Nationalistischer Imperativ per Gesetz

Der Kampf um die Deutungshoheit der polnischen Geschichte

Seit Oktober 2015 ist die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ („Prawo i Sprawiedliwość“, PiS) in Polen an der Macht. Geschichts- und Erinnerungspolitik spielten bereits im Wahlkampf eine zentrale Rolle und wurden auch nach der Wahl extensiv und aggressiv für die Legtimation des politischen Handelns herangezogen.

Seit Oktober 2015 ist die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ („Prawo i Sprawiedliwość“, PiS) in Polen an der Macht. Geschichts- und Erinnerungspolitik spielten bereits im Wahlkampf eine zentrale Rolle und wurden auch nach der Wahl extensiv und aggressiv für die Legtimation des politischen Handelns herangezogen.So findet die umstrittene Justizreform ihre Legitimation darin, dass sie „(Post-) Kommunistische Institutionen“ beseitigen will. Die Verschärfung des ohnehin schon restriktiven Abtreibungsgesetzes geschieht in Abgrenzung zur liberalen Gesetzgebung volksrepublikanischer Zeiten. Auch die Diskreditierung der Proteste tausender Pol_innen gegen diese Verschärfung als „kommunistisch“ wird durch die staatliche geschichtspolitische Offensive der PiS, die aber auch vom Institut des nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) geführt wird, untermauert. Die geschichtsklitternde, mit nationalistischen Narrativen durchsetzte Erinnerungspolitik der PiS ist wesentlicher Bestandteil der politischen Abgrenzung nach außen und zielt auf die Konsolidierung des nationalen Zusammenhalts im Inneren.

Eine neue alte Erzählung

Der erinnerungspolitische Diskurs der PiS stellt der polnischen Gesellschaft ein bekanntes nationales Narrativ zur Verfügung. Kraft und historische Größe sollen besonders betont werden, (individuelles) Fehlverhalten hingegen findet keinen Platz im öffentlichen Diskurs über Geschichte. Alle diese Themen trugen zum Wahlsieg der PiS wesentlich bei. Trotz der aktuellen diplomatischen Krise steigen die Zustimmungswerte der PiS weiterhin.

Ausschlaggebend in dieser neuen alten Erzählung sind die Motive vom heroischem Kampf und dem polnischen Opfertum sowie die immer wiederkehrende Angst vor der „Vernichtung“ des polnischen Volkes. Diese bezieht sich auf die drei Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795, bei denen Polen von Österreich, Preußen und Russland untereinander aufgeteilt wurde, den sowjetisch-polnischen Krieg 1919 bis 1921, den Überfall auf Polen durch die deutsche Wehrmacht und die infolge des geheimen Zusatzprotokolls des Ribbentrop-Molotov-Pakts 1939 erfolgte Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion. Eine ebenso wichtige Rolle spielen die Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 durch die deutschen Besatzer und die ausbleibende Unterstützung durch die Rote Armee sowie die Errichtung der (kommunistischen) Volksrepublik Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ihren Höhepunkt findet die Erzählung in der Gleichsetzung der deutschen Okkupation durch die NationalsozialistInnen und der Volksrepublik Polen nach dem zweiten Weltkrieg und, damit einhergehend, einer bis heute andauernden Dämonisierung alles „Linken“.

„Polnische Lager“?

