Studentisches Teach-in 1968.
Bundesarchiv

„1968“: Deutungskämpfe und Aktualität

Interview mit dem Historiker Detlef Siegfried

50 Jahre „1968“: In den Buchhandlungen biegen sich die Regale unter den zahlreichen Publikationen zu diesem zeithistorischen Jubiläum. Fernsehdokumentationen und Ausstellungen greifen das Thema auf. Nach wie vor geistert die Auseinandersetzung mit „1968“ durch Feuilletons und politische Diskurse. In den unterschiedlichen Betrachtungen erscheint „1968“ als „Epochenjahr“, als libertäre „Revolte“ oder als Ausgangspunkt einer seit 50 Jahren währenden „gesellschaftlichen Zerstörung“. Ein Gespräch mit dem Historiker Detlef Siegfried.

50 Jahre „1968“: In den Buchhandlungen biegen sich die Regale unter den zahlreichen Publikationen zu diesem zeithistorischen Jubiläum. Fernsehdokumentationen und Ausstellungen greifen das Thema auf. Nach wie vor geistert die Auseinandersetzung mit „1968“ durch Feuilletons und politische Diskurse. In den unterschiedlichen Betrachtungen erscheint „1968“ als „Epochenjahr“, als libertäre „Revolte“ oder als Ausgangspunkt einer seit 50 Jahren währenden „gesellschaftlichen Zerstörung“. Ein Gespräch mit dem Historiker Detlef Siegfried.

Lässt sich „1968“ aus historischer Perspektive überhaupt auf einen Nenner bringen?

Das ist tatsächlich schwer. Das Phänomen zerrinnt einem gewissermaßen zwischen den Fingern, gerade weil so vieles in die Chiffre „1968“ hinein projiziert werden kann. Traditionell wird, zumindest in Deutschland, „1968“ hauptsächlich mit der Studentenbewegung identifiziert, so wie das etwa der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar tut. In dieser Perspektive wäre „68“ vor allem eine Bewegung der Nachwuchselite an den Hochschulen. Im Fokus stehen die sich dort formierenden politischen Strömungen. Ich neige dazu, „68“ als eine Jugendrevolte zu beschreiben, dann geraten neben den Hochschulen und den Großstädten auch die Provinz und andere Akteure in den Blick. Es sind nicht nur die Studenten, die aufbegehren, sondern auch Arbeiterjugendliche, Schüler oder die so genannten Gammler. Daneben gibt es in der Forschung radikalfunktionalistische Positionen, in denen argumentiert wird, es habe in den 1960er Jahren ohnehin einen gesellschaftlichen Wandel gegeben, der von den „68ern“ vorangetrieben worden sei und gleichsam zu einer Modernisierung des Kapitalismus geführt habe. Das ist freilich eine relativ mechanistische Deutung. Gleichwohl ist es notwendig, um den historischen Ort von „1968“ vermessen zu können, die gesamte Gesellschaft und die schon früher einsetzenden sozialen und kulturellen Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen — etwa den Wandel von traditionellen Geschlechterbildern und Familienvorstellungen, das Freizeit- und Konsumverhalten oder das Entstehen sich ausdifferenzierender Jugendkulturen seit den 1950er Jahren. Allerdings sollte durch diese Perspektiven „1968“ nicht entpolitisiert werden. Die politisch radikalen Ansätze, die den SDS, aber teilweise auch die Lehrlingsbewegung kennzeichneten, entfalteten eine bedeutsame eigenständige Wirkung.

Die Chiffre „1968“ dient auch nach 50 Jahren für Teile des konservativen und extrem rechten Spektrums als mobilisierender Kampfbegriff. Wenn etwa AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen gegen das „rot-grün versiffte 68er Deutschland“ polemisiert und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt postuliert, dass „50 Jahre nach 1968“ die Zeit für eine „bürgerlich-konservative Wende“ gekommen sei. Warum immer wieder dieser Rekurs auf „1968“?

