Die Marschrichtung der „Lebensschützer“
Christlicher Fundamentalismus drängt zunehmend in die Politik
Am 21. Oktober 2017 war es wieder soweit: Selbst ernannte „Lebensschützer“ unter Federführung der „Priesterbruderschaft St. Pius X.“, die auch im katholischen Rheinland verankert ist, ziehen durch Saarbrücken. Jeanette Schweitzer, Rednerin der Abschlusskundgebung, wettert gegen „Auswüchse irrsinniger feministischer Gender- und Abtreibungslobby“. Schilder proklamieren „Stoppt Genderideologie“ und „Deutschland treibt seine Zukunft ab“ — was als implizite Referenz zum Bestseller Thilo Sarrazins gelesen werden kann.
Die Mehrheit der etwa 150 Teilnehmer_innen dürfte den Sarrazin’schen Thesen von „Gleichheitswahn“ und „Tugendterror“ vorbehaltlos zustimmen; anders als der Sozialdemokrat, von dem sie verärgert sagen, er führe derlei Missstände letztlich auf die katholische Kirche zurück, verorten sie die Ursache des Übels jedoch in einer „rot-grünen Einheitspartei“. Nachzulesen ist das in einer Rezension zu Sarrazins Machwerk, die ein gewisser Rafael Hüntelmann verfasst hat.
„Pro Life“: ein Euphemismus
Die Rhetorik mag graduell eine andere sein, moralisierender, im Kern sind Ziele und Forderungen der Lebensschützer aber deckungsgleich mit denen jenes völkisch-nationalistischen Milieus, das mimikryartig zwischen AfD, NPD, „Neuer Rechter“ auf der einen und Bürgertum auf der anderen Seite changiert. Man teilt Feindbilder und Ideale, den Ruf nach einer reaktionären Geschlechter- und Gesellschaftsordnung etwa. Argumentiert wird biologistisch: Männer und Frauen seien „von Natur aus“ verschieden; demnach kämen ihnen innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche Aufgaben zu. Diese patriarchale Schicksalslogik reduziert die Frau auf ihre Funktionalität als Austragungsgefäß „ungeborener Kinder“ und stilisiert die sexuelle Emanzipation zur Gefahr für die „gottgegebene“ Ordnung traditioneller Familien- und Geschlechtermodelle.
Fundamentale und völkisch-nationale Kreise streben den Umbau der Gesellschaft via Familienpolitik an. „Verseuchung durch Genderirrsinn“ und „Frühsexualisierung“ sind gern strapazierte Schlagworte. Auch Jeanette Schweitzer streute sie Beifall heischend in ihre Rede ein.
Die mittelalterlich anmutende Ideologie ist in sich konsequent. Unterschieden wird zwischen „biologisch unsinnigem“ und „zielführendem“ Paarungsverhalten: Wer der christlichen Population nicht zuträglich ist oder sein möchte, ist des Teufels, gehört wahlweise bekehrt oder als abnorm markiert — seien es Frauen, die auf körperliche Selbstbestimmung beharren, Homo- oder Transsexuelle. Unmittelbar daran schließt sich eine rassistische Komponente an, bedient durch extrem rechte Narrative von „Umvolkung“ und „Kulturkampf“. Mal geschieht das subtil als Verweis auf die demographische Entwicklung, mal ist explizit — wieder ein Zitat von Jeanette Schweitzer — von „drohender Islamisierung“ die Rede. Die alarmistische Kernbotschaft: Das deutsche Volk stirbt aus. Gern wird auch der Holocaust zum Vergleich herangezogen. Behauptungen von industrieller Massenabtreibung stellen die Singularität der Shoah in Frage, relativieren und instrumentalisieren sie.
Verquickungen mit Völkischen
Zurück zu Rafael Hüntelmann. In der Novemberausgabe 2017 des Mitteilungsblatts der Pius-Sekte bemüht er eine Analyse der Oktoberrevolution. In Tradition des Historikers Ernst Nolte rückt er das deutsche Opfernarrativ ins Zentrum der historischen Debatte und interpretiert die Opfer der Shoah nicht als Opfer des Faschismus, sondern des Kommunismus. Hüntelmann publizierte früher in der Jungen Freiheit. Zwischen dieser und den „Lebensschützern“ finden sich regelmäßig Verbindungen in Form von Werbepartnerschaften oder redaktionellen Beiträgen. Heute ist Hüntelmann Geschäftsführer des piusnahen Civitas-Instituts. Dessen Ziel: das Studium katholischer Soziallehre und des Naturrechts sowie die Verteidigung der „Rechte Gottes“ in Staat und Gesellschaft — in letzter Konsequenz also die Errichtung eines deutschen Gottesstaats, analog zur Scharia-Gesetzgebung, bloß unter fundamentalchristlicher Fuchtel.
