Robert Rutkowski

„Tief gespalten“

Die AfD in NRW

Nordrhein-Westfalen ist mit seinen 4.200 Mitgliedern der größte Landesverband der „Alternative für Deutschland“ und gilt als wichtige Machtbasis für Bundessprecherin Frauke Petry. Doch dem mit ihr politisch und privat verbandelten NRW-Vorsitzenden Marcus Pretzell weht ein kräftiger Gegenwind verschiedener Strömungen entgegen.

Nordrhein-Westfalen ist mit seinen 4.200 Mitgliedern der größte Landesverband der „Alternative für Deutschland“ und gilt als wichtige Machtbasis für Bundessprecherin Frauke Petry. Doch dem mit ihr politisch und privat verbandelten NRW-Vorsitzenden Marcus Pretzell weht ein kräftiger Gegenwind verschiedener Strömungen entgegen.

Fast konnte man sich an den Essener AfD-Bundesparteitag Mitte 2015 erinnert fühlen, als die Basis Bernd Lucke - bis dahin das Gesicht der Partei - niedergebuht und vom Hof gejagt hatte. Ein paar Monate später, Ende November 2016 in Rheda-Wiedenbrück, stand der NRW-Vorsitzende Marcus Pretzell am Rednerpult eines Landesparteitags und musste sich empörter Zwischenrufe und des höhnischen Gelächters aus dem Saal erwehren. So laut war es schließlich, dass er genervt den Versammlungsleiter bitten musste, für Ruhe zu sorgen. Ganz ähnlich war es Lucke im Jahr zuvor ergangen.

Beschädigter Spitzenkandidat

Anders als Lucke damals kam Pretzell an diesem Tag aber mit einem tiefblauen Auge davon. Ein Antrag, die komplette AfD-Liste zur Landtagswahl - Pretzell an der Spitze und danach fast nur Gefolgsleute - wieder abzuwählen, scheiterte. Zu verdanken hatte er das der Geschäftsordnung: Erforderlich gewesen wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Dieses Quorum wurde zwar verfehlt, doch die Abstimmung zeigte, dass die NRW-AfD in zwei ungefähr gleich große Lager gespalten ist, nach Einschätzung der meisten Beobachter jenes Parteitags mit einem leichten Übergewicht der Pretzell-Gegner. Das heißt auch: Die Partei zieht mit einer Liste in den Wahlkampf, die etwas mehr als die Hälfte ihrer Delegierten am liebsten wieder zurückgezogen hätte.

Politisch beschädigt worden war Pretzell bereits, als ihn die Delegierten bei einer ersten Landeswahlversammlung Anfang September zum Spitzenkandidaten gekürt hatten. Gerade einmal 54 Prozent stimmten für den 43-jährigen Europaabgeordneten, 44 Prozent für seinen öffentlich unbekannten Gegenkandidaten: den Mindener Thomas Röckemann. Pretzell setzte sich zwar durch. Doch gegen einen so blassen und rhetorisch um Klassen unterlegenen Konkurrenten nur etwas mehr als die Hälfte der Delegierten hinter sich zu haben, war faktisch eine Niederlage. „Von außen“ sei nach NRW hineingearbeitet worden, versuchte Pretzell sein dürres Ergebnis zu erklären. Man konnte ahnen, wen er meinte: vor allem Thüringens Landeschef Björn Höcke.

„Kultur des Verrats“

Die AfD sei in NRW „sehr tief gespalten“, hatte Röckemann in seiner Vorstellungsrede gesagt. Er „trete an, um diese Gräben zuzuschütten“. Dass er das bewerkstelligen könnte, mag man bezweifeln. Seine Zustandsbeschreibung passt aber. Das hatte sich vor, zwischen und bei den mittlerweile vier Wahlparteitagen mehr als einmal gezeigt.

Pretzells Gegner beklagten, dass ihre Anhänger bei der Wahl der Parteitagsdelegierten nicht zum Zuge gekommen oder mangels „Zuverlässigkeit“ sogar extra wieder abgewählt worden seien. Stattdessen habe es anonyme Kampagnen gegen sie gegeben. „In manchen 'NRW-Gliederungen' werde eine 'Kultur des Verrats' mit Diffamierungen, Verleumdungen und Abgrenzeritis von einigen wenigen willfährigen, unpolitischen, rückgratlosen und leistungsfernen Gesellen - Hetzern und Spaltern - zum 'Schaden der Partei' praktiziert“, wetterte Thomas Matzke, Kopf der „Patriotischen Plattform“ in NRW.

