„Nicht aufhören, nach Antworten zu suchen“

Aktuelle Entwicklungen im NSU-Prozess

Im Münchener NSU-Prozess versucht die Verteidigung, den Urteilsspruch weiter zu verzögern. Forderungen der Nebenklage, die staatliche Verantwortung für die NSU-Morde zu thematisieren, fanden vor dem Oberlandesgericht kein Gehör.

Im Münchener NSU-Prozess versucht die Verteidigung, den Urteilsspruch weiter zu verzögern. Forderungen der Nebenklage, die staatliche Verantwortung für die NSU-Morde zu thematisieren, fanden vor dem Oberlandesgericht kein Gehör.Zwar bekam erstmals ein Mitarbeiter einer Verfassungsschutz-Behörde strafrechtliche Konsequenzen für sein Handeln zu spüren, doch Fragen zu den von ihm vernichteten Akten konnten dem früheren Beamten im Bundesamt für Verfassungsschutz, Axel M. (Deckname: Lothar Lingen), nicht öffentlich gestellt werden. Das Ermittlungsverfahren, das im November 2016 nach Anzeigen von Angehörigen von NSU-Opfern eingeleitet worden war, wurde Ende März 2018 ohne Hauptverhandlung gegen eine geringe Geldbuße in Höhe von 3.000 Euro seitens der Staatsanwaltschaft Köln eingestellt. Die Nebenklage hatte mehrfach versucht, die Schredder-Aktionen im NSU-Prozess zu thematisieren, was das Gericht aber verweigerte.

Weitere Plädoyers der Nebenklage

Zuletzt ging es an insgesamt 19 Verhandlungstagen des Prozesses noch einmal um die Perspektive der Angehörigen und Opfer des NSU, ihre bis heute offenen Fragen und das Versagen von Gericht und Behörden bei der Aufklärung der Taten. Neben den bereits in der letzten Ausgabe (vgl. Lotta #69) erwähnten Plädoyers hatten im Januar und Februar die restlichen Nebekläger_innen und ihre Anwält_innen das Wort. Besonders eindrücklich war das Plädoyer der Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Angehörige des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek vertritt. Sie thematisierte den tief verankerten institutionellen Rassismus. Obwohl alle Mordkommissionen der Ceska-Mordserie in unterschiedlichen Bundesländern mit verschiedenen historischen Bedingungen und juristischen Traditionen gelegen hätten, sei ihr Verhalten in einem wesentlichen Punkt identisch gewesen, so die Anwältin. Die Polizei sei derart von Vorurteilen beherrscht gewesen, dass ein rassistisches Motiv für sie nicht denkbar gewesen sei. Der Rassismus zeige sich in Abläufen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die durch unbewusste Vorurteile, Nichtwissen, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype zu Diskriminierung führen und Menschen benachteiligen, so Başay-Yıldız. Der NSU sei insoweit erfolgreich gewesen, als dass die migrantischen Bevölkerungsgruppen verunsichert seien und sich nicht geschützt fühlten, insbesondere nachdem klar geworden sei, wer die Morde begangen habe.

Die Anwältin machte auf die Kluft aufmerksam, die sich auch im Gerichtssaal widerspiegelt: „95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie Opfer eines rassistischen Anschlages sein. […] 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie in die Situation kommen, dass man ihnen oder ihren Angehörigen an ihrem Arbeitsplatz — während sie arbeiten — in den Kopf schießt, weil sie Ausländer sind. 95 Prozent der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden auch nie verstehen, was es heißt, wenn die Polizeibeamten dieses Landes nicht in der Lage sind, sie unabhängig von Ihrer Herkunft zu schützen. Und nicht nur das: Sie verdächtigen, selbst schuld an ihrem Tod zu haben. Deswegen können Sie auch nicht begreifen, was solche Taten mit Menschen anstellen.“ In ergreifender Weise schilderte der Sohn von Enver Şimşek, Abdul Kerim Şimşek, die Situation nach der Ermordung seines Vaters. Bis zur Aufdeckung des NSU habe er versucht, den Mord geheim zu halten und niemanden davon erzählt. Auch wenn es absurd klinge, sei er erleichtert gewesen, als er hörte, dass sein Vater von Nazis umgebracht wurde und so seine Unschuld bewiesen ist: „Die Heimlichtuerei konnte endlich aufhören.“