Zu inhaltlichen Schnittmengen mit dem rechten Milieu kommen personelle: Auch die AfD paktiert aus Sorge um die Fruchtbarkeitsrate deutscher Frauen mit den Abtreibungsgegnern. Beatrix von Storch spielte in der Szene bereits vor ihrer AfD-Karriere eine aktive Rolle. Im Saarland mischten sich NPD-Kader wie Peter Marx, Harry Kirsch und Otfried Best unbehelligt unter die Christen.
Trotz des überregionalen Labels „Marsch für das Leben“ werden die Veranstaltungen vor Ort von verschiedenen Bündnissen initiiert, die ihr christlicher Fundamentalismus eint. In Saarbrücken sind die „Piusbrüder“ zuständig.
Die „Piusbruderschaft“
Die Selbstinszenierung als wohltätige Gesellschaft entpuppt sich schnell als Fassade. Es handelt sich um eine erzkonservative Vereinigung, die den Schulterschluss zu extrem rechten Spektren sucht. Gegründet wurde sie 1970 in Frankreich von Marcel Lefebvre — einem Anhänger rechtsgerichteter Diktaturen –, weil er die Haltung der übrigen katholischen Kirche als zu modernistisch erachtete. In der Öffnung zur Ökumene und der Religionsfreiheit wittert die Gruppe ein Komplott liberaler und antichristlicher Mächte.
Weltweite Schlagzeilen machte die Vereinigung durch die Duldung von Holocaustleugnern in ihren Reihen. Prominentester Fall: Richard Williamson. Antisemitismus ist nicht nur akzeptiert, sondern Doktrin, betrachtet man die Juden doch als Christusmörder. Der Generalobere und Bewunderer Jean-Marie Le Pens, Bernard Fellay, bezeichnete Juden ganz offen als „Feinde der Kirche“. Seit 1977 halten Anhänger der „Bruderschaft“ die Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet in Paris besetzt. Der Ort gilt als symbolisches Zentrum und Magnet für extreme Rechte wie das Führungspersonal des Front National. Die „Bruderschaft“ beteiligt sich zudem zuweilen bereitwillig an Neonazi-Veranstaltungen. Viel Aufsehen erregte etwa die Trauerfeier für SS-Mann Erich Priebke 2013 in Italien.
Auch der deutsche Distrikt pflegt fragwürdige Kontakte. 2010 lud man in Stuttgart Dr. Walter Marinovic, Autor einschlägig bekannter Publikationen wie der National-Zeitung und der Deutschen Stimme, als Redner ein. Auch Richard Melisch, ein in Neonazi-Kreisen populärer, inzwischen verstorbener Publizist, wurde zum Vortrag in das Stuttgarter Priorat St. Athanasius gebeten. Ein ehemaliger Distriktoberer, Markus Heggenberger, referierte auf einer Veranstaltung des extrem rechten Cannstatter Kreises. Dies sind — schlaglichtartig — nur einige Verbindungen der „Piusbruderschaft“ in die extreme Rechte.
