Neue Details, aber wenig Aufklärung
Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen im NSU-Komplex
Anfang März verkündete der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München, dass weitere Beweisanträge innerhalb der nächsten sieben Tage zu stellen seien. Die Verteidigung zeigte sich von der plötzlichen Ankündigung überrascht, protestierte und konterte — erwartungsgemäß erfolglos — mit mehreren Befangenheitsanträgen gegen das Gericht. Das Gericht zog letztlich zwar seine Frist zurück, dennoch ist klar, dass sich der Prozess in der Schlussphase befindet und das Gericht alle Aspekte, die es für eine Verurteilung für notwendig hält, abgearbeitet hat. Die Prozessbeteiligten haben in den nächsten Wochen noch die letzten Möglichkeiten, Beweisanträge zu stellen.
Brandenburger Zustände
Der Brandenburger NSU-Untersuchungsausschuss tagte zwischenzeitlich zum achten Mal. Zuletzt wurde im Rahmen einer Sitzung bekannt, dass für den Brandenburger Geheimdienst zwischen 1995 und 2011 in der rechten Szene 50 V-Leute eingesetzt waren. Der Ausschuss hat noch nicht mit der eigentlichen Vernehmung von Zeug_innen begonnen, ist noch in der Vorbereitungsphase und lässt sich von Expert_innen und Sachverständigen über die Szene berichten. Dazu hatte der Ausschuss auch Vertreter_innen von NSU-Watch und der Münchener Nebenklage geladen, die unter anderem auch vom absurden Auftritt des Brandenburger Verfassungsschützers Rainer Görlitz im Münchener Verfahren berichteten. Dieser mündete darin, das seine mitgebrachten Notizen vom Gericht beschlagnahmt und daraufhin umgehend von seiner Behörde gesperrt wurden. Als sie nach öffentlichen Druck dann doch freigegeben wurden, fanden sich dort unter anderem Listen mit möglichen Fragen, auf die Görlitz offensichtlich von seiner Behörde vorbereitet worden war.
Das Brandenburger Innenministerium hatte in der Vergangenheit immer wieder deutlich gezeigt, dass man nicht an einer ernsthaften Aufklärung interessiert ist. Erst nach langer Diskussion wurden dem Ausschuss vom Ministerium ungeschwärzte Akten zur Verfügung gestellt. Doch auch der Ausschuss selbst scheint ein Problem mit Transparenz zu haben. Nach einem Pressebericht, in dem berichtet wurde, dass der kürzlich verstorbene NPD-Funktionär Frank Schwerdt kein V-Mann des Verfassungsschutzes war, erstattete der Ausschuss Strafanzeige wegen Geheimnisverrat. Vermutet wurde, dass diese Information aus einer geheimen Sitzung stammt. Zuvor hatte sich die Behörden nicht öffentlich zu der Frage äußern wollen, was zu Spekulationen über die Rolle Schwerdts gesorgt hatte.
Ein Schwerpunkt im Ausschuss ist die Rolle des früheren V-Manns Carsten Szczepanski („Piatto“), der von den drei untergetauchten Jenaer Neonazis nach Waffen gefragt wurde — über ein Handy, das dem Brandenburger Verfassungsschutz gehörte. Untersucht werden sollen aber auch andere Bezüge des NSU nach Brandenburg.
„Mitteleuropäischer Umgang“ in Hessen
In Hessen beschäftigt sich der dortige Untersuchungsausschuss weiterhin mit der Rolle des früheren VS-Mitarbeiters Andreas Temme, der mehrere V-Personen führte. Zum einen geht es weiterhin um die zentrale Frage, warum die V-Leute Temmes nach dem Mord an Halit Yozgat nicht von der Staatsanwaltschaft vernommen werden durften, zum anderen um den Umgang des hessischen Innenministeriums mit dem damals unter Mordverdacht stehenden Temme. Dazu werden weiterhin frühere Beamt_innen der Behörde gehört, mit dem hessischen Innenminister Boris Rhein zuletzt auch erstmals ein Politiker. Trotz zahlreicher Verstöße gegen Vorschriften musste Temme nie dienstrechtliche Konsequenzen fürchten. Das gegen ihn laufende Disziplinarverfahren wurde eingestellt, Temme lediglich zum Regierungspräsidium Kassel versetzt, wo er bis heute arbeitet. Deutlich wurde im Ausschuss, dass Temme von seinen Vorgesetzten im Landesamt für Verfassungsschutz und Innenministerium nichts zu befürchten hatte. Nicht einmal das Parlament oder die Parlamentarische Kontrollkommission wurden über den Verdacht gegen Temme informiert, der Datenschutz hätte dagegen gesprochen, so der frühere Pressesprecher des Innenministeriums. Tatsächlich erfuhren die Abgeordneten 2006 erst aus den Medien von der Anwesenheit des Verfassungsschützers beim Mord in Kassel.