Doch nicht nur Pretzells Lager hatte dafür gesorgt, dass Delegierter nur werden konnte, wer stramm der richtigen Linie folgte. Wo die „Patriotische Plattform“ das Sagen hatte, konnte man ganz ähnlich rasch ins Aus geschossen werden. Pretzell-Anhänger Berengar Elsner von Gronow aus Soest, einer der beiden Vorsitzenden des AfD-Bundeskonvents, schimpfte: „Es offenbaren sich allerorten menschlich unschöne Charaktere, die nicht überzeugen wollen, sondern übernehmen.“ Glaubt man ihm, ließen die „Usurpatoren“,“Hasardeure“ und „Putschisten“ alle selbst in der AfD wohl üblichen Umgangsformen vermissen: „Es fallen Ausdrücke wie 'Volksverräter', 'Schädlinge'. Die, die nicht auf gewünschte Parteilinie gebracht werden können, sind keine 'Volksgenossen'. Vokabular aus düsteren deutschen Zeiten!“

Der Soester AfD-Funktionär lieferte einen seltenen Einblick, wie erbittert und rücksichtslos man sich im Kampf um Delegiertenposten bekriegte. Einer, der sich auch öffentlich kaum Zurückhaltung auferlegte, war sein Gegenspieler Matzke. Über den AfD-Landesverband notierte er: „Das Krebsgeschwür in NRW ist schon sehr tief gewandert - die Bezirke sind nahezu vollständig erkrankt, viele Kreise schon fast tot.“ Und, offenbar auf Pretzell gemünzt: „Der Fisch stinkt immer vom Kopf, d.h. die 'Führung' und die Strippenzieher, die von Hütchenspielern unterstützt werden, lähmen die wenigen Aktiven in der Partei.“ Matzkes Philippika gipfelte gar in einem NS-Vergleich: „Die Gleichschaltung der Partei in NRW soll nunmehr mit allen Mitteln durchgesetzt werden.““

Die Lage eskalierte weiter, als der Stern im November Auszüge eines WhatsApp-Protokolls veröffentlichte und später auch noch bekannt wurde, dass bei einer der Wahlen zur Landesliste fünf Stimmzettel nicht mitgezählt wurden. Vor allem das WhatsApp-Protokoll empörte viele in der Partei. Auf knapp 90 Seiten war dort nachzulesen, wie forsch und firm die Mitglieder jener Gruppe aus Pretzells Anhängerschaft - von Vorstandsmitgliedern über Mitarbeiter der Geschäftsstelle bis hin zu regionalen Funktionären - bei der Steuerung von Parteitagen agierten.

Kampf gegen Petry

Die Pretzell-Anhänger in NRW waren dumm genug, sich erwischen zu lassen. Sie waren aber nicht die einzigen. Mittlerweile wurden parteiintern weitere WhatsApp-Protokolle bekannt. Darunter mindestens eines von Pretzells Gegnern. Man muss die Texte nicht gelesen haben, um zu ahnen: In einer Partei, die sich zu großen Teilen aus „wutbürgerlichem“ Hass auf Merkel, Maas, „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ speist, ist es nur ein sehr kleiner Schritt, bis sich dieser Hass mit gleicher Verve gegen die richtet, die gestern noch „Parteifreund“ waren.

Der Streit in NRW ist ein landesspezifischer. Doch er ist viel mehr: Wer Pretzell schlägt, trifft stets auch Frauke Petry, für die - abgesehen von der privaten Verbindung der beiden - der größte Landesverband mit seinen mehr als 4.200 Mitgliedern ihre (nach Sachsen) zweitwichtigste Machtbasis ist (oder zumindest war). Fiele einer von beiden, würde auch die politische Halbwertszeit des anderen rapide sinken.

Im Fall NRW mischten zwei Petry-Gegner, Parteivize Alexander Gauland und „Flügel“-Vormann Höcke, kräftig mit. Kaum war die erste Stern-Veröffentlichung auf dem Markt, wetterten sie, die Berichte würden „das Bild eines tief gespaltenen Landesverbandes und eines Machtkampfes“ zeigen. Eine „bestimmte Gruppe in der Partei“ arbeite „lieber mit Tricksereien, statt mit Argumenten zu überzeugen“, meinten sie und warnten vor einer „Instrumentalisierung der AfD für eigene Karriereziele“. Pretzell keilte zurück, nannte die Vorsitzenden aus Thüringen und Brandenburg indirekt „Spalter“. Höcke warf er - nun ganz offen - vor, er habe versucht, „Listenwahlen in NRW extern zu beeinflussen“.

Dass das Duo Petry & Pretzell selbst kräftig zur Radikalisierung der AfD beigetragen hat, nutzt den beiden inzwischen nichts mehr. Pretzells Plädoyer für eine AfD als „Auch-Pegida-Partei“; seine Äußerungen für einen Schusswaffengebrauch an den deutschen Grenzen, die Petry unfreiwillig schlagzeilenträchtig übernahm; Petrys Bemühen, den Begriff des Völkischen wieder zu rehabilitieren, die Annäherung beider an FPÖ und Front National: Alle Verneigungen nach ganz weit rechts können ihre Kritiker nicht ruhigstellen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Im heimischen NRW bemüht sich Pretzell um ein betont seriöses Auftreten. Das von ihm gelobte Programm zur Landtagswahl etwa ist nach AfD-Maßstäben vergleichsweise „gemäßigt“ ausgefallen. Die taktische Zurückhaltung missfällt seinen Gegnern. Sie fragen sich zum Beispiel, mit welcher Berechtigung jemand, der Mal um Mal mit der FN-Chefin Marine Le Pen auftritt, zu Hause rigide gegen einen AfDler vorgeht, der sich in seinem Stadtrat mit einem ehemaligen pro NRW-Funktionär zusammengetan hat.

