Aufklärung erst im Jahr 2134?
Aktuelle Entwicklungen im NSU-Komplex
Der NSU-Prozess könnte schon zu Ende sein, doch die Verteidigung ist mit ihrer Verzögerungstaktik zunehmend erfolgreich. Auch das Gericht scheint keine Eile zu haben, zahlreiche Prozesstage fallen aus, obwohl die Beweisaufnahme praktisch abgeschlossen ist und die Richter_innen nach eigener Aussage keine offenen Fragen mehr haben. Mehr als sechs Monate beschäftigte sich das Gericht mit der psychiatrischen Begutachtung von Beate Zschäpe. Nachdem der vom Gericht bestellte Gutachter Henning Saß bereits im Januar sein Gutachten abgeliefert hatte (vgl. Lotta #64), versuchte sowohl die Neu- als auch die Alt-Verteidigung dieses in Frage zu stellen. Dafür wählten sie unterschiedliche Taktiken, die beide nicht erfolgreich waren. Zschäpes Alt-Verteidiger_innen Wolfgang Stahl, Wolfgang Herr und Anja Sturm, die sie seit Prozessbeginn vertreten, aber von Zschäpe mittlerweile nicht mehr akzeptiert werden, versuchten das Gutachten mit einem methodenkritischen Gegengutachten ins Wanken zu bringen. Eine andere Strategie wählten Zschäpes Neu-Verteidiger Hermann Borchert und Mathias Grasel. Sie beauftragten den Freiburger Mediziner Joachim Bauer, die Angeklagte zu begutachten, der dazu 14 Stunden mit Zschäpe sprechen konnte. Zuvor hatte sich die Angeklagte allen Gesprächen mit Gutachtern verweigert. Wieso die Verteidigung ausgerechnet Bauer auswählte, bleibt schleierhaft. Der Psychiater kann keinerlei Erfahrung mit forensischen Gerichtsgutachten vorweisen und beschäftigt sich sonst eher mit Psychosomatik.
Gutachten von zweifelhaftem Wert
Die Taktik der Verteidigung ging gründlich schief. Statt, wie geplant, Zschäpe zu entlasten, geriet Bauer selbst in den Mittelpunkt der Verhandlung, nachdem er Zschäpe zuvor eine „schwere dependente Persönlichkeitsstörung“ attestiert hatte, wegen derer sie nur eingeschränkt schuldfähig sei. Zschäpe sei willenlos ihren beiden Mitstreitern ausgeliefert und von ihnen abhängig gewesen. Erneut zeigt sich, wie wenig Durchblick die Neu-Verteidigung Zschäpes hat. Diese hatte Bauer auch eine in den Akten dokumentierte Aussage von Zschäpes Mutter für sein Gutachten zur Verfügung gestellt. Annerose Zschäpe hatte dann aber vor Gericht von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, weshalb ihre vorherigen Aussagen nicht im Prozess verwertet werden dürfen. Als dies im Prozess auffiel, musste die Verteidigung zunächst Zschäpes Mutter laden lassen, um ihre frühere Aussage für den Prozess freizugeben.
Die Grundsätze eines objektiven Gutachtens ließ Bauer außer acht. Er nutzte nur die Aussagen und Aktenteile, die ihm die Verteidigung vorher herausgesucht hatte, ohne sich selbst ein umfängliches Bild zu machen. Auch ließ der Mediziner jede professionelle Distanz zu seiner Klientin missen. Bei seinem letzten Besuch bei Zschäpe versuchte er, ihr eine Schachtel Pralinen mit in die U-Haft zu schmuggeln, was natürlich am Eingang auffiel. Nachdem er auch in der Presse massiv kritisiert worden war, meldete sich der gekränkte Professor per E-Mail bei der Tageszeitung Die Welt und beklagte sich über eine angeblich stattfindende „Hexenverbrennung“: „Das Stereotyp, dass Frau Zschäpe das nackte Böse in einem weiblichem Körper ist, darf nicht beschädigt werden.“ Der Nebenklage-Vertreter Eberhard Reinecke bewertete Bauer in einer Erklärung vor Gericht als „Leumundszeuge, dem man ein professorales Mäntelchen umgehängt hat“.
