Protestaktion der VVN/BdA vor dem lettischen Konsulat in Düsseldorf
Report-D

„Freiheitskämpfer“ in Riga

Die Rechte und die Kollaborateurstradition in Lettland

Gebrechlich sind sie geworden, die alten Männer, die am 16. März 2017 unter wehenden rot-weiß-roten Fahnen vor dem lettischen Nationaldenkmal im Herzen von Riga stehen. Wie jedes Jahr haben sie sich an der lutherischen Johanniskirche in der Altstadt getroffen, um von dort in einer Art Prozession, angeführt von einem Pfarrer und mehreren Fahnenträgern mit der lettischen Nationalflagge, bis zu dem Denkmal zu ziehen und dort ihrer im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Kameraden zu gedenken. Sie sind die letzten noch lebenden Soldaten der lettischen Waffen-SS.

72 Jahre nach Kriegsende sind sie nicht mehr viele, und ihr „Marsch der Legionäre“ sähe wohl ziemlich kläglich aus, würden nicht zahlreiche Freunde, Unterstützer und Anhänger sie, alte Lieder singend, durch die Gassen und Straßen der lettischen Hauptstadt begleiten. Alles in allem nehmen rund 2.000 Personen an dem Marsch zum ehrenden Gedenken an die lettischen NS-Kollaborateure teil, darunter junge Faschisten aus Polen und der Ukraine; viele weitere schauen wohlwollend zu. Für ein kleines Land wie Lettland, das nur knapp zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, ist das eine ganze Menge; und in der Tat: Die Erinnerung an die lettische Waffen-SS ist dort keineswegs unpopulär.

Lettland ist eines derjenigen Länder Ost- und Südosteuropas, in denen völkischer Nationalismus heute wieder prägend ist; er reicht bis in die Grundstrukturen der lettischen Staatlichkeit. Lettland ist zudem eines der Länder, in denen NS-Kollaborateure wieder öffentlich verehrt werden. Beides ist kein Zufall; es hat damit zu tun, dass die alten Kollaborateure, die einst an der Seite der Nazis gegen die Sowjetunion kämpften und sich am deutschen Judenmord beteiligten, im Kalten Krieg im Westen überwintern konnten. Um 1990 kehrten so manche von ihnen nicht nur in ihre alte Heimat zurück; sie waren auch in der Lage, das politische Klima dort nicht unmaßgeblich zu beeinflussen. Dass in Lettland eine Partei der extremen Rechten seit Jahren an der Regierung beteiligt ist und ein prominentes Mitglied dieser Partei inzwischen sogar mit der ungarischen Jobbik kooperiert, das passt zur politischen Grundströmung im Land.

Der Holocaust in Lettland

Die NS-Kollaboration in Lettland ist stark gewesen. Als die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und in das Land einmarschierte, wurde sie von vielen begeistert begrüßt. Der antisemitische Terror, mit dem die Deutschen das gesamte Baltikum sofort überzogen, traf ebenfalls bei vielen Lettinnen und Letten zumindest auf Verständnis, wenn nicht sogar auf Sympathie: Antisemitismus war verbreitet, die Aussicht auf ein „ethnisch reines“ Lettland kam gut an. Viele waren zudem erfreut, als die NS-Besatzer ihnen die Gelegenheit boten, sich am Hab und Gut ihrer jüdischen Nachbarn zu bereichern; man müsse „von einem Bündnis zwischen den Deutschen und einem Teil der lettischen Bevölkerung beim Raub des jüdischen Eigentums“ sprechen, schreibt die Historikerin Katrin Reichelt in einer Untersuchung über die lettische NS-Kollaboration. Lettische Antisemiten wie der „Selbstschutz“, Einheiten der Hilfspolizei oder das berüchtigte „Kommando Arājs“ beteiligten sich darüber hinaus am Holocaust. Viktors Arājs, ein ehemaliger Jurastudent, Mitglied der Rigaer Studentenverbindung Lettonia, hatte das Kommando gegründet, um die Deutschen zu unterstützen; die Organisation, die zunächst 200, später bis zu 1.200 Mitglieder zählte, wird für annähernd 30.000 Morde an lettischen Jüdinnen und Juden verantwortlich gemacht.

Von den rund 70.000 Jüdinnen und Juden, die beim Einmarsch der Wehrmacht noch in Lettland lebten, wurden fast alle ermordet, zusätzlich noch rund 20.000, die aus dem Deutschen Reich nach Riga verschleppt worden waren. Knapp 1.000 lettische Jüdinnen und Juden überlebten in deutschen Lagern, rund 150 in Verstecken bei nichtjüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, einige Dutzend als Partisaninnen und Partisanen.