Vier Gruppen gegen Pretzell

Dabei profitiert Pretzell davon, dass seine Gegner keinen geschlossenen Block bilden. Aus mindestens vier Gruppen spürt er Gegenwind - wobei die Übergänge fließend sind und sich die Gruppen zuweilen auch untereinander beharken. Da sind die Anhänger der „Patriotischen Plattform“, deren NRW-Vormann Matzke freilich mit seinem Verbalradikalismus häufig die eigene Klientel verschreckt. Eine zweite Gruppe orientiert sich an Höckes völkisch-nationalistischer Plattform „Der Flügel“. Gegen Pretzell agiert auch jener Teil der Partei, der sich an seinen Ko-Vorsitzenden Martin Renner hält. Stramm nach rechts geht’s auch mit ihm, doch ohne das Völkisch-Dröhnende eines Björn Höcke.

Die vierte Gruppe bilden Mitglieder, die Pretzells Kurs nicht rundweg ablehnen, wohl aber seinen Stil. Sie sehen den AfD-typischen Anspruch, anders sein zu wollen als die „Altparteien“ unter die Räder gekommen angesichts der ausgeprägten Karriere- und Machtorientierung ihres Landeschefs.

In anderen Bundesländern hat es die AfD gelernt, über die Grenzen ihrer Flügel, Lager, Gruppen und Grüppchen irgendwie zu kooperieren. Dort vermitteln Ko-Vorsitzende zumindest den Eindruck, sie würde zusammenarbeiten. Nicht so in NRW. Dort befehden sich die Lager nach Herzenslust. Und die beiden Landeschefs agieren erkennbar höchstens nebeneinander und nicht selten sogar gegeneinander.

Zwei Kulturen prallen an der Spitze der NRW-AfD aufeinander. Bei einem Landesparteitag Mitte 2016 in Werl war es, als Renner zur Begrüßung der Delegierten ansetzte. Es wurde eine Abrechnung mit Pretzell & Petry, verkleidet in die Form von Mahnungen. Ohne dass er das Duo beim Namen nannte, erklärte Renner: „Wir von der AfD überziehen unsere Kollegen und Mit-Mitglieder nicht mit denselben Attacken und Vorwürfen, mit denen uns unsere politischen Gegner regelmäßig konfrontieren“ - ein Angriff auf Versuche von Petry & Pretzell, die Partei zumindest verbal nach rechts deutlicher abzugrenzen. Der Europaabgeordnete Pretzell musste sich sagen lassen: „Wir von der AfD entsenden Abgeordnete in das EU-Parlament, damit sie dort nicht an den kleinen Schräubchen der Prozesse mitfummeln sollen, sondern 'in hervorgehobener Position' dieses EU-Konstrukt als das markieren, was es ist. Ein die nationalen Identitäten zerstörendes Projekt.“ Zum Auftritt von Petry & Pretzell beim Bundespresseball fiel Renner ein: „Schon gar nicht nehmen wir AfDler an Festivitäten teil, an dem dieser scheinheilige Machtpopanz dann sich und seinen abgehobenen 'Elitismus' feiert. Pressebälle besuchen wir nicht, sondern dekuvrieren diese als scheinelitäre Lustbarkeiten der Bediensteten der temporären politischen und wirtschaftlichen Macht.“ Dass einer von zwei Vorsitzenden dem anderen vor Publikum derart ungeschminkt sagt, wie wenig er von ihm hält, war selbst für AfD-Verhältnisse ein Novum.

Erfolgreich trotz Streit?

Zum Jahreswechsel 2016/2017 diskutiert die Landes-AfD über eine von Pretzell-Gegnern gestartete „Mitglieder-Initiative“. Unter dem Motto „Basis wehrt sich“ wird ein Sonderparteitag zur Abwahl der Kandidatenliste gefordert. Ob es dazu kommt, ist offen. Für einen Abgesang auf die AfD ist es freilich zu früh. Bisher hat die Partei alle ihre Krisen überstanden. Aus der Abspaltung des Lucke-Flügels Mitte 2015 ging sie sogar gestärkt hervor. Und der Zustand der Partei scheint auch nicht das ausschlaggebende Moment für die Zustimmung bei den Wählerinnen und Wählern zu sein: Als sich Baden-Württembergs AfD in diesem Sommer bis hin zur Fraktionsspaltung zerstritten hatte, attestierten die Meinungsforscher ihr bei der nächsten Umfrage 17 Prozent, zwei Prozent mehr als bei der Landtagswahl.