Wirken der „Piusbrüder“ in Saarbrücken
Das Saarbrücker Priorat St. Maria zu den Engeln in der Julius-Kiefer-Straße 11 besteht seit 1978. Das Missions-Zentrum mit Kirche ist das zweitälteste und zahlenmäßig größte Priorat in Deutschland, mit einem Einzugsgebiet zwischen Südwestpfalz, Saarland und grenznahem Frankreich. Von 500 ,Gläubigen‘ besuchen laut Eigenangaben des Priorats 350 regelmäßig die täglichen, komplett in Latein gehaltenen Gottesdienste. Drei Priester und ein „Bruder“, die auch im Priorat leben, stellen die „kompromisslose Lehre des katholischen Glaubens in seiner Gesamtheit und Einheit“ sicher. Zum Konzept gehört auch eine klerikale Kaderschmiede: Eine Grund-, eine Realschule und ein Internat beheimaten die „starken katholischen Führungskräfte von morgen“. Eine der selbigen, Pater Johannes Reinartz, outete sich in einem Interview am Rande des Marsches 2017 als Kreationist: „Das Problem ist: Wenn heute die Leute sagen, wir stammen alle vom Affen ab, ja wo ist denn da noch der Einsatz für das Menschliche, für das Humanum? Es ist letztlich alles nur noch der Beliebigkeit und dem Zufall preisgegeben. Evolution. Das hängt ja alles zusammen. Da muss man ansetzen. Da muss man ansetzen und den Menschen klarmachen: Die falschen Ideologien führen in die Irre.“
Geführt wurde das Interview von Klagemauer TV. Die haben ihren Sitz in der Schweiz und werden laut MDR der Organischen Christus Generation zugeordnet, einer sektenähnlichen Gruppe unter Leitung des Automechanikers Ivo Sasek. Klagemauer TV, entsprechend seiner Domäne auch als kla.tv bezeichnet, zählt Massenmedien zu den weltweit gefährlichsten Organisationen überhaupt: „Die Lüge der Hauptmedien beginnt bei der Vortäuschung ihrer Vielfalt, obgleich sie sich doch bald weltweit in nur noch einer Hand befinden.“ Verschwörungstheorien, das Narrativ Lügenpresse — auch hier finden christliche Fanatiker und extreme Rechte zusammen.
MDR und BR veröffentlichten im letzten Jahr Informationen zu Sasek. Der Laienprediger soll demnach im deutschsprachigen Raum mehrere Tausend Anhänger haben und Holocaustleugnern, Verschwörungstheoretikern und Nazis eine Bühne bieten. Und eben Pater Reinartz, der Sätze sagt wie: „Eine Gesellschaft, die ihr großes Ideal sieht im Liberalismus, die gibt sich selbst auf. Die wird überrannt, die wird auch keinen Bestand haben.“
Das Priorat Saarbrücken vertritt, wie die gesamte Organisation, eine antipluralistische Linie. Deutlich wird das in den Vorträgen von Stammrednerin Jeanette Schweitzer. Sie war von 1989 bis 1992 Scientologin, stieg dann aus und beriet einige Jahre öffentliche Stellen in Sektenfragen. Ihre Expertise auf diesem Gebiet beruht dabei auf der Selbstinszenierung als Scientology-Opfer. Dass sie sich anschließend anderen Sektierern anbot, deutet auf Schweitzers Faible für religiösen Wahn hin. Sie ist damit als abschreckendes Beispiel geeignet, als qualifizierte Beraterin keinesfalls. Die christlich-fundamentalistische Gemeinschaft geriert sich als einziger Schutz vor der als bedrohlich empfundenen Moderne. In dieser Parallelwelt bewegen sich nicht nur Personen wie Schweitzer, die sich mutwillig und bewusst für den wahnhaften Feldzug gegen sexuelle wie persönliche Freiheit und Menschenrechte entschieden hat.
Indoktrinierung von Kindern
Auch 2017 sind in Saarbrücken auffallend viele Kinder präsent. Die Mädchen tragen Röcke. Sie verteilen Pamphlete, tragen Kerzen, beten. Ein Junge, etwa zehn Jahre alt, hält ein Schild mit der Aufschrift „Mami, gib mir die Chance zu leben“ — ein übergriffiger Appell an das Gewissen von Frauen, die ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung wahrnehmen oder wahrgenommen haben. Dass die Kinder derart instrumentalisiert werden, dass effekthascherisch auf Emotion statt Ratio abgezielt wird, hat System: Die sogenannte Ermutigung zur Mission, das heißt die Teilnahme an Aktionen in der Öffentlichkeit, ist explizit im Leitbild des Don-Bosco-Schulvereins festgehalten. Der Missionierungseifer religionsfanatischer Eltern wird den Kindern aufgedrängt.
