Protestfotografie FFM

Ungeklärte Fragen

Das Ende des hesssischen Untersuchungsausschusses

Die Beweisaufnahme ist beendet. Mehr als drei Jahre haben sich die Abgeordneten mit dem Mord an Halit Yozgat, einer möglichen hessischen Unterstützer_innenszene und vor allem mit der Rolle des Verfassungsschutzes beschäftigt. Was bleibt, sind einige Einblicke, viel mehr Fragen als Antworten und die abschließende Erkenntnis, dass es unter Schwarz-Grün in Hessen keine Aufklärung geben wird.

Der 27. November 2017 ist ein besonderer Tag im hessischen Landtag. Es ist der Tag, an dem die Eltern von Halit Yozgat ihre Erlebnisse und Erinnerungen rund um den Mord an ihrem Sohn im April 2006 erzählen. Und es ist auch zugleich die letzte öffentliche Sitzung des hessischen Untersuchungsausschusses (UA). Viele sind gekommen, um sie bei dieser schweren, aber doch so notwendigen Aufgabe zu unterstützen. Ob und wie das Ehepaar Yozgat vernommen wird, war lange unklar. Anders als beim NRW-Ausschuss sind die Hinterbliebenen und Betroffenen in Hessen nicht direkt zu Beginn oder nach den Expert_innen geladen worden.

Ayşe Yozgat und İsmail Yozgat betreten den Saal. Wie bereits im Gerichtsprozess in München nehmen sich die Yozgats den Raum, den sie brauchen, um ihren Erinnerungen Platz zu schaffen. Ayşe Yozgat wurde vom Ausschuss nicht einmal offiziell geladen. Sie nimmt sich einen Stuhl und setzt sich neben ihren Mann, der ein Kinderfoto von Halit am Tisch befestigt, so dass die Abgeordneten es sehen können. Geduldig beantwortet İsmail Yozgat die formellen Fragen des Vorsitzenden Hartmut Honka, die von einer Dolmetscherin ins Türkische übersetzt werden. Schließlich bittet er Honka darum, ihn in seinen Forderungen zu unterstützen: die Umbenennung der Holländischen Straße, in der Halit geboren wurde, aufwuchs und starb, nach seinem Sohn sowie eine Begehung des Tatortes in seinem Beisein. Als Honka ihm mitteilt, dass beides außerhalb seiner Befugnisse liege, holt Herr Yozgat den Tatort in den Plenarraum. Er bittet darum, seine Erinnerungen erzählen zu dürfen, rückt dann Tische und Stühle zur Seite. Er baut den Schreibtisch, hinter dem Halit gelegen hat, nach und erklärt den Abgeordneten die räumlichen Verhältnisse im Internetcafé. Schließlich zeigt er, wie er seinen sterbenden Sohn fand. Er lässt alle im Raum Anwesenden an seinem Schmerz teilhaben, vielen stehen die Tränen in den Augen.

Größte Leerstelle des Ausschusses

Die Sicht der Betroffenen hätte die Arbeit des UA leiten müssen. Vielleicht wären die Befragungen der oft aussageunwilligen Geheimdienstmitarbeiter dann schärfer geführt worden, wenn man gewusst hätte, dass Yozgats sich sicher sind, dass Andreas Temme über einen langen Zeitraum mehrmals die Woche im Internetcafé war, einmal in Begleitung einer größeren Frau. Vielleicht hätte man begonnen, Rassismus als Tatmotiv ernst zu nehmen und die geladenen Nazizeug_innen mit ihrer Ideologie zu konfrontieren, anstatt ihnen zu erlauben, ihr Tun als unpolitischen Freizeitspaß zu präsentieren (vgl. Lotta #62). Und vielleicht hätte man einen Eindruck davon bekommen, wie es ist, den eigenen Sohn zu verlieren, öffentlich mit einer Demonstration um Hilfe zu bitten und klar zu sagen, dass es sich um Ausländerfeinde gehandelt haben muss, und dann ein Kaufangebot für das Internetcafé von verdeckten Ermittlern zu bekommen. Manchmal, so sagte Frau Yozgat, fühle sie sich immer noch verfolgt.

