 1985 wegen eines Sprengstoffdeliktes eine Jugendstrafe erhielt, diese Information hatte der VS nicht übersandt, weitere Ermittlungen oder eine Vernehmung von H. führte sie nicht mehr durch. In ihrem Abschlussbericht vom September 2012 zur Probsteigasse wurde die „Spur H.“ gar nicht erwähnt. Damit konfrontiert geriet die Zeugin ins Stottern und erklärte, sie habe die Spur nicht erwähnt, weil sie noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Sie selbst habe dann die BAO Trio im September 2012 verlassen: „Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Es ist nichts unter den Tisch gefallen. Die Inhalte wurden alle vermittelt.“ Sie habe mit dem Kollegen darüber gesprochen. Die Vernehmung wurde schließlich von den Abgeordneten abgebrochen, nachdem sie den Namen ihres Vorgesetzten nennen musste.
„Upps - die Pannenshow“
Zurück ins Jahr 2001. Als die Bombe in der Probsteigasse detonierte, wurde wie in solchen Fällen üblich eine so genannte WE-Meldung erstellt, die das Innenministerium und die verschiedenen Behörden zeitnah in Kenntnis über dieses „wichtige Ereignis“ (WE) setzen sollte. Doch nach Angaben des damaligen VS-Leiters Hartwig Möller soll der Anschlag nie beim Geheimdienst „angelandet“ sein. „Ich kann nur sagen, dass Sie zu diesem Vorgang in den Akten des Verfassungsschutzes nichts finden werden“, so Möller vor dem Bundestags-PUA. Burkhard Schnieder, 2012 mit dem Anschlag befasst, sagte dazu vor dem Landtag: „Es gab da eine WE-Meldung, aber die ist mir nicht bekannt.“ Er habe nachgehakt, ob sie vielleicht bei der Spionageabwehr aufgelaufen sei. „Die Antwort war nein. Mehr kann ich dazu nicht sagen“, so Schnieder. Gleichwohl ist bekannt, dass die Polizei Köln sich bei den VS-Ämtern nach dem politischen Hintergrund der Inhaber-Familie erkundigte, weil man an den iranischen Geheimdienst als möglichen Urheber des Anschlags dachte. Aber auch dazu soll es beim NRW-VS kein Aktenmaterial geben.
Hat der VS also den Anschlag übersehen? Eine andere mögliche Erklärung ist, dass vorhandenes Aktenmaterial vernichtet wurde. Frau Koller wollte dies auf Nachfrage hin zumindest nicht ausschließen. Sie war 2012 aber auch nicht sonderlich engagiert, die Vorgänge in der 2001 nicht von ihr geleiteten Abteilung aufzuklären. „Vergangenheitsbewältigung“ habe sie nicht betrieben, so Koller, zudem falle ihr nach drei Jahren die Erinnerung zunehmend schwer. Koller und Schnieder behaupteten, dass ihrer Behörde das Phantombild des Bombenlegers erst 2012 zugeleitet wurde. Obwohl es in den Medien abgedruckt war, will man es vorher nicht gesehen haben. Mit dieser, wenig glaubhaften, Behauptung des Verfassungsschutzes, den Anschlag in der Probsteigasse schlicht nicht wahrgenommen zu haben, wird die sich geradezu aufdrängende Frage abgewehrt, warum der Abteilung in den zehn Jahren, die zwischen Tat und NSU-Enttarnung verstrichen, die Ähnlichkeit des Phantombilds mit dem V-Mann niemandem aufgefallen ist. Einfach nur eine weitere Panne, so die Erklärung.
Kein Fall für den Staatsschutz
In den polizeilichen Ermittlungen 2001 spielte ein möglicher rassistischer Hintergrund keine Rolle. Der damalige Ermittlungsleiter, Edgar Mittler, sagte aus, er habe den Staatsschutz-Kolleg_innen direkt eine Zweitakte zur Prüfung zukommen lassen, aber weder von ihnen noch vom VS sei ein Hinweis gekommen. Beim Kölner Staatsschutz war aber der Leiter des Kommissariats für „Rechts- und Linksextremismus“, Günter Gebert, gar nicht in die Ermittlungen eingebunden, wie er vor dem PUA versicherte. Vielleicht sei der Fall bei seinem verstorbenen Vorgesetzten oder dem Kollegen vom Kommissariat für „Ausländerextremismus“ gelandet. Er machte auch deutlich, dass er der Neonazi-Szene in Köln damals terroristische Taten nicht zutraute.