In den Jahren 1943 und 1944 sind aus Kollaborateuren, teilweise aber auch aus zwangsrekrutierten Letten zwei Waffen-SS-Einheiten gegründet worden, die an der Seite der Deutschen in den Krieg gegen die Sowjetunion zogen. Die Zahl ihrer Soldaten wird auf bis zu 140.000 geschätzt. Bei einer Vorkriegsbevölkerung von insgesamt 1,9 Millionen Menschen, von denen man eigentlich noch die rund 94.000 Jüdinnen und Juden abziehen muss, die zum Zeitpunkt der Zählung noch in Lettland lebten, ist das eine äußerst hohe Zahl. Bis zu 50.000 lettische Waffen-SS-Männer kamen im Krieg oder in sowjetischer Gefangenschaft zu Tode; von den Überlebenden flohen, als die Rote Arme vorrückte, nicht wenige nach Westen, unter anderem in die spätere Bundesrepublik.

Lettische Displaced Persons, zu denen auch zahlreiche geflohene NS-Kollaborateure gehörten, gründeten Einrichtungen wie das Lettische Gymnasium Münster, in dem Lettisch als Unterrichtssprache zugelassen war, damit der Nachwuchs im Exil lettische Traditionen bewahren konnte. In einem Displaced-Persons-Lager in Belgien schlossen sich lettische Waffen-SS-Veteranen Ende Dezember 1945 zu der Organisation Daugavas Vanagi („Habichte der Düna“) zusammen. Daugavas Vanagi gibt es bis heute.

Die „Habichte der Düna“

Das wiederum liegt daran, dass Daugavas Vanagi sich als Hilfsorganisation für ehemalige Soldaten der lettischen Waffen-SS erfolgreich etablieren konnte, und zwar nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Nordamerika, in Kanada und vor allem in den USA; dorthin waren viele lettische NS-Kollaborateure bald nach dem Zweiten Weltkrieg übergesiedelt. Der US-Publizist Christopher Simpson hat Ende der 1980er Jahre festgestellt, dass einige Führungsfiguren von Daugavas Vanagi — alte Waffen-SS’ler also — sich nicht nur in Verbänden wie der American Latvian Association oder dem CIA-finanzierten Committee for a Free Latvia erheblichen Einfluss hatten sichern können, sondern dass manche sogar direkt von der CIA gefördert wurden. Wieso? Es ging darum, das lettische Exil — ganz wie die Emigration aus anderen Ländern Ost- und Südosteuropas — zu nutzen, um im Kalten Krieg politischen Druck auf die realsozialistischen Staaten auszuüben.

Kollaborationsvergangenheiten standen dem nicht im Wege. So fand Simpson heraus, dass die CIA beispielsweise Vilis Hāzners förderte, einen SS-Veteranen, der für Massenmorde an Juden in Riga verantwortlich gemacht wurde, der aber in den USA zeitweise das Committee for a Free Latvia leitete — und Mitglied des US-Ablegers von Daugavas Vanagi war. Von der CIA unterstützt wurde laut Simpson auch der Daugavas Vanagi-Aktivist Boļeslavs Maikovskis. Der Mann, der im deutsch besetzten Lettland als Polizeifunktionär gearbeitet hatte, betätigte sich in den USA in lettischen Exilorganisationen sowie im Umfeld der Republikanischen Partei. Wegen seiner Kollaborationsverbrechen schließlich doch noch vor Gericht gestellt — ihm wird die Beteiligung am Mord an 170 lettischen Juden zugeschrieben –, floh er 1987 in die Bundesrepublik. Dort wurde der Prozess gegen ihn 1994 eingestellt: Er sei verhandlungsunfähig, hieß es.

Daugavas Vanagi hat in den 1950er Jahren begonnen, im lettischen Exil einen Gedenktag zu Ehren der Waffen-SS zu begehen, und zwar jedes Jahr am 16. März; das ist der Jahrestag einer Schlacht aus dem Jahr 1944, bei der die beiden lettischen Waffen-SS-Divisionen gemeinsam eine Anhöhe an der Welikaja, einem Fluss im heutigen Russland, gegen die anstürmende Rote Armee zu verteidigen suchten. In den Umbrüchen um 1990 ist Daugavas Vanagi nach Lettland heimgekehrt — und hat den „Marsch der Legionäre“, das Exilgedenken zur Ehrung der lettischen Waffen-SS am 16. März, dorthin mitgebracht. Bis heute organisiert der Waffen-SS-Traditionsverein die Zeremonie. Und er fährt gut damit. Wieso? Nun, Lettland hat sich 1990/91 nicht nur aus der Sowjetunion gelöst; es hat auch alles Mögliche abgeschüttelt, was man mit der Sowjetunion verband, und dazu gehörte die sowjetische Geschichtsschreibung. An deren Stelle ist das getreten, was es als Alternative gab — im Wesentlichen die Geschichtsschreibung, die lettische Exilhistoriker meist an nordamerikanischen Universitäten entwickelt hatten. Dort gab und gibt es durchaus unterschiedliche Lesarten der lettischen Geschichte; doch eines fällt auf: Der lettische Nationalismus, ja sogar die lettische NS-Kollaboration — das alles kommt, wohl wegen einschlägiger Biographien einflussreicher lettischer Exilpersönlichkeiten, im Durchschnitt erstaunlich gut weg.