Der aktuelle, allgemein als „Holocaust“-Gesetz bekannt gewordene geschichtspolitische Vorstoß ist von weitreichender Bedeutung. Erklärtes Ziel des Gesetzes ist „der Schutz des guten Rufes der Republik Polen und des Polnischen Volkes“. Dieser sei insbesondere dann gefährdet, wenn bezugnehmend auf die von den NationalsozialistInnen auf dem Gebiet des 1939 besetzten Polens errichteten Konzentrations- und Vernichtungslager von „polnischen Lagern“ die Rede sei. Zweifellos stellt eine solche Formulierung eine Verzerrung der Geschichte zu Lasten der Pol_innen dar, die zuvorderst Opfer nationalsozialistischer Verbrechen waren. Im neuen Gesetz kommen „polnische Lager“ jedoch überhaupt nicht mehr vor. Stattdessen heißt es, dass, wer „öffentlich und tatsachenwidrig“ — wobei die Definition von „Öffentlichkeit“ allein der Staatsanwaltschaft obliegt — die Verbrechen der Nationalsozialisten oder kommunistische Verbrechen leugnet oder „öffentlich und tatsachenwidrig dem Polnischen Volk oder dem Polnischem Staat die Verantwortung bzw. Mitverantwortung für die durch das Dritte Reich begangenen Naziverbrechen […] zuschreibt, oder auf eine andere Weise die Verantwortung der tatsächlichen Täter dieser Verbrechen vermindert, […] mit einer Geldstrafe oder Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren bestraft“ wird. Ein Vorsatz muss nicht nachgewiesen werden. Auf dieser Grundlage könnte also nicht nur die tatsachenwidrige Rede von „polnischen Lagern“ strafrechtliche Relevanz bekommen, sondern auch die Veröffentlichung von Inhalten, die nach Auffassung der PiS, die seit der Justizreform sowohl die gesetzgebenden und -durchsetzenden Instanzen fest in der Hand hält, den „guten Ruf“ der polnischen Nation beeinträchtigen.

Kriminalisierung von Wissenschaft und Kunst

Wissenschaftliche Forschung und künstlerische Auseinandersetzung sind zwar formal von der Strafverfolgung ausgenommen, allerdings kann beispielsweise die Präsentation von Forschungsergebnissen außerhalb eines wissenschaftlichen Kontextes strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Kritischen Wissenschaftler_innen kann so die Möglichkeit genommen werden, ihre Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam bekannt zu machen. Darüber hinaus soll das neue Gesetz dezidiert auch auf Nicht-Pol_innen angewendet werden und könnte somit faktisch zum Instrument zur Verhängung von Einreiseverboten für politisch unliebsame Wissenschaftler_innen werden. Eine kritische öffentliche Debatte über geschichtspolitische Themen, die die Rolle Polens allgemein, aber auch einzelner Pol_innen und deren Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden und MörderInnen betrifft, wird so kriminalisiert und unmöglich gemacht.

Symbole statt Debatte

Sowohl das Einreichen der Gesetzesnovelle im polnischen Parlament, dem Sejm, als auch das Inkrafttreten des Gesetzes liegen zeitlich nah an symbolträchtigen Daten der polnischen Geschichte. So wurde die Gesetzesnovelle am 26. Januar 2018, also am Tag vor dem internationalen Holocaust-Gedenktag, vom Sejm verabschiedet. Staatspräsident Andrzej Duda unterzeichnete das Gesetz ohne Not frühzeitig am 6. Februar 2018 und unterband somit in klassischer PiS-Manier weitere politische Diskussionen. Vermutlich auf Druck des Auslands überstellte er die Novelle jedoch zur Prüfung an das Verfassungsgericht. Pointe: Es handelt sich um eben jenes Gericht, das seit der Justizreform personell neu besetzt wurde und nicht mehr unabhängig ist. Das Gesetz trat, trotz andauernder Prüfung, planmäßig zum 1. März 2018 in Kraft und berührt auch hier ein geschichtspolitisch heikles Datum: den 50. Jahrestag der Studentenrevolte in Warschau vom März 1968. Diese entzündete sich am Aufführungsverbot eines von Moskau als antisowjetisch interpretierten Theaterstücks und mündete in der allgemeinen Forderung nach Presse- und Meinungsfreiheit. Die kommunistischen Machthaber reagierten mit einer massiv antisemitischen Kampagne, die zehntausende polnische Jüd_innen dazu brachte, das Land zu verlassen. Selbst wenn diese Termine nicht absichtlich gewählt sein sollten, zeugen sie doch deutlich davon, welche Richtung die Auseinandersetzung mit der Geschichte nimmt. Die PiS verfolgt, frei nach Foucault, einen Kurs der Gegen-Geschichte, eine Instrumentalisierung historischen Wissens, um Kontrolle über den öffentlichen Diskurs zu erlangen.