Auch mehr als zwei Jahre nach Beginn der Sitzungen des hessischen Untersuchungsausschusses liegen den Mitgliedern immer noch nicht alle Akten vor. Aus einer kürzlich erfolgten Nachlieferung geht zweifelsfrei hervor, dass Temme entgegen seinen bisherigen Beteuerungen bereits vor dem Mord an Halit Yozgat mit der Mordserie befasst war. Auf einer ausgedruckten E-Mail über die Mordserie vom März 2006 findet sich ein Namenszeichen von Temme. Daher stellte die Fraktion Die Linke kürzlich Strafanzeige wegen Falschaussage gegen den früheren VS-Mitarbeiter. Trotz einiger neuer Details bleiben die zentralen Fragen ungeklärt, die Ausschussarbeit verliert sich zunehmend im Geplänkel der beteiligten Parteien untereinander. Auch die anstehende Befragung des amtierenden Ministerpräsidenten Volker Bouffier, 2006 Innenminister, wird hieran nichts verändern. Wie viel den hessischen Behörden an der Aufklärung des NSU-Komplexes liegt, zeigte sich bereits, als Mitarbeiter_innen der Generalbundesanwaltschaft nach der Selbstenttarnung des NSU unangemeldet beim hessischen Verfassungsschutz vorstellig wurden und Akten verlangten. Auf Weisung von Innenminister Rhein wurden sie abgewiesen, schließlich sei es „eine Frage der Höflichkeit und des mitteleuropäischen Umgangs“, dass das LfV nicht behandelt werde wie „ein Beschuldigter in einem Strafverfahren“, teilte Rhein dem Untersuchungsausschuss mit.
Neue Erkenntnisse zu Temme gibt es abseits des hessischen Untersuchungsausschusses. Im Auftrag des im Mai 2017 in Köln stattfindenden Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ untersuchte die Londoner Forschungseinrichtung Forensic Architecture die Frage, ob Temme den Mord an Halit Yozgat mitbekommen haben muss, was er bestreitet. Die Wissenschaftler_innen haben dazu das Kasseler Internetcafé nachgebaut und zugleich ein virtuelles 3D-Modell erstellt, mit dessen Hilfe sie den Mord rekonstruieren konnten. In ihrer aufwändigen Untersuchung kommen sie zu dem Schluss, dass Temme den Toten gesehen haben muss und auch die Schüsse für ihn zu hören waren. Diese neuen Erkenntnisse werden auch im Prozess Thema werden.
Geheime „Aufklärung“
Mehr als fünf Jahre seit Bekanntwerden des NSU soll der Komplex nun auch in Mecklenburg-Vorpommern untersucht werden. Dies wird jedoch nicht in einem Untersuchungsausschuss geschehen, sondern lediglich in einem Unterausschuss des dortigen Innen- und Europaausschusses. Im März stimmte der Landtag einem fraktionsübergreifenden Antrag von SPD, CDU und Die Linke zu. Im Gegensatz zu einem Untersuchungsausschuss hat ein solches Gremium wesentlich weniger Rechte. Wichtigster Unterschied ist aber, dass der Ausschuss nicht öffentlich tagt. Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern sind die einzigen Bundesländer, in denen der NSU mordete, die keinen Untersuchungsausschuss eingerichtet haben. Offene Fragen gibt es in dem nordostdeutschen Bundesland jedoch mehr als genug, nicht nur, was NSU-Unterstützer_innen angeht. Über den Mord an Mehmet Turgut in Rostock hinaus überfielen dort Mitglieder des NSU mehrere Banken und verbrachten dort über Jahre ihren Urlaub. In Hamburg findet die Forderung nach einer parlamentarischen Aufklärung weiterhin nicht die notwendige Unterstützung.
DNA-Spuren-Übertragung
Im Fall der DNA-Spur von Uwe Böhnhardt am Fundort der Leiche von Peggy K. gibt es jedoch Neugikeiten. Eine mögliche Verbindung von Böhnhardt zu dem ermordeten Kind hatte im letzten Jahr für Aufsehen und Spekulationen gesorgt. Kürzlich präsentierten bayrische Ermittler ihre Ergebnisse. Demnach stammt die Spur von einem Stück Stoff aus dem ausgebrannten Eisenacher Wohnmobil, in dem Uwe Mundlos und Böhnhardt starben. Daher komme nur eine Übertragung der Spur durch Tatort-Ermittler_innen in Frage, die an beiden Tatorten gearbeitet hatten. Wie dies konkret stattgefunden hat, blieb offen. Im NSU-Komplex war diese nicht die erste verunreinigte DNA-Spur. Nach der Ermordung der Polizistin Michelle Kiesewetter fahndete eine Sonderkommission jahrelang nach einer unbekannten Frau, deren Spuren an zahlreichen Tatorten gefunden worden waren. Dies führte zu massiven rassistischen Ermittlungen gegen Sinti und Roma, da die Polizei ohne Grundlage dort die Frau vermutete. Schließlich stellte sich heraus, dass die gefundene DNA-Spur durch eine Verunreinigung bei der Herstellung von DNA-Wattestäbchen entstanden war.