„3:1 für Deutschland“

Der Polizistenmörder Michael Berger war Teil der Neonazi-Szene

Am 14. Juni 2000 erschoss Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizist\_innen, anschließend richtete er sich selbst. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags (PUA) befasste sich im April mit den Taten, die das Innenministerium nicht zu den rechtsmotivierten Morden zählt. Dabei wurde deutlich, dass sich die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht für Bergers Einbindung in die Neonazi-Szene interessierte – trotz drei toter Kolleg_innen, einem beim Täter aufgefundenen Waffenarsenal und Hinweisen auf Schießübungen mit Neonazis.
  1. Juni 2000, wenige Minuten vor 10 Uhr in Dortmund-Brackel. Der Besatzung eines Streifenwagens fällt ein silberner 3er BMW auf, dessen Fahrer nicht angeschnallt ist. Als sie das Auto stoppen und den Fahrer ansprechen, schießt dieser unvermittelt auf die beiden Beamt_innen. Thomas Goretzky verstirbt wenig später am Tatort. Seine Kollegin Nicole Hartmann hingegen überlebt die Schussverletzungen und kann Hinweise auf das Tatfahrzeug geben, sie wird 2012 im Alter von erst 37 Jahren einer Krankheit erliegen.

Der Täter flüchtet aus der Stadt. Eine halbe Stunde später trifft er in Waltrop auf einen weiteren Streifenwagen. Er eröffnet das Feuer und tötet die Polizist_innen Matthias Larisch von Woitowitz und Ivonne Hachtkemper. Nach einer Großfahndung entdeckt die Polizei gegen 16:30 Uhr den BMW in einem Waldstück bei Olfen. In dem Auto befindet sich die Leiche des Täters, der sich mit einem Kopfschuss umgebracht hat: Michael Berger, arbeitslos, 31 Jahre alt, am Morgen des Tattags aus dem Krankenhaus entlassen. Jetzt beginnen die Ermittlungen der Polizei Dortmund, die, das zeigte die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses, von allgemeiner Nachlässigkeit und Desinteresse an den Kontakten des Täters zur Neonazi-Szene geprägt sind.

Waffen und NS-Devotionalien

Bereits bei der Durchsuchung von Bergers PKW fanden die Ermittler_innen Hinweise auf eine neonazistische Gesinnung. An der Heckscheibe klebte ein Aufkleber mit dem Titel des Landser-Albums „Republik der Strolche“, am Handschuhfach prangte der SS-Spruch „Meine Ehre heißt Treue“, in Bergers Portemonnaie fand sich neben Kontaktdaten von Neonazis wie Sebastian Seemann auch ein Mitgliedsausweis der NPD.

In der Wohnung des 31-jährigen stellten die Ermittler_innen weitere Nazi-Devotionalien und einschlägige Literatur sicher. Im Auto und in der Wohnung befand sich zudem ein ganzes Waffenarsenal, bestehend aus scharfen Pistolen und Revolvern sowie einer Übungshandgranate. Wenige Tage später wurde in der Wohnung seiner Eltern sogar ein Sturmgewehr AK47 nebst Munition sichergestellt. Für keine dieser Waffen hatte Berger eine waffenrechtliche Erlaubnis.

Michael Schenk, der damalige Leiter der mit den Ermittlungen betrauten Mordkommission und spätere Ermittlungsleiter beim Mord an Mehmet Kubaşık, erklärte vor dem PUA, man habe mittels einer „Verkaufswegefeststellung“ herausfinden wollen, woher die Waffen stammten. Zeitweise habe man nach einem Waffenhändler aus Recklinghausen gesucht. Ohne Erfolg. Die Herkunft der Waffen blieb ungeklärt. Nach polizeilich bekannten Waffenhändlern mit rechter Gesinnung aus dem Bereich Dortmund, wie etwa Fred S., erkundigte sich Schenk nicht. Dass die Westfälische Rundschau damals berichtete, Berger habe Kontakt zum ehemaligen Kroatien-Söldner und Neonazi Michael K. gehabt, spielte in den Ermittlungen keine Rolle, obwohl es sich bei Bergers AK47 um ein jugoslawisches Fabrikat handelte.