Yvonne Boulgarides, Ehefrau des in München ermordeten Theodoros Boulgarides, betonte, dass trotz der angeblichen „lückenlosen Aufklärung“ viele Fragen offen seien. Die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche hätten sie mit noch mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen. Trotz allem sollte die Suche nach Antworten auch nach dem Prozess weiter gehen: „Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist.“

Den Abschluss der Nebenklage-Plädoyers bildete der Schlussvortrag des Anwalts der Familie Boulgarides, Yavuz Narin. Zum Ende seines prägnanten und bewegenden Plädoyers wendete sich Narin an den Senat: „Haben Sie den Mut, nicht so zu tun, als sei alles in Ordnung. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Senat ein Urteil fällen wird, das der Revision standhält. Ich darf an Sie appellieren: Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat.“

Verzögerungen und Verschleppungstaktiken

Die Verteidigung der Angeklagten Wohlleben, Eminger und Zschäpe hatte immer wieder die Plädoyers der Nebenklage unterbrochen und gestört. Besonders perfide tat sich dabei die Wohlleben-Anwältin Nicole Schneiders hervor, die sich während des Plädoyers von Anwältin Başay-Yıldız kurzzeitig von ihrem Kanzlei-Kollegen Steffen Hammer vertreten ließ. Dieser war Sänger der Rechtsrock-Band Noie Werte, deren Musik der NSU in früheren Versionen seines Bekennervideos benutzte. Währenddessen erreichte die Verteidigung Ralf Wohllebens durch die Stellung mehrerer Beweis- und Befangenheitsanträge die Absage diverser Verhandlungstage. Zwischenzeitlich versuchte die Alt-Verteidigung Beate Zschäpes erneut, sich vom Mandat entbinden zu lassen. Auch die Verteidigung André Emingers, der nach den Plädoyers des Bundesanwaltschaft aufgrund der hohen Strafforderung überraschend festgenommen wurde, versuchte mehrfach, das Gericht für befangen zu erklären. Nachdem dies erwartungsgemäß nicht erfolgreich war, wechselte Eminger die Taktik und beantragte kurz vor Beginn der Angeklagten-Plädoyers, den Düsseldorfer Szene-Anwalt Björn Clemens als dritten Verteidiger zu bestellen. Als das Gericht den Antrag ablehnte, folgte ein weiterer Befangenheitsantrag, der kurz darauf absurderweise von dem Karlsruher Anwalt Daniel Sprafke wieder zurückgezogen wurde. Sprafke forderte das Gericht auf, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen und den Prozess zwecks Einarbeitung für Wochen zu unterbrechen. Der Ablehnung des Gerichts folgten: drei Befangenheitsanträge.

„Kein Schlussstrich“

Die Verteidigung verzögert damit weiterhin das Urteil, obwohl nur noch wenige Prozesstage ausstehen. Da das Urteil spätestens zehn Tage nach dem letzten Plädoyer gesprochen werden muss, wird der genaue Termin erst wenige Tage vorher feststehen. Zur Urteilsverkündung ruft das antifaschistische Bündnis „Kein Schlussstrich“ zu einer Demonstration in München auf. Das Ende des Prozesses bedeute, so das Bündnis, nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und der Gesellschaft, die ihn möglich gemacht habe. Zu diesen Forderungen gehört auch das Gedenken an die Opfer des NSU, das sich in einigen Städten mittlerweile fest etabliert hat. In Dortmund und Kassel gedachten mehrere hundert Menschen den 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Während sich in Kassel den vergangenen Jahren auch die Stadt am Gedenken beteiligt hatte, blieben die Offiziellen diesmal fern. Wenige Tage zuvor hatte die Stadt mit Verweis auf Sicherheitsprobleme ihre Kundgebung abgesagt. Die Polizei hingegen hatte erklärt, die Kundgebung problemlos schützen zu können.

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