Nicht nachvollziehbar ist, warum weder die Ermittlungskommission „Probst“ noch der Staatsschutz eine Verbindung zu drei 1992 und 1993 in Köln verübten Bombenanschlägen zog. Am 21. Dezember 1992 wurde vor der Wohnungstür einer türkischen Familie in Köln-Ehrenfeld ein als Weihnachtsgeschenk verpacktes Paket abgelegt. Beim Öffnen des Pakets explodierte glücklicherweise nur der Abreißzünder der Bombe, die 5 Liter Benzin zündeten nicht. Zwei Familienmitglieder erlitten Verbrennungen. Ein Polizeisprecher sagte damals der Lokalzeitung: „Wenn der eigentliche Brandsatz hochgegangen wäre, hätte es Tote gegeben.“ Schwer verletzt wurden auch zwei Männer, die im Februar und März 1993 auf der Straße einen Autostaubsauger und einen Winkelschleifer fanden. Als sie die Geräte an den Strom anschlossen, zündeten professionelle Sprengkapseln die TNT-Sprengsätze. Beide Sprengfallen waren in Vierteln abgelegt worden, in denen viele Migrant_innen wohnten.
Doch die Gemeinsamkeit der Taten - ein mögliches rassistisches Motiv - wurde bei der Polizei nicht gesehen. Übersehen wurden auch die frappierenden Ähnlichkeiten der 1992er Bombe – die perfide Tarnung als Geschenk, die Opferauswahl und der Ablagezeitpunkt kurz vor Weihnachten – mit der Sprengfalle in der Probsteigasse. Die Fälle seien ihm zwar bekannt, so Mittler, aber einen Zusammenhang sah er damals nicht. Auf einen Zusammenhang hätte ihn das LKA hinweisen müssen.
Während die LKA-Sprengstoffexperten vor dem PUA entschuldigend auf die unterschiedlichen Sprengmittel - in der Probsteigasse wurde Schwarzpulver benutzt - verwiesen, machte ein Vorhalt der Abgeordneten öffentlich bekannt, dass im März 1993 beim Verfassungsschutz ein interessanter Hinweis einging. So sollen Neonazis von der Nationalistischen Front im November 1992 in der Nähe von Bonn TNT erworben haben, auch ein Anschlag sei geplant gewesen. Doch der Verfassungsschutz notierte, obwohl die zwei TNT-Sprengfallen in Köln bereits explodiert waren: „Bisher ist kein schädigendes Ereignis eingetreten.“ Und offenbar leitete der VS die Information über den möglichen Sprengstoffkauf der Neonazis nicht an das LKA oder an die Kölner Polizei weiter. Die drei Anschläge sind weiterhin nicht aufgeklärt, die Täter_innen nicht ermittelt.
Einfach weitermachen
Der PUA offenbarte auch aufschlussreiche Einblicke in die V-Leute-Praxis in NRW: Manchmal müssten auch Führungspersonen aus der Neonazi-Szene angeworben werden, um Informationen aus den inneren Zirkeln zu erhalten, verteidigte sich Burkhard Schnieder. „Damals“ habe zudem eine andere Philosophie beim Verfassungsschutz geherrscht, in Einzelfällen habe man die „Steuerung von oben“ als Strategie der Befriedung angesehen. Doch ist diese Praxis wirklich Vergangenheit? Frau Koller versicherte, in dem Moment, in dem sie von der Vita des V-Manns H. erfuhr, „haben wir die Zusammenarbeit beendet.“ Der Anwalt von H. lässt hingegen verlautbaren, sein Mandant sei bis Anfang 2015 für den Verfassungsschutz tätig gewesen. Mathilde Koller ging im Juni 2012 frühzeitig in den Ruhestand, seitdem leitet Burkhard Freier den Geheimdienst. Irgendwann muss man sich dort also entschieden haben, den V-Mann H. wieder „anzuschalten“. Schließlich waren die BKA-Ermittler_innen ja zu dem gleichen Ergebnis gekommen, wie man selbst: „Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung bestehen nicht“.