Auch der gegenüber der Polizei geäußerte Hinweis eines Zeugen aus der rechten Szene, Berger habe ihm eine Waffe zum Kauf angeboten, zog keine Ermittlungen nach sich. Einzig, nach dem Hinweis von Sebastian Seemann, er habe gemeinsam mit Berger Schießübungen an der Lippe durchgeführt, suchte man den Ort auf und fand die Angaben bestätigt. Aber die naheliegende Frage, mit wie vielen anderen Neonazis der Mörder ebenfalls Schießübungen machte, stellte sich die Mordkommission nicht. Auch die Fragen, ob Berger womöglich die Neonazi-Szene mit Waffen versorgte oder ob es weitere, ähnlich schwer bewaffnete Neonazis in Dortmund gab, lagen nicht im Interesse der Mordkommission. Ermittlungen zur rechten Szene habe man nicht durchgeführt, erklärte Ermittlungsleiter Schenk. „Das ist Aufgabe des Staatsschutz gewesen.“ Informationen habe der Staatsschutz aber nicht geliefert.

Bergers Kontakte zur Neonazi-Szene

Dabei finden sich in den Ermittlungsakten zahlreiche Hinweise auf Bergers Kontakte zur lokalen Neonazi-Szene. Die Mordkommission ging ihnen aber nie systematisch nach. Über 20 Neonazis werden in den Akten erwähnt, mit denen Berger, den Schenk als „mehr oder weniger Einzelgänger“ bezeichnete, in Kontakt stand. Der Vergleich einer im Januar 2000 bei Pascal Zinn aufgefundenen Mitgliederliste des Nationalen Widerstands Ruhrgebiet mit Bergers Telefonbuch ergab eine Übereinstimmung von neun Personen. Auf der Liste tauchte Bergers Name nicht auf, gleichwohl fand sich sein Name auf einer ebenfalls bei Zinn aufgefundenen Telefonkette. Auf Bergers Einbindung in die Dortmunder Szene verweist auch seine Teilnahme an Kameradschaftsabenden in der Kneipe „Schützeneck“.

Die Mordkommission wollte Pascal Zinn, der damals nicht nur führend in der Kameradschaft sondern auch als Kreisvorsitzender der NPD tätig war, über Berger befragen. Als man ihn zuhause nicht antraf und auch auf dem Festnetz nicht erreichte, stellte die Polizei ihre Bemühungen ein. Eine Kontaktaufnahme auf Zinns Handy versuchte man gar nicht erst.

Auch Sabine B., sie kandidierte bei der Kommunalwahl 2009 für die NPD Dortmund und heiratete den NPD-Funktionär Martin M. wurde nicht vernommen, obwohl ein an Berger adressierter Briefumschlag mit ihrem Absender gefunden wurde. Ein ebenfalls in Bergers Wohnung sichergestelltes Foto zeigt Berger, Sabine B. und sechs weitere Neonazis vor einer Hakenkreuzfahne. Auf dem Foto legt Berger seinen Arm freundschaftlich um den Selmer Sven Oliver A. Auch mit ihm sprach die Polizei nicht über den Mörder.

Sven Oliver A. betätigte sich wenige Jahre später in den Reihen der Oidoxie Streetfighting Crew, ebenso wie der ebenfalls in den Berger-Ermittlungen auftauchende Falk Harry P., der später als Schlagzeuger bei Extressiv und Oidoxie spielte. P. gehörte zu einer Gruppe junger Neonazis, die sich am 22. Juni 2000 an der Stelle versammelten, wo sich Berger erschossen hatte. Die Versammlung findet sich zwar in den Spurenakten, weitere Ermittlungen dazu führte die Mordkommission aber nicht durch. Aus einem Vermerk des Verfassungsschutzes geht zudem hervor, dass P. auch am Rande der Trauerfeier für die getöteten Polizist_innen festgestellt wurde. Doch auch mit P. sprach die Polizei nicht. P. wie A. zählten 2000 zu einer Gruppe von Neonazis aus Selm, die sich zuerst Borker Terrorszene und dann Lippefront Bork nannte. Der gut zehn Jahre ältere Berger, der in Selm aufgewachsen war, wird auf die Jugendlichen aus der Kleinstadt sicherlich Eindruck gemacht haben.

Im Umfeld dieser Neonazi-Clique bewegte sich auch der vom PUA vernommene Zeuge Patrick Dittmann, Spitzname „Langer“. Der 37-Jährige war damals Mitglied der Kameradschaft Dortmund und ein enger Freund Bergers. Heute bezeichnet er sich als „Aussteiger“. Er bestätigte, dass Berger zur Kameradschaft zählte und berichtete, dass sie gemeinsam an einem großen Neonazi-Zeltlager bei Lünen oder Coesfeld teilgenommen hätten. Ob in der Dortmunder Kameradschaft über den bewaffneten Kampf gesprochen wurde, daran konnte sich der Zeuge – wie an so vieles – aber nicht erinnern. Über Combat 18 und Blood & Honour hätten damals aber „im Grunde alle“ gesprochen, es seien auch Hefte und Kopien über Combat 18 in der Szene kursiert.

