Nicht nur das Fehlverhalten Einzelner ist das Problem
Zum institutionellen Rassismus im deutschen Polizeiapparat
Obwohl nicht nur von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von der UN Rassismus in der deutschen Polizei benannt wird, wird sich an den behördlichen Praktiken in naher Zukunft kaum etwas ändern. Eine Kritik am institutionellen Rassismus.
Deutsche Behörden leugnen institutionellen Rassismus. Zu diesem Ergebnis kam die Untersuchung „Leben in Unsicherheit — Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt“ der Deutschland-Sektion von Amnesty International, die Mitte 2016 veröffentlicht wurde. Der Bericht konstatiert, dass trotz der Erfahrungen aus dem NSU-Komplex die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden rassistische Straftaten nicht erkennen und Betroffene nicht hinreichend unterstützen.
Zum selben Ergebnis kommt eine Untersuchung der Vereinten Nationen. Im Februar 2017 bereiste eine Delegation der UN deutsche Städte und traf sich mit Vertreter*innen staatlicher Institutionen, aber auch mit migrantischen Aktivist*innen. Letztere berichteten davon, dass insbesondere Menschen aus afrikanischen Communities in nicht wenigen Teilen Deutschlands der Gefahr rassistisch motivierter Gewalt ausgesetzt sind. Die Angst sei so groß, dass die betreffenden Personen bestimmte Stadtteile oder Gebiete meiden würden. Als Opfer werde diese Gruppe jedoch nicht genügend anerkannt, kritisierten die UN-Vertreter*innen auf ihrer Pressekonferenz. Zudem wurde deutlich Kritik daran geäußert, dass trotz des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG durch deutsche Behörden rassistische Praktiken angewendet werden. Dazu zählen sie zum Beispiel das Racial Profiling der Polizei, bei dem Menschen vornehmlich aufgrund ihres Aussehens kontrolliert werden.
Kritik an der Polizei ist unerwünscht
Die heftige Kritik von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen hat jedoch kaum politische Folgen. Im Gegenteil: Eine grundsätzliche Kritik an der Polizei und ihrer rassistischen Praktiken ist in Deutschland verpönt. Der Einsatz der Kölner Polizei in der Silvesternacht 2016/2017 ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Nachdem die Polizei ein Jahr zuvor von der Öffentlichkeit angeprangert wurde, dass sie schwere Straftaten, darunter sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen, auf der Kölner Domplatte nicht verhindert hatte, zeigte sie in der Nacht von 2016 martialische Präsenz. Dabei setzte sie unter anderem fast 1.000 Personen in einem Polizeikessel fest. Über Twitter warnte die Polizei vor sogenannten „Nafris“ — was in der internen Behördenkommunikation für „nordafrikanische Intensivstraftäter“ steht und schnell als diffamierende Abkürzung für Menschen aus Nordafrika allgemein in den öffentlichen Sprachgebrauch einging.
Kurz nach dem Einsatz stellte die grüne Parteichefin Simone Peter dessen Rechtmäßigkeit in Frage. Doch anstatt über die offenkundig rassistisch motivierten Kontrollen zu diskutieren, wurde Peter öffentlich angegriffen. Selbst grüne „Parteifreunde“ gingen deutlich zu ihr auf Distanz. Aufgrund der Ereignisse des Vorjahres dürfe man die Polizei nicht kritisieren, schon gar nicht pauschal rassistische Motive bei den Kontrollen unterstellen. Dabei hatte Peter nur das rechtsstaatliche Minimum eingefordert, also zu prüfen, ob die Maßnahmen grundrechtskonform und verhältnismäßig waren. Eine Kritik an staatlichen Instanzen, eigentlich eine demokratische Selbstverständlichkeit, wird im Falle der Polizei und möglicher institutionell rassistischer Strukturen oft suspendiert. Später musste die Polizei indes selbst einräumen, dass ihre Begründung des Einsatzes nicht stimmte.