Ethno-Staatsbürgerschaft

So war im Exil — auch, aber keinesfalls nur bei Organisationen wie Daugavas Vanagi — die Behauptung verbreitet, die lettischen Waffen-SS-Soldaten seien „Freiheitskämpfer“ gewesen; es sei ihnen bei all ihren Aktivitäten nur um die „Befreiung“ Lettlands von der sowjetischen Herrschaft gegangen. Diese Einstufung hat sich für die lettischen Waffen-SS’ler nach 1990 in Lettland selbst stark durchgesetzt; man findet sie zum Beispiel im offiziösen Rigaer „Okkupationsmuseum“. Parallele Auffassungen gibt es heute auch in anderen ost- und südosteuropäischen Ländern, etwa in der Ukraine, wo die NS-Kollaborateure von der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) von vielen als angebliche „Freiheitskämpfer“ verherrlicht werden. In Lettland fand der 16. März als Gedenktag zur Erinnerung an die Soldaten der lettischen Waffen-SS entsprechend rasch breite Anerkennung und wurde 1998 sogar offiziell zum staatlichen Gedenktag erklärt, wenngleich dieser Schritt wegen massiven Drucks aus dem Ausland nach zwei Jahren wieder rückgängig gemacht werden musste. Viele bedauern das; im Jahr 2016 ist die Latvijas Universitāte in Riga in einer Umfrage zu dem Ergebnis gekommen, dass rund die Hälfte aller ethnischen Letten den 16. März gern wieder als offiziellen staatlichen Gedenktag zur Ehrung der „Freiheitskämpfer“ sähen.

Ethnische Letten? Laut der Rechtsposition des 1990/91 neugegründeten lettischen Staates ist keineswegs jeder und jede, die in Lettland geboren wurde, auch lettische Bürgerin. Lettland gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Umbrüchen des Jahres 1990/91 zur Sowjetunion. Das hatte zur Folge, dass es einen spürbaren Wechsel in der Zusammensetzung der Bevölkerung gab: Man zog innerhalb der Sowjetunion um, heiratete, gründete Familien, und die wenigsten interessierten sich dabei für die vermeintliche ethnische Abstammung ihrer Liebsten, umso weniger, als etwa Riga ohnehin eine reiche Tradition der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität besaß. Als 1990/91 der lettische Staat neugegründet wurde, stellte sich die Frage, wer denn nun alles die lettische Staatsbürgerschaft erhalten sollte. Damals setzte sich nicht die Option durch, die Staatsbürgerschaft einfach allen zu verleihen, die auf lettischem Territorium lebten; es gewannen — unter dem Einfluss des alten lettischen Nationalismus — diejenigen Kräfte die Oberhand, die dafür plädierten, unmittelbar an den lettischen Staat der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen. Das bedeutete: Alle, die glaubhaft machen konnten, dass ihre Vorfahren bereits vor dem Zweiten Weltkrieg auf lettischem Territorium gelebt hatten, konnten Bürger oder Bürgerin des neuen Lettlands werden, darunter viele, die im Exil geboren worden waren und das Land ihrer Vorfahren nie gesehen hatten. Alle anderen aber, die in der sowjetischen Ära ihren Wohnsitz in die Lettische SSR verlegt hatten, blieben ausgeschlossen.

Dieser — völkische — Grundsatz ist seither die Basis des lettischen Staatsbürgerschaftsrechts. Er führt dazu, dass bis heute eine Viertelmillion Einwohnerinnen und Einwohner Lettlands, darunter auch solche, die erst nach 1991 geboren wurden, die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Im EU-Mitglied Lettland ist daher ein Achtel der Bevölkerung staatenlos, hat keine Bürgerrechte, darf zum Beispiel — anders als EU-BürgerInnen, die sich etwa zum Studium in Lettland aufhalten — nicht einmal kommunal wählen.