Widersprüche und Täter-Opfer-Umkehr

Dabei verfängt sich die polnische Regierung in der Bewertung der Ereignisse regelmäßig in Widersprüchen. Während für die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung die „Gerechten unter den Völkern“, also diejenigen Pol_innen, die Jüd_innen vor den Deutschen retteten, besonders stark hervorgehoben werden, für sie eigene Museen kreiert wurden und weitere sich in Planung befinden, ist die Erzählung über die antisemitische Kampagne anlässlich der Studentenrevolte im März 1968 eine ganz andere: Da diese in der von der Sowjetunion abhängigen Volksrepublik Polen stattfand, habe es zu diesem Zeitpunkt keinen eigenen polnischen Staat gegeben, womit auch kein polnischer Antisemitismus existiert haben könne.

Auch die Gesten der polnischen Regierung während der Debatte um das neue Gesetz sprechen Bände. So bekundete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2018 einem israelischen Journalisten gegenüber, es habe „jüdische Täter, ebenso wie polnische, russische etc.“ gegeben. Seine Kranzniederlegung an den Gräbern der Soldaten der „Brygada Świętokrzyska“ („Heiligkreuz-Brigade“), die zu den „verfemten Soldaten“ zählen, die nach aktueller Lesart bislang nicht ausreichend gewürdigt wurden, ist hingegen Teil einer umfassenderen Heroisierung jedweden antikommunistischen Widerstands ohne jede inhaltliche Differenzierung. Der Gedenkstein für die Brigade, die aufgrund ihres aggressiven Antisemitismus in keiner anderen polnischen Widerstandsarmee akzeptiert wurde, befindet sich in München, da sie sich am Ende des Krieges gemeinsam mit der Wehrmacht Richtung Westen zurückzog.

„Nie wieder!“

Obwohl die Opposition sich nicht klar gegen die Vereinnahmung der Geschichte aussprach, wurde dennoch ein Gegenentwurf zum Gesetz eingebracht, der vor allem die Formulierung „polnische Vernichtungslager“ in den Fokus rückte. Die PiS erklärte daraufhin, dass es bis zu einer Einigung bezüglich des Gesetzes zu keiner Anzeigenverfolgung kommen würde, schwächte diese Aussage später jedoch wieder ab. Bislang wurde keine Verfolgung aufgrund der bis Ende März 2018 eingegangenen 22 Anzeigen oder gar eine Verurteilung bekannt. Welche Gründe dies hat, ist jedoch unklar. Doch auch wenn dies weiterhin so bleiben sollte, ist mit dem Gesetz, den Debatten im Sejm und den öffentlich geführten Diskussionen und Kampagnen die Grundlage geschaffen, künftig ausschließlich der eigenen nationalen Meistererzählung zu folgen und unbequeme historische Tatsachen zu beschönigen oder zu verleugnen. Das Gesetz ist der Versuch der nationalkonservativen polnischen Regierung, die alleinige Deutungshoheit über die polnische Geschichte zu festigen und Kritik daran zu kriminalisieren. Für die emanzipatorische Linke in Polen bedeutet dieser Vorstoß einmal mehr einen Einschnitt, für die Rechte in Polen eine weitere Ausweitung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Aus einer emanzipatorischen Perspektive gilt es, die jeweils spezifische Ausprägung staatlicher Bemächtigung der Geschichte zum Zwecke der Legitimation der eigenen nationalistischen Politik zu kritisieren. Stattdessen muss das von den Häftlingen der befreiten Konzentrationslager postulierte „Nie wieder!“ zurück in den Vordergrund der geschichtspolitischen Praxis gebracht werden und mit ihm jedem Ansatz von Geschichtsrevisionismus entschieden widersprochen werden.

Zum Weiterlesen

Franczak, Karol; Nowicka, Magdalena: Des Kaisers neue Kleider. Eine Analyse des aktuellen rechtskonservativen Geschichtsdiskurses in Polen, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/des-kaisers-neue-kleider.

Peters, Florian: „Jüdische Täter“ und polnische Retter. 50 Jahre nach dem März 1968 verstrickt sich Polens Rechtsregierung in ihren selbst konstruierten Mythen, http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/juedische-taeter-und-polnische-retter

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