Das war eigentlich schon immer so. Bis hinein in die aufgeklärteren Kreise der CDU. Trotz der gerade skizzierten Vielschichtigkeit von „68“ wird mit der Chiffre eben doch ein grundsätzlicher Wandel der Gesellschaft nach links — mit global sozialistischen Zielperspektiven auf der politischen Ebene, aber auch einem Wandel von Wertvorstellungen und Lebensstilen in Verbindung gebracht. Was von der Rechten bis heute damit assoziiert wird, ist die kulturpessimistische Behauptung eines sich kontinuierlich vollziehenden „Werteverfalls“. Daran ist die idealisierende Vorstellung geknüpft, dass es früher einmal „gute Werte“ — wie etwa Familie, Heimat oder Kirche gegeben habe, die durch die „68er“ zerstört worden seien. Der Konservatismus ist ja immer bestrebt, das Bestehende zusammenzuhalten und darauf zu insistieren, dass „Traditionen“ nicht einfach über Bord geworfen werden. Dahinter steht das Idealbild einer organisch gewachsenen Gesellschaft, die sich allenfalls langsam aus ihren Traditionen heraus verändert. Konservative und extrem rechte Deutungen unterstellen den „68ern“, radikale, gleichsam „unorganische“ Veränderungsprozesse in Gang gesetzt zu haben. Klar ist natürlich auch: Es geht bei solchen Interpretationen weniger um eine historisch präzise Einordnung von „1968“, sondern um gegenwartsbezogene Ziele: die Reetablierung einer autoritären gesellschaftlichen Ordnung, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr existiert, deren Transformation jedoch keineswegs nur das Werk der „68er“ gewesen ist. Deren Protagonisten als Auslöser eines angeblichen „Werteverfalls“ zu denunzieren, geht an der historischen Realität vorbei.

Zumal die Veränderungsprozesse „um 1968“ auch die konservativen Milieus, die Kirchen, nicht zuletzt die Unionsparteien beeinflussten…

Genau. Dem parteipolitischen Rechtsaußenspektrum, also der AfD und auch der CSU geht es ganz wesentlich darum, einen Kontrapunkt gegen liberalere Strömungen in der CDU zu setzen, nämlich gegen jene Vertretern der Union, die sich schon 1988 als „alternative 68er“ bezeichnet haben, aber auch gegen Positionen, wie sie Heiner Geißler in seinen späten Jahren oder die langjährige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth bezogen haben. Obgleich sich Geißler noch während der 1980er Jahre als Scharfmacher gegen die politische Linke und die neuen sozialen Bewegungen zu profilieren versuchte, trugen er und die selbst ernannten „alternativen 68er“ dazu bei, aus der CDU, die am Ende der 1960er Jahre noch eine traditionalistische Honoratiorenpartei darstellte, eine breiter ausgerichtete, demokratischer aufgebaute Volkspartei zu formen. Bei den gegenwärtigen Polemiken gegen „1968“ geht es also auch um einen Machtkampf innerhalb der Unionsparteien. Unverkennbar ist die Absicht, den unter Angela Merkel weiter gewachsenen Einfluss liberalerer Interpretationen des Konservatismus zurückdrängen.

Das heißt, bei einem großen Teil der aktuellen Debatten um „1968“ geht es gar nicht um eine Interpretation des eigentlichen historischen Gegenstands?

Meiner Beobachtung nach wird die Auseinandersetzung über „68“ gegenwärtig weniger polarisiert geführt als noch vor zehn Jahren. Damals entzündeten sich die Kontroversen vor allem an den Thesen von Götz Aly, der in seinem Buch „Unser Kampf“ die Studentenbewegung in die Nähe des Nationalsozialismus rückte. 2008 wurden die Diskussionen aber vor allem in den Feuilletons geführt und kreisten um die Deutung von „1968“ im engeren Sinne. Die aktuellen Polemiken von Dobrindt und Meuthen zielen jedoch auf eine breitere politische Öffentlichkeit, was ich insofern für gefährlicher halte, als es hier um die aktuelle Entwicklungsrichtung der gesamten Gesellschaft geht und nicht nur um Interpretationen von „1968“.

Noch einmal zu den Debatten um Götz Alys Interpretation der „68er“: Was ist dran an seiner Auffassung, dass deren Protagonisten ihren nationalsozialistisch geprägten Eltern ähnlicher waren, als sie es selbst wahrnehmen wollten — die „68er“ gleichsam die Wiedergänger der „33er“ darstellten?