Dittmann offenbarte erstaunliche „Erinnerungslücken“: Obwohl erder Polizei 2000 den entscheidenden Hinweis auf die AK47 gab, behauptete er im PUA, sich daran nicht erinnern zu können – ebenso wenig wie an irgendetwas anders, was mit Bergers Waffen oder Schießübungen zusammenhing. Überraschenderweise ließen die Abgeordneten den Zeugen mit seiner Verweigerungshaltung gewähren.

Keine Ermittlungen des Staatsschutzes

Mordkommissions-Leiter Schenk verwies bei allen Fragen zur Neonazi-Szene stets auf die Zuständigkeit des in die Ermittlungen eingebundenen Polizeilichen Staatsschutzes. Der Auftritt des damaligen Staatsschutz-Leiters Georg Anders vor dem PUA war allerdings eine Farce: Auf die Frage, was seine Abteilung im Fall Berger ermittelt habe, antwortete Anders, er könne sich gar nicht mehr erinnern, ihm würde selbst der Name nichts mehr sagen, hätte er ihn nicht vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen. Auf die meisten Fragen erwiderte er: „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Auch vorgehaltene Faxe und Vermerke, die unter anderem belegten, dass er sich im Fall Berger mit dem NRW-Verfassungsschutz austauschte, entlockten dem Zeugen keine Erinnerung. Schließlich platzte dem Vorsitzenden Sven Wolf der Kragen, er herrschte den pensionierten Polizisten an, er müsse zumindest versuchen, sich zu erinnern, und drohte ihm mit einem Ordnungsgeld. Das Aussageverhalten von Anders änderte sich dadurch jedoch nicht.

Auch der stellvertretende Leiter des Dortmunder Staatsschutzes, Heribert Seck, machte vor dem PUA immer wieder „Erinnerungslücken“ geltend, aber zumindest konnte er angeben, was der Staatsschutz alles nicht tat: Die aufgefundenen NS-Devotionalien waren kein Anlass für Ermittlungen zum politischen Hintergrund der Tat; die Kontakte Bergers zur Kameradschaft und zur Lippefront wurden nicht überprüft, ebenso wenigdie Identität der Neonazis auf dem bei Berger aufgefundenen Foto; es gab keine Ermittlungen in Richtung Neonazi-Szene, und schon gar nicht wurde die Tat in den Kontext des Rechtsterrorismus gestellt.

Ein politisches Motiv sehe er bei Berger nicht, so Seck vor dem PUA. Zu den von Dortmunder Neonazis verteilten Flugzetteln mit der Aufschrift: „Berger war ein Freund von uns. 3:1 für Deutschland“ konnte der Zeuge nur ausführen, dass die Staatsanwaltschaft die strafrechtliche Relevanz bewerten sollte. Was aus dem Verfahren geworden sei, wisse er nicht mehr.

Nach Secks Ansicht sei der Staatsschutz nur am Rande, etwa bei der Wohnungsdurchsuchung, involviert gewesen. Die Ermittlungen habe die Mordkommission verantwortet, eine Abklärung von Bergers Einbindung in die Neonazi-Szene sei Aufgabe des Verfassungsschutzes gewesen, so Seck. Dem Staatsschutz sei Berger vor den Morden gar nicht bekannt gewesen. Ein im PUA vernommener ehemaliger Staatsschutz-Beamter hatte einige Monate zuvor allerdings ausgesagt, er habe Berger bei einem Treffen im „Schützeneck“ festgestellt.

Die fehlende Zeugin

Drei Polizist_innen wurden ermordet, der Täter war ein Neonazi – doch der Staatsschutz zeigt keinerlei Engagement, die Hintergründe der Taten aufzuklären. Dieses an Arbeitsverweigerung grenzende Verhalten des Staatsschutzes ist nicht die einzige Merkwürdigkeit bei den Ermittlungen. Noch während die Polizei nach dem flüchtigen Mörder fahndete, vernahm sie dessen Eltern. Sie gaben Auskunft über das Leben ihres Sohnes und seine Probleme und erwähnten dabei auch zwei Ex-Freundinnen. Ihr Sohn soll die eine Frau einmal mit einem Polizisten im Bett erwischt haben. Die andere Frau mit Namen Claudia soll ihn vor kurzem noch in Dortmund besucht haben. Sogar eine Heirat sei im Gespräch gewesen, berichteten die Eltern.