Der Don Bosco Schulverein e.V. untersteht vollständig dem deutschen Distrikt der Priesterbruderschaft St. Pius X. und fungiert als Träger von insgesamt drei Schulen und zwei Internaten an den Standorten Saarbrücken und Schönenberg bei Bonn. Unterrichtet wird nach einer sogenannten Präventivmethode. Die besteht darin, Jugendliche mit solch „liebevoller Wachsamkeit“ zu betreuen, dass sie auf keine „schlechten Gedanken“ mehr kommen. Wie diese „liebevolle Wachsamkeit“ konkret aussieht, kann von extern nur spekuliert werden. Über Jahre hinweg gab es aber am Standort Saarbrücken Misshandlungen. Sowohl die Herz-Jesu-Realschule als auch das angeschlossene Internat wurden kurzzeitig von den Behörden wegen Zweifels an der Zuverlässigkeit des Trägers geschlossen. Die „Bruderschaft“ setzte sich jedoch gerichtlich durch: Beide Einrichtungen sind inzwischen wieder in Betrieb. Um die Kapazitäten von laut Eigenangaben derzeit 77 Schüler_innen (Stand: Anfang 2017) ausweiten zu können, wird aktuell ein Neubau errichtet. Er finanziere sich nur aus Spenden des Don Bosco-Schulvereins, heißt es. Öffentliche Finanzhilfen beziehen die Institutionen der „Piusbruderschaft“ auch — die jährliche Unterstützung aus dem Budget des saarländischen Bildungsministeriums (Haushaltsplan des Saarlandes, Einzelplan 06) beträgt 2018 für die Grundschule 153.000 Euro, für die Herz-Jesu-Realschule 446.800 Euro. Damit kommt die Bruderschaft ihrem offen erklärten Ziel, mehr Kinder erreichen zu wollen, wieder ein Stück näher: Wie Pater Reinartz am Rande der diesjährigen Demonstration im Interview erläuterte, solle nicht „diesen antichristlichen Lobbys da von der sexuellen Revolution einfach das Feld überlassen“ werden. Um ihre Ideologie effektiv weiterzuverbreiten, setzt die „Bruderschaft“ auch auf die Ausbildung von Multiplikator_innen — die Einrichtungen in Saarbrücken sind zugelassene Ausbildungsbetriebe für Erzieher_innen im Anerkennungsjahr. Seit Dezember 2017 existiert auch ein Kooperationsvertrag mit der Hochschule Baden Würtemberg (DHBW), der das duale Studium Sozialer Arbeit ermöglicht.
Innerchristliche Kumpanei
In einem zunehmend antiaufklärerischen und wissenschaftsfeindlichen Milieu erhalten die Thesen der antipluralistischen „Lebensschützer“ schnell Zuspruch. Bundesweit steigende Teilnehmerzahlen der Märsche sind ein Indiz. Ein anderes ist die immer unverhohlenere öffentliche Zustimmung bis in Kreise der sogenannten bürgerlichen Mitte. Hier tut sich besonders die CDU hervor. Exemplarisch genannt seien nur die Homofeindlichkeit der neuerdings überregional bekannten Annegret Kramp-Karrenbauer. Die neue CDU-Generalsekretärin stellte die homosexuelle Ehe mit Inzucht gleich. Oder die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Anfang Februar in einem Akademie- und Tagungszentrum des Bistums Mainz eine Anti-Gender-Tagung durchführte.
Man übernimmt nicht nur den Jargon, sondern scheut auch nicht den direkten Kontakt zu den Rechtsklerikalen: Gleich mehrere Politiker_innen waren in jüngster Zeit bei den Pius-Schulen zu Gast. So sprach der Halberger Bezirksbürgermeister Daniel Bollig (CDU) am 27. Januar einige Grußworte auf dem jährlichen Patronatsfest. Peter Strobel (CDU), frisch gebackener Finanzminister des Saarlandes, betonte am 29. Mai 2016 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Don-Bosco-Schule seine Verbundenheit mit der Einrichtung. Die Saarbrücker Oberbürgermeisterin Charlotte Britz (SPD) besuchte die Schulen im November 2017. Man baut im Priorat St. Maria zu den Engeln wohl darauf, sich — nach dem Ärger mit den Behörden in der Vergangenheit — durch strategische Vernetzung künftig das Wohlwollen regionaler Entscheidungsträger zu sichern.
Bundesweit ergibt sich eine krude Melange aus christlichem Fundamentalismus, AfD- und Neonazi-Kadern, „Neurechten“ und dem Bürgertum. Demgegenüber gilt es festzuhalten: Die Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung obliegt der ethischen Bewertung der werdenden Mutter. Die Frage, wie mühsam erkämpfte, emanzipatorische Errungenschaften vor den extrem rechten und immer gezielter politisch agierenden „Lebensschützern“ geschützt werden können, obliegt uns allen.