Auf einem Symposium Mitte September 2017, auf dem der Einsatz mit Expert*innen aufgearbeitet wurde, gab die Polizei zu, dass sich im Vorfeld keine großen Männergruppen verabredet hatten, um nach Köln zu reisen und Straftaten zu begehen. Auch fanden sich unter den Kontrollierten keine Verdächtigen der Vorfälle von Silvester 2016/2017. Die eigenen Erkenntnisse hielten die Polizei jedoch nicht davon ab, auch für die kommende Silvesternacht ein Schreckensszenario zu prognostizieren. Man erwarte erneut, dass große Männergruppen nach Köln und in andere Städte von NRW reisen würden, hieß es aus Polizeikreisen. Wie diese Aussage mit den eigenen Untersuchungsergebnissen in Einklang zu bringen ist, wurde nicht weiter erörtert.
Auch im NSU-Komplex wird der Begriff des institutionellen Rassismus vermieden. Die Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestags zur NSU-Mordserie haben sich unter anderem mit den Ermittlungsmethoden der Polizei auseinandergesetzt. Gerade der erste Abschlussbericht von 2013 zeigt auf vielen Seiten detailliert, wie rassistische Methoden dazu beitrugen, dass vorrangig gegen die Betroffenen und Angehörigen der Taten, nicht aber gegen die rechte Szene vorgegangen wurde.
Die Polizei missachtete bei den NSU-Ermittlungen grundlegende Prinzipien einer rechtsstaatlichen Strafermittlung, indem Beamte beispielsweise Hinterbliebene der Betroffenen vorsätzlich belogen, um die angebliche „Mauer des Schweigens“ in der türkischen Community zu überwinden. Auf die Frage an den Einsatzleiter der damaligen Ermittlungsgruppe „BAO Bosporus“, wie man zu der Namensauswahl der BAO gelangte, sagte dieser vor dem Ausschuss, man suche im Polizeiapparat nach Begriffen, die eine Verbindung zu den Opfern haben. Dass einerseits nicht alle Opfer türkischer Staatsangehörigkeit waren und andererseits die Täter nicht aus der Türkei, sondern aus Deutschland stammten, zeigt bereits, wie rassistische Vorurteilsstrukturen innerhalb der Polizei effektive Ermittlungen behindern.
Obwohl der Ausschuss diese und weitere Beispiele öffentlich machte, scheute man sich im gemeinsam getragenen Abschlussbericht davor, den Begriff institutioneller Rassismus zu verwenden. Insbesondere die Fraktion von CDU/CSU wollte nicht den Eindruck erwecken, dass man die Polizeibehörden grundsätzlich kritisieren wolle. Lediglich in den Sondervoten einiger Fraktionen werden die Methoden der Polizei als rassistisch beurteilt.
Reformen verändern nicht die Ursachen
Dass die öffentliche Debatte über diese Fälle so schwer zu führen ist, hängt auch damit zusammen, dass — wenn überhaupt — in der Regel nur das Fehlverhalten einzelner Beamter kritisiert und anschließend der Nachweis verlangt wird , dass gerade dieser eine Beamte von rassistischen Motiven geleitet war. Doch darauf kommt es bei der Kritik an institutionell rassistischen Strukturen gerade nicht an.
Der französische Ethnograph Didier Fassin hat in seiner Untersuchung „Enforcing Order“ über 15 Monate lang die Praktiken einer Pariser Polizeistation, just zum Zeitpunkt der Banlieu-Aufstände von 2005, beobachtet. Fassin plädiert dafür, auf die institutionellen Besonderheiten zu achten. Man müsse soziologisch nachweisen, auf welche Art und Weise rassistische Ermittlungsmethoden angewendet werden, ohne dass dafür der ausführende Beamte selbst rassistische Einstellungen aufweisen müsse. Den wenigen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit institutionellem Rassismus in Deutschland wird indes vorgeworfen, dass in ihnen „der Zusammenhang von Gesellschaft und Institutionen reichlich unklar bleibt“ und es undurchsichtig sei, „woher der Rassismus und die definitorische Arbeit kommt, die zur Ausgrenzung führt“, wie die Soziologin Manuela Bojadzijev kritisiert.
Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass aus der Wissenschaft und Politik nur bescheidene Reformvorschläge geäußert werden, um institutionellem Rassismus zu begegnen. Zu den Standard-Vorschlägen gehört zum Beispiel die Einführung einer unabhängigen Beschwerdestelle, menschenrechtsorientierte Ausbildungen der Polizei-Beamt*innen und eine Anwerbung von Migrant*innen für den Polizeidienst. Zwar ist gegen solche kurzfristig umsetzbaren Maßnahmen nichts einzuwenden, die eigentlichen Ursachen für institutionellen Rassismus werden dadurch aber nicht beseitigt.
Vertreter*innen der im US-amerikanischen Kontext entstandenen Critical Race Theory haben vielfach betont, dass sich Rassismus und Recht gleichursprünglich entwickelt haben. Es reiche nicht aus, der Polizei schlicht die Pflicht aufzuerlegen, sich an das Recht zu halten, weil die rechtlichen Strukturen selbst rassistisch seien. Bereits die liberale Gesellschaftsvertragstheorie basiere auf rassistischen Konzeptionen des „Anderen“ und „Fremden“, so dass rassistische Praktiken keinesfalls nicht-intendierte Effekte, sondern gerade Ausdruck des liberalen Rechtsverständnisses seien. Der Philosoph David Theo Goldberg hat in seinem Buch „The Racial State“ die These vertreten, dass das Konzept „race“ wesentlich sei, um den modernen Staat zu verstehen.
Die historische und strukturelle Verwobenheit zwischen Recht und Rassismus stellt das liberale Rechtsprojekt in Frage, das eigentlich auf der Gleichheit vor dem Gesetz basiert. Um diesen Widerspruch zu umgehen, beschreibe sich das Recht als unschuldig für rassistische Strukturen, wie der Rechtswissenschaftler Peter Fitzpatrick ausführt. Was Fitzpatrick unter der „Unschuldigkeit des Rechts“ konkret versteht, lässt sich exemplarisch am Beispiel des Racial Profiling in Deutschland zeigen. Die Polizei legitimiert ihre Kontrollen unter Bezugnahme auf § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz. Demnach darf die Bundespolizei in Zügen Personen anhalten und ihre Papiere prüfen, sofern auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass die Transportmittel zum Zweck der unerlaubten Einreise genutzt werden. Was mit Lageerkenntnissen oder der grenzpolizeilichen Erfahrung gemeint ist, wird im Recht nicht näher definiert. Es ist daher alleine eine Angelegenheit der Polizei, diese Begriffe mit Inhalt zu füllen, die Rechtsnorm selbst muss dafür nicht rassistisch formuliert sein.
Die Polizei fühlt sich im Recht, wenn sie unter Rückgriff auf „grenzpolizeiliche Erfahrungen“ vor allem Menschen kontrolliert, die nicht wie der oder die „Durchschnittsdeutsche“ aussehen. Dass dabei immer wieder Menschen mit einem deutschen Pass kontrolliert werden, ist jedoch offenbar kein Grund für die Polizei, ihr Erfahrungswissen zu überdenken. Auch diverse Gerichtsurteile, die Racial Profiling als grundrechtswidrig bewerten, haben nicht zu einer Einstellung der rassistischen Praxis geführt. Neben dieser grundsätzlichen Problematik des Rechts, ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Polizei kein reines Vollzugsorgan des Rechts ist, sondern selbst als politischer Akteur mit eigenen Interessen auftritt. Dies wird nicht nur bei politisch motivierten Einsätzen wie anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg deutlich. Der Einsatz zur Kölner Silvesternacht 2016 diente offensichtlich dazu, die massive öffentliche Kritik an der Kölner Polizei zu entkräften und dieses Mal „Stärke“ zu zeigen.
Diese Erkenntnisse sind folgenreich für die antifaschistische, wissenschaftliche und journalistische Auseinandersetzung mit der Polizei: Eine Kritik des institutionellen Rassismus im Polizeiapparat muss zugleich mit einer Kritik des Rechts und einer Wahrnehmbarkeit der Polizei als politischem Akteur einhergehen.