Die Polizei machte daraufhin die erste Frau in Niedersachsen ausfindig, doch in ihrer Vernehmung stellte sich heraus, dass sie Berger nie mit einem Polizisten betrogen hatte, sondern vor der Beziehung zu Berger mit einem Polizisten liiert gewesen war. Ihre Beziehung Anfang der 1990er Jahre lag lange zurück. Die zweite Freundin, Claudia, die noch vor kurzem Kontakt mit Berger hatte, wurde hingegen nie von der Polizei vernommen. In den Akten findet sich eine falsche Schreibweise ihres Namens.

Über Michael Berger äußerte sie sich erstmals, nachdem der PUA sie ausfindig gemacht hatte. Sie charakterisierte Berger als „Waffennarr“ mit „ausländerfeindlicher Haltung“. Er habe große Mengen Alkohol getrunken und Antidepressiva genommen. Sie habe ihn nur verbal aggressiv erlebt und ihm eine solche Tat nicht zugetraut. Ihr letzter Kontakt zu Berger war ein kurzes Telefonat vor den Morden. Berger befand sich damals im Krankenhaus in Dortmund. „Ich habe nie erfahren, was im Krankenhaus passiert ist. Er wollte mich anrufen, wenn er entlassen ist, und ich wollte dann ja auch nach Dortmund fahren“, so die Zeugin. Auf die Frage, ob sie Anzeichen von suizidalen Tendenzen bemerkt habe, antwortete sie: „Er kommt aus dem Krankenhaus und geht los und erschießt Menschen. Das habe ich bis heute nicht verstanden.“

Was war Bergers Motiv?

Berger litt unter Depressionen, so viel steht fest. In Waltrop war er seit 1997 bei einem Therapeuten in Behandlung, als Akutpatient erschien er dort aber nur äußerst selten und nahm an keinen Psychotherapie-Sitzungen teil. Er kam nur, um sich Antidepressiva verschreiben zu lassen. Zuletzt ließ er sich Ende Mai 2000 eine Überweisung für die freiwillige stationäre Aufnahme in der Psychiatrie ausstellen, wo er nur einige Tage blieb. Die Psychiatrie stellte ihn dann in ein reguläres Krankenhaus über, am Entlassungstag verübte er die drei Morde. Dass Berger eine solch aggressive Tat begehen könnte, daran habe er damals nicht gedacht, so der Therapeut vor dem PUA. Auch für einen erweiterten Suizid, bei dem Fremde bzw. konkret Polizist_innen zum Opfer würden, habe es keine Anzeichen gegeben.

Was Berger letztendlich zu seinen Mordtaten trieb, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dass der Hintergrund seiner Taten ausschließlich in seiner psychischen Erkrankung liegt, dafür gibt es keine Belege. Die in den Medien kolportierte Erklärung, Berger habe einen Hass auf Polizisten entwickelt, weil seine Freundin ihn mit einem Polizisten betrogen hatte, ist nicht durch Fakten gestützt. Ebenso wenig gibt es aber Belege, dass Berger seine Taten im Vorfeld plante und als politische Morde verstanden wissen wollte.

Für die Ermittler war der Fall Berger schnell gelöst. „Der Tod schließt die Akten“, meinte der verantwortliche Staatsanwalt Heiko Artkämper dazu. Und Mordkommissions-Leiter Schenk bilanzierte: „Wir haben nachweisen können, dass Berger derjenige war, der die Kollegen erschossen hat, dass er als Täter in Frage kam und sich selber gerichtet hat. “ Auch das Motiv hätten sie „einigermaßen“ herausgearbeitet. Es könne „unter anderem“ in seiner Erkrankung oder in einer „Kurzschlussreaktion“ liegen.

War Berger ein Informant?

In der Neonazi-Szene kursiert seit Jahren das Gerücht, dass Berger ein V-Mann gewesen sein soll. Belege für diese Behauptung fand auch der PUA nicht. Der Zeuge Schenk sagte dazu: „Also ich weiß nicht. Es war gerüchteweise, dass er Spitzel sein sollte. Ich habe das nicht herausbekommen.“ Auch die ehemalige Freundin wusste nichts darüber. Sollte Berger als Zuträger der Polizei gearbeitet haben, dann ergibt das Verhalten des Staatsschutzes einen Sinn: dann hätte nicht bekannt werden dürfen, dass Polizist_innen von einem Informanten getötet wurden, folglich wäre es angezeigt gewesen, in Bezug auf die Person Berger bloß keinen Staub aufzuwirbeln.

Aber da es weder Belege noch überzeugende Indizien für eine V-Mann-Tätigkeit gibt, bleibt als Fazit vorerst festzuhalten, dass der Staatsschutz selbst im Angesicht von drei toten Kolleg_innen die Gefahr bewaffneter Neonazis in Dortmund ignorierte.

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