Ich finde es richtig, nach einer deutschen Spezifik von „1968“ zu fragen. Die NS-Vergangenheit ist dann natürlich nicht auszuklammern. Viele Akteure haben sich damals schon mit der Bedeutung familiärer Prägungen, unterschwelliger Kontinuitätslinien und der Erziehung zur autoritären Persönlichkeit beschäftigt. Insofern gibt es durchaus ein selbstkritisches Element innerhalb der 68er Bewegung, das sich an der NS-Vergangenheit abarbeitet. Aber auch deren Gegner haben diese Bezüge zum Nationalsozialismus immer wieder hergestellt — und zwar in diskreditierender Absicht, so etwa der Soziologe Erwin K. Scheuch oder der Historiker Gerhard A. Ritter. Besonders eindrücklich waren die Schlagzeilen etwa der Bild-Zeitung, in denen von dem „Terror der Jung-Roten“ die Rede war und Parallelen zur SA nahegelegt wurden. Aus dieser Perspektive sind die Thesen von Aly mehr oder weniger kalter Kaffee. Die Gleichsetzung zwischen den Nazis und den jungen Revolutionären um 1968, die er vornimmt, halte ich für völlig verfehlt. Sie ist viel zu schablonenhaft und erklärt nicht viel. Aber man muss natürlich sehen: Der Band von Götz Aly war von vornherein als Skandalbuch angelegt.

Eine andere These von Aly, die auch von zahlreichen anderen Interpreten geteilt wird, lautet, dass die „68er“ sich kaum für die NS-Vergangenheit interessiert und zu deren Aufarbeitung wenig beigetragen hätten.

Auch hier hilft es, einen längeren Zeitraum in den Blick zu nehmen. In den Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit passiert zwischen den späten 1950er und Mitte der 1960er Jahre unheimlich viel. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess und die Einrichtung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg im Jahr 1958, der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und der Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 wurden von großen Diskussionen über den Nationalsozialismus begleitet, die sowohl in der Wissenschaft, als auch in der Öffentlichkeit und in studentischen Gruppen geführt wurden. Die 1959 erstmals gezeigte, von Reinhard Strecker konzipierte Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ wurde vom SDS initiiert. Und natürlich hat man in linken Studentenkreisen die entsprechenden Bücher gelesen: „Die Ermittlung“ von Peter Weiss oder „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth. Ab Mitte der 1960er Jahre gewannen schließlich die Faschismustheorien an Bedeutung, die etwa in der Zeitschrift „Das Argument“ entfaltet wurden. Häufig wird argumentiert, die Faschismusdiskussion sei viel zu abstrakt geführt worden. Ich sehe das eher so, dass es Mitte der 1960er Jahre einen Wust an völlig neuer Empirie über die NS-Verbrechen gab, der auf diese Weise verarbeitet wurde. Man bemühte sich auf einer abstrakteren Ebene zu verstehen, was da passiert ist. Unter Berufung auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber auch auf Peter Weiss, der seine Eindrücke des Auschwitz-Prozesses in „Die Ermittlung“ verarbeitete hatte, identifizierte man den Kapitalismus als Ursache für den Faschismus. In den späten 1960er Jahren trat dann tatsächlich die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in den Hintergrund. Dies galt aber für die Gesellschaft der Bundesrepublik insgesamt. Für linke Gruppen gewann die „Dritte Welt“ an Bedeutung. Gänzlich aus dem Blick geriet die NS-Vergangenheit jedoch nie. Als seit dem Ende der 1970er Jahre die Auseinandersetzung mit der Shoah und der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus stärker ins öffentliche Bewusstsein rückte, waren es häufig ehemalige „68er“, die nunmehr als Lehrer ihre Schüler ermutigten, sich mit der NS-Vergangenheit zu beschäftigen. Die Behauptung, dass die „68er“ nichts mit dem Thema zu tun haben wollten, ist zumal in dieser Pauschalität schlichtweg falsch.

Wir haben bis jetzt nur über die deutsche Diskussion gesprochen. „1968“ hatte aber auch und vor allem eine internationale Dimension. Verlaufen die geschichtspolitischen Deutungskämpfe in anderen Ländern ähnlich polarisiert?