Die Entpolitisierung der Morde im Gutachten Bauers griff die Verteidigung von Ralf Wohlleben dankbar auf. Nachdem Bauer die verstorbenen Böhnhardt und Mundlos als psychopathische Täter beschrieben hatte, beantragten Wohllebens Anwält_innen ein eigenes psychiatrisches Gutachten über die beiden mit dem Ziel, ihnen eine psychopathische Persönlichkeitsstörung nachzuweisen. Diese sei für Dritte nicht erkennbar gewesen, da Psychopathen in der Lage seien, manipulativ ihre Störung zu verbergen, führte die Verteidigung aus. Doch auch dieser Antrag blieb ohne Erfolg, zog aber einen neuen Befangenheitsantrag gegen das Gericht nach sich, woraufhin dieses erneut mehrere Prozesstage absetzte.
Als begründet erklärte das Gericht hingegen am 11. Juli einen von der Nebenklage eingebrachten Befangenheitsantrag gegen den Gutachter Bauer. Wie lange ein Urteil durch erneute Anträge und Ablehnungsgesuche hinaus gezögert wird, ist nicht absehbar, eine Taktik dahinter nicht zu erkennen. Auch werden die Plädoyers im Anschluss an die Beweisaufnahme sicherlich einige Wochen in Anspruch nehmen.
Bouffier im Zeugenstand
In hessischen Untersuchungsausschuss musste Ende Juni Volker Bouffier in den Zeugenstand treten. Der damalige Innenminister verhinderte nach dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel die Vernehmung der V-Leute des damals kurzzeitig unter Mordverdacht stehenden Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme. In seiner Vernehmung rechtfertigte der amtierende Ministerpräsident diese Praxis, wie auch schon im Jahr 2012 im Bundestags-Untersuchungsausschuss. Die Sicherheit des Landes sei bedroht gewesen, da die Quellen aus dem islamistischen Bereich berichtet hätten und 2006 islamistische Anschläge „eine „reale Gefahr gewesen“ seien. Dass es sich um Mordserie mit neun toten Migranten handelte, spielte bei der Bewertung also keinerlei Rolle. Und dass ein weiterer V-Mann Temmes aus der Neonazi-Szene berichtete, will Bouffier damals nicht gewusst haben. Hätte er dies geahnt, hätte er einer Vernehmung dieses Mannes selbstverständlich zugestimmt, so Bouffier.
Mit seiner taktischen Aussage zeigte Bouffier seine Verweigerungshaltung: Zugeben, was sich nicht mehr leugnen lässt, vorgebliche Erinnerungslücken und taktische Entschuldigungen, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, wo es notwendig ist. Eigene Fehler? Fehlanzeige. Damit machte Bouffier einmal mehr deutlich, wie wenig ihm an der Aufklärung der Mordserie liegt.
Geheimhaltung
Welchen Stellenwert Aufklärung in den hessischen Behörden und Ministerien hat, zeigte sich erneut bei den Aktenlieferungen aus Hessen. Ein interner Bericht des hessischen Verfassungsschutzes aus dem Jahre 2014 über die Ergebnisse einer Aktenrecherche zum NSU wurde erst gar nicht an den Bundestag-Untersuchungsausschuss weitergereicht. Die Verfassungsschutzakten sollen zwar „keine Bezüge oder Informationen zu den Straf- und Gewalttaten des NSU“, aber rund 30 Hinweise mit möglichen Bezügen von hessischen Neonazis zum NSU-Kerntrio enthalten haben. Einem Hinweis auf „National Sozialistische Untergrundkämpfer Deutschlands“ aus dem Jahr 1999 ging das Landesamt nicht nach.
Im hessischen Ausschuss dürfen nur Teile des Berichts öffentlich debattiert werden. Der Rest ist als geheim eingestuft und bleibt den nächsten Generationen vorbehalten, denn die Geheimhaltung endet teilweise erst im Jahr 2134 — in etwa 120 Jahren also. Derartige Geheimhaltungsfristen sind völlig unüblich. Die Initiative NSU-Watch Hessen kritisiert das Vorgehen der hessischen Behörden: „Die öffentliche Aufklärung des NSU-Komplexes darf nicht erst bei unseren Ur-Ur-EnkelInnen stattfinden, sondern muss jetzt geschehen.“