Parteipolitisches Klein-Klein

Doch nicht Yozgats Sicht auf das Geschehene prägte die Ausschussarbeit, sondern die Uneinigkeit der Parteien. Die Regierungskoalition aus CDU und Grünen war von vornherein nicht an der Einsetzung des UA interessiert. Es gab im hessischen UA kein gemeinsames Ziel und dementsprechend keinen gemeinsamen Fahrplan für die Arbeit. Die Regierungsparteien behinderten aktiv die Aufklärung der staatlichen Verantwortung, manifestiert in der Anwesenheit des Geheimdienstbeamten Andreas Temme während des Mordes sowie der Rolle von Ministerpräsident Volker Bouffier. Die Arbeit der Oppositionsparteien war dementsprechend mühsam und von juristischen Auseinandersetzungen geprägt. Sie konnten kleine Erfolge erringen, der große Durchbruch in den zentralen Fragen blieb aber aus. So konnte Die Linke Temme in einem Punkt der Lüge überführen und zeigte ihn wegen Falschaussage an. Temmes Vorgesetzte Iris Pilling hatte ausgesagt, im März 2006 ihre V-Mann-Führer per Mail angewiesen zu haben, die Quellen nach der Czeska-Mordserie zu befragen. Temme gab an, von der Mordserie vor dem Mord in Kassel nichts gewusst zu haben. Die Linke hatte die Umlaufmappe mit den Kürzeln der Beamt_innen zur Mail von Pilling ausfindig gemacht und damit beweisen können, dass Temme entgegen seiner Aussage die Mail zur Kenntnis genommen hatte. Die große Frage, was er im Internetcafé zu suchen hatte und ob er dienstlich vor Ort war, bleibt aber weiterhin unbeantwortet.

Große Schlagzeilen zum Schluss

Eine der interessantesten Zeuginnen des UA war sicherlich Corynna Görtz, die sich Anfang der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre im Grenzgebiet Nordhessen, Thüringen und Südniedersachen aufhielt und dort mit allen Szenegrößen bekannt war. Schaut man sich ihre Biografie an, so wird klar, dass sie eine Drahtzieherin in der Szene war. Sie war Mitglied der Wiking-Jugend, ging dann nach NRW, um beim Verlag und Versand des kürzlich nach Hessen verzogenen Naziaktivisten Meinolf Schönborn mitzuarbeiten. Die ursprünglich aus Thüringen stammende Görtz wird vom LKA Thüringen in einem Dossier zu rechten Gewalttätern geführt — als einzige Frau neben Beate Zschäpe. Görtz war mit vielen Führungsgrößen der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), wie bespielsweise Friedhelm Busse, Thorsten Heise und Siegfried Borchardt, bekannt. Der damalige stellvertretende hessische Vorsitzende Dirk Winkel war ihr Lebensgefährte, mit Borchardt und Busse war sie befreundet. Für Heise reichte sie während seiner Haft Briefe an die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG) weiter, eine Organisation, für die sie selbst aktiv war. Auch mit dem Kasseler Stanley Röske, einer führenden Figur der Oidoxie-Street-Fighting-Crew (vgl. Lotta #62), die als Verbindungsstruktur zwischen Kassel und Dortmund gilt, ist Görtz seit langer Zeit bekannt. In ihrer Vernehmung versuchte sie allerdings, das alte Stereotyp der unpolitischen Frau zu bedienen: Sie habe eher Kontakt zu den Frauen und Freundinnen gehabt denn zu den Nazikadern selbst. Mit dem Rechtsterroristen Martin Wiese habe sie nur eine persönliche Freundschaft verbunden, das sei kein Szenekontakt gewesen. Die Panzerfaust, die bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurde, als die Polizei auf der Suche nach dem Oidoxie-Mitglied Marco Eckert war, gehöre ihrem Lebensgefährten. Görtz behauptete, 2003 aus der Szene ausgestiegen zu sein, wurde gegenüber der Polizei aber 2009 bei einem Konzert der Band Kinderzimmerterroristen im thüringischen Roßleben anlässlich des Geburtstags des Naziaktivisten Rene Hagedorn als Verantwortliche benannt. Im Jahr 2000 ging Görtz mit Winkel nach Österreich, laut Berichten der Journalisten Tornau und Meyer, um sich einem deutschen Haftbefehl zu entziehen. Sie arbeitete dort in einem Szeneladen in direkter Nachbarschaft zum 1992 aus Deutschland ausgewiesenen FAP-Kader Karl Polacek. Auf die Frage, ob sie während ihrer Zeit in Österreich Kontakt zu Behörden hatte, verweigerte sie die Aussage. Es liegt also nahe, dass sie dort mit den Behörden kooperiert hat. Die erstaunlichste Aussage kam allerdings erst zum Ende ihrer Vernehmung: Auf die Frage des CDU-Abgeordneten Holger Bellino nach dem Internet-Café der Yozgats gab Görtz freimütig zu Protokoll, dass sie während ihrer Zeit im offenen Vollzug in Kassel mehrfach mit ihrer Bekannten dort gewesen sei. Die genaueren Umstände dazu konnten im UA nicht geklärt werden. Zwar wurde besagte Bekannte geladen, sie dementierte jedoch die Aussage von Görtz. Ob Görtz als mögliche Unterstützerin des NSU in Nordhessen infrage kommt und ob sie gar die Tatort-Skizze vom Internetcafé angefertigt haben könnte, bleibt unbeantwortet.