Das ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Frankreich beispielsweise hat es schon seit den 1970er Jahren eine äußerst kritische Auseinandersetzung gegeben. Das Renegatentum war dort besonders stark entwickelt. Damit meine ich, dass frühere Linksradikale ihre Positionen um 180 Grad änderten und sich scharf gegen die Ideen von „68“ und deren Akteure wandten. Das ist nicht unbedingt repräsentativ, spielt aber in den französischen Debatten bis heute eine Rolle. In Dänemark, wo ich arbeite, hat es um 2000 eine sehr kritische Debatte zur politischen Linken gegeben, die weniger unter dem Stichwort „1968“, sondern genereller geführt wurde. Der Fokus richtete sich auf das unkritische Verhältnis linker Organisationen zu den kommunistischen Regimen in China, Kambodscha und der Sowjetunion während der 1970er Jahre. Die Beobachtung, dass in Dänemark, aber auch in anderen Ländern, „1968“ nicht so stark polarisiert, hat damit zu tun, dass „1968“ dort weniger politisch als kulturell und gewissermaßen unideologischer gedeutet wird. Das historische Geschehen erscheint in Dänemark zum Beispiel zweigeteilt: Während sich die Universität Aarhus zum politischen Kristallisationspunkt der Bewegung entwickelte, bildete Kopenhagen mit seinen Clubs, Kommunen, der Undergroundmusik das Zentrum einer Gegenkultur, das Hippies aus ganz Europa anzog. Ähnliches gilt auch für die Niederlande, wo durch die Aktionen der Provos und der Kabouterbewegung auch der politische Protest stark kulturelle Züge trug. In den USA findet die Bezeichnung „1968“ kaum Erwähnung. Dort ist in der Regel von den „Sixties“ die Rede, was wiederum darauf verweist, dass in der amerikanischen Perspektive den schon früher einsetzenden gegenkulturellen Transformationsprozessen entscheidende Bedeutung beigemessen wird. Eine Wahrnehmung, die auch in Großbritannien vorherrschend ist. Mir ist nicht bekannt, dass es dort jemals eine größere Debatte um „1968“ gegeben hätte. Dagegen ist in Deutschland nach wie vor eine vorwiegend politische Perspektive auf „68“ prägend, während die kulturellen Aspekte — Musik, Kommunen, Lebensstile — lange ausgeblendet blieben. Vielfach wird „1968“ immer noch verkürzend als Ausgangspunkt für die Gewalt der RAF, die autoritären K-Gruppen und linken Antisemitismus identifiziert. Gerade die polarisierten Terrorismusdebatten der 1970er und 1980er Jahre wirken bis heute nach. Die extremsten Ausprägungen gelten somit als charakteristisch für das Ganze.

Eine Frage zum Schluss: Ist „1968“ Geschichte? Oder kann die Beschäftigung mit „1968“ sozialen Bewegungen noch heute, Perspektiven, Ideen und Impulse vermitteln?

Ich bin skeptisch gegenüber der These, dass man aus der Geschichte viel lernen kann. Gleichwohl halte ich aber „1968“ nicht für abgefrühstückt, schon deshalb nicht, da es ja vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen politischen Situationen immer wieder neu interpretiert wird. Ich glaube, dass das Thema gerade jetzt, wo der Zug in Richtung „große Regression“ geht, mit zunehmendem Ethnozentrismus, nationalistischer Abschottung und steigender sozialen Ungleichheit keineswegs nur Geschichte ist. Viele der Fragen, die 1968 grundsätzlich aufgeworfen worden sind, wurden ja nicht gelöst. Im Gegenteil haben sich die Probleme sogar weiter zugespitzt. Und das könnte durchaus auch ein Grund für neue soziale Bewegungen sein, an Ideen von 1968 festzuhalten und darüber zu diskutieren, inwiefern diese noch gültig sind, ob und welche Orientierung sie für das eigene Handeln bieten können — gerade weil es ja immer um Gegenwartsauseinandersetzungen geht. Die Rechten nutzen den Verweis auf „68“, um sich abzugrenzen. Die Linke kann sich auf „68“ beziehen, um daran ihre eigene Identität zu kristallisieren. Denn die gegenwärtige Debatte um „68“ ist in erster Linie ein Kulturkampf von Rechts, gegen den man etwas unternehmen muss, da das sonst in eine sehr gefährliche Richtung geht.

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