Vaterland und Freiheit

Staatlich verankerter völkischer Nationalismus, eine dominante Geschichtsschreibung, die NS-Kollaborateure als „Freiheitskämpfer“ ehrt — das ist ein Nährboden, der für die Rechte, auch für die extreme Rechte, überaus günstig ist. Heute äußert sich das zum Beispiel darin, dass eine Partei der äußersten Rechten stark und sogar Teil des lettischen Establishments ist: die Nationale Allianz. Politiker der Partei, darunter auch Parlamentsabgeordnete, haben im Laufe der Jahre immer wieder am Rigaer Waffen-SS-Aufmarsch zum 16. März teilgenommen; die Organisation, die gern als ultranationalistisch, manchmal auch als rechtspopulistisch bezeichnet wird, hat enge Bindungen zu dem nach Lettland heimgekehrten Waffen-SS-Traditionsverein Daugavas Vanagi. Sie hat eine verwickelte Entstehungsgeschichte, die auf die Spaltungen der lettischen Rechten zurückzuführen ist.

Eine ihrer Wurzeln ist die Partei Tēvzemei un Brīvībai/LNNK („Vaterland und Freiheit“/LNNK), die ihrerseits 1997 aus unterschiedlichen kleineren Gruppierungen gegründet wurde; diese gingen vor allem auf den nationalistischen Untergrund in der Lettischen SSR Ende der 1980er Jahre zurück, der — politisch ähnlich orientiert wie das Exil — in der Sowjetunion überwintern konnte und ab 1990 vom Exil politisch, ideologisch und finanziell kräftigst gefüttert wurde. Aus deutscher Perspektive könnte man erwähnen, dass in der LNNK (Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība, „Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“) eine Zeitlang Joachim Siegerist tätig war, ein ehemaliger Aktivist der rechts der Unionsparteien angesiedelten Kleinorganisation Die Deutschen Konservativen; Siegerist hatte einen lettischen Waffen-SS-Veteran zum Vater, konnte deshalb die lettische Staatsbürgerschaft erlangen, zog 1993 für die LNNK in das Parlament, die Saeima, ein, zerstritt sich dann aber mit seiner Partei und verlor nach einigen Jährchen die Lust an der lettischen Politik. Tēvzemei un Brīvībai/LNNK tat sich dann im Jahr 2010 mit der als Jugendorganisation gegründeten, kleinen, aber heftigen Visu Latvijai! („Alles für Lettland!“) zur Nationalen Allianz zusammen. Visu Latvijai! hatte sich unter anderem dadurch einen Namen gemacht, dass sie gegen das Verbot von Hakenkreuzdarstellungen auf die Straße gegangen war.

Die Nationale Allianz, zu deren Doppelspitze bis heute der frühere Visu Latvijai!-Chef Raivis Dzintars gehört, ist erfolgreich; bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2014 erzielte sie 16,6 Prozent der Stimmen. Sie ist seit 2011 durchweg an den — unterschiedlichen — lettischen Regierungskoalitionen beteiligt gewesen; sie stellt Minister und weitere hochrangige FunktionsträgerInnen, unter anderem seit 2014 mit Ināra Mūrniece die Parlamentspräsidentin. Nach rechts kennt sie keinerlei Berührungsängste. Zuletzt bestätigte das der Fall Konstantīns Pupurs. Pupurs arbeitet im Rahmen einer extrem rechten Initiative aus Ost- und Südosteuropa, die sich die Angleichung der miserablen Löhne dort an das westeuropäische Wohlstandsniveau auf die Fahnen geschrieben hat, unter anderem mit der extrem rechten ungarischen Jobbik zusammen. Das gab jüngst ein wenig Ärger — aber nur deswegen, weil Jobbik Beziehungen nach Russland unterhält. Pupurs scheint’s nicht zu schaden: Die Rigaer Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) kündigte für den 23. März eine Diskussionsveranstaltung mit ihm an.

Bei alledem sollte nicht unerwähnt bleiben: Es gibt Menschen in Lettland, die sich der Rechten offen entgegenstellen; viele von ihnen gehören der russischsprachigen Minderheit an. Einige wenige gingen am 16. März mit Transparenten auf die Straße, um gegen den Waffen-SS-Aufmarsch zu protestieren. Sie wurden von einigen deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten unterstützt. Und es soll niemand sagen, dass die lettischen Behörden dem Aufmarsch tatenlos zusahen: Sie griffen durch und nahmen fünf Personen fest. Es waren fünf Antifaschisten. Sie hatten es gewagt, mit lauten Rufen am Rande des SS-Gedenkens die Feier und die öffentliche Ordnung zu stören.

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