Nicht nichts gebracht

Obwohl so vieles auch nach dem Ende des UA ungeklärt bleibt, muss festgehalten werden, dass das Gremium wichtig für die Auseinandersetzung mit den NSU-Morden in Hessen war. Noch nie wurde dem Geheimdienst in Hessen so sehr auf die Finger geschaut, nie zuvor mussten sich seine Mitarbeiter_innen dermaßen für ihr Handeln rechtfertigen. Auch in der Frage der Thematisierung von Nazistrukturen konnten im Ausschuss Fortschritte erzielt werden. Es wurde zumindest einer kritischen Öffentlichkeit klar, dass der Verfassungsschutz kein kompetenter Ansprechpartner sein kann. Doch trotz der eklatanten Missstände, die sich in der Arbeitsweise des VS offenbarten, geht das Amt dank Schwarz-Grün gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor. Es ist ein Affront, dass die Regierung noch in der Beweisaufnahme einen Entwurf für ein neues Verfassungsschutzgesetz vorlegt, in dem die Kompetenzen des VS massiv erweitert und die Bürger_innen in ihren Rechten gegenüber der Behörde beschnitten werden. Und so muss leider angenommen werden, dass aus der ganzen Arbeit, die Abgeordnete und Ehrenamtliche in diesen Untersuchungsausschuss gesteckt haben, keine Lehren in Richtung einer demokratischen Kontrolle gezogen werden, ganz zu schweigen von einer grundsätzlichen Infragestellung der Praxis der Behörde an sich. Es bleibt festzuhalten, dass eine Fortführung der staatlichen Aufklärung, die so dringend nötig wäre, unter einer erneuten Regierungsbeteiligung der CDU oder der Grünen keinen Sinn macht.

Starke zivilgesellschaftliche Initiativen

Was aber bleibt von der vielen Arbeit, ist eine gestärkte Zivilgesellschaft mit ausgeprägtem Misstrauen gegenüber staatlichen Strukturen. Es sind zwischen den verschiedenen Initiativen, die sich mit dem NSU-Komplex in Hessen beschäftigen, Kooperationen und Freundschaften entstanden. Der gemeinsame Prozess hat zu einem neuen Selbstbewusstsein geführt, weil den Beteiligten klar wurde, dass in Hessen eine Aufklärung nicht mit, sondern nur gegen den Staat und seine Institutionen passieren kann. So konnte die Initiative 6. April zusammen mit der bundesweiten Struktur des Tribunals NSU-Komplex auflösen das Institut der Londoner Goldsmith University Forensic Architecture gewinnen, um die Aufklärung zu unterstützen. Dank der Kasseler Initiative Nachgefragt wurde Temme von seiner Stelle im Regierungspräsidium, wo er mit sensiblen Personendaten arbeitete, mittlerweile versetzt. Es wurden gemeinsame Diskussionsveranstaltungen organisiert, und die Initiativen unterstützen sich gegenseitig bei politischen Vorhaben. Auch wenn die staatliche Aufarbeitung in Hessen vorerst wohl zum Erliegen kommt, bleiben die zivilgesellschaftlichen Initiativen aktiv. „Unsere Arbeit war nie auf die Laufzeit des UAs beschränkt“, so die Sprecherin von NSU-Watch Hessen: „Wir haben jedes Puzzle-Teil aufgesammelt, das im Ausschuss zu Tage kam, wir bewahren sie gut auf und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Die Aufklärung des NSU Komplexes und der staatlichen Verstrickungen wird uns auch noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen.“

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