„Ein Urteil darf nicht die Fehler der Ermittlungsbehörden vertuschen“
Interview mit Rechtsanwalt Alexander Hoffmann
Viel war seit der Festnahme von Ralf S. davon die Rede, dass die Staatsanwaltschaft eine überzeugende und geschlossene „Indizienkette“ in der Tasche habe, die es ermöglichen würde, dem Angeklagten die Tat zweifelsfrei nachzuweisen. Es kam anders. Über das Strafverfahren sprach LOTTA mit dem nicht am Wehrhahn-Prozess beteiligten Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, einem der Nebenklagevertreter im Münchner NSU-Prozess.
Was ist das Besondere an einem Indizienprozess?
Als Indizienprozess wird allgemein ein Strafprozess bezeichnet, in dem es weder ein Geständnis, noch Tatzeugen gibt. Es findet eine normale Beweisaufnahme statt. Alle zulässigen Beweismittel werden in den Prozess eingeführt. Wann immer öffentlich von einem Indizienprozess gesprochen wird, ist äußerste Vorsicht geboten, weil die Hervorhebung suggeriert, es handle sich um eine Besonderheit. Dies ist aber nicht so: In jedem Strafprozess müssen alle Beweismittel einzeln und abschließend noch einmal in einer Gesamtschau geprüft werden. Eine Verurteilung darf nur erfolgen, wenn sich weder aus der Bewertung der einzelnen Beweismittel, noch aus der Gesamtschau Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten ergeben. Die Unterscheidung zwischen „Indizienprozess“ und „normalem“ Prozess suggeriert aber, dass dies bei einem Prozess mit Tatzeugen oder Geständnis anders wäre. Dies ist falsch: Auch die Aussagen von Tatzeugen müssen im Einzelnen wie in der Gesamtschau sehr genau geprüft werden. Falsche Geständnisse sind gar nicht so selten. Das Besondere an einem Indizienprozess mag sein, dass allen Beteiligten die besonders schwierige Beweislage von vornherein bewusst ist. Dies war vorliegend der Fall, weil die Ermittlungsbehörden jahrelang erfolgversprechenden Spuren gar nicht oder unzureichend nachgingen. Ernsthafte Ermittlungen begannen erst nach vielen Jahren, als eine erfolgreiche Aufklärung des Anschlages eigentlich kaum mehr möglich war.
Der Bundesgerichtshof stellt fest: „Auch wenn keine der jeweiligen Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreicht, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Gericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können.“ Die Strafkammer scheint aber eher nach dem Motto vorgegangen zu sein: 20-mal für sich allein nicht eindeutig, kann nicht zu einer Eindeutigkeit in der Gesamtschau führen…
Die Entscheidung des BGH zeigt, dass sowohl eine Würdigung der vorhandenen Beweisanzeichen jeweils für sich, als auch eine „Gesamtwürdigung“ durchzuführen ist. Und dass es möglich ist, auf Basis der Gesamtheit aller Beweisanzeichen zu der Überzeugung zu gelangen, dass keine Zweifel an der Schuld eines Angeklagten bestehen. Das schriftliche Urteil des Landgerichts wird insoweit zu überprüfen sein. Es wäre fehlerhaft, wenn die Gesamtschau aller Beweisanzeichen keinen Zweifel an der Schuld des Angeklagten erkennen lässt. Selbstverständlich muss aber zunächst der Beweiswert jedes einzelnen Beweismittels geprüft werden.
Welche Handlungsspielräume hat eine Strafkammer eigentlich in einem solchen Indizienprozess? Und wie wurde in vergleichbaren Indizienprozessen entschieden?
Eine Tüte mit Drogen in einer Wohnung, eine Feinwaage, Verpackungsmaterial und Geld in „szenetypischer Stückelung“ reichen oft zur Verurteilung wegen Drogenhandels. Auch Verurteilungen wegen eines Tötungsdelikts, obwohl nie eine Leiche gefunden wurde, sind rechtskräftig geworden. Im juristischen Alltag sind die Anforderungen, die Gerichte an die Überzeugungskraft von Beweisanzeichen stellen, deutlich niedriger, als dies die Berichterstattung unter dem Schlagwort „Indizienprozess“ vermuten lässt. Für die symbolhafte Verurteilung von Linken für politisch motivierte Taten haben Gerichte in der Vergangenheit bereits vage Indizien als ausreichend befunden. Insofern mutet es schon etwas befremdlich an, dass die Rufe nach der Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien aus Justizkreisen und der Mitte der Gesellschaft eigentlich nur dann zu hören sind, wenn es um die Verurteilung von Nazis geht. Man wünschte sich diese Stimmen in anderen Verfahren, beispielsweise gegen Geflüchtete oder Kurd_innen.
Mehrere gerichtliche Zeug_innenaussagen wurden letztendlich als nicht belastbar von der Strafkammer gewertet, weil es Abweichungen von Aussagen in vorherigen polizeilichen Vernehmungen gab. Eigentlich erklärbar bei derartig großen Zeitabständen. Zählt letztendlich tatsächlich nur das, was Zeug_innen in der Gerichtsverhandlung aussagen?
Der Zeugenbeweis ist sehr unsicher. Zeugen sind Menschen. Sowohl bei der Wahrnehmung, als auch bei der Wiedergabe ihrer Wahrnehmungen können Irrtümer erfolgen. Wenn dann noch ein langer Zeitablauf seit der ursprünglichen Wahrnehmung dazu kommt, die erste polizeiliche Vernehmung nicht gut dokumentiert wurde und dann vor Gericht eine abweichende Erinnerung geschildert wird, kann die Aussage kaum mehr belastend benutzt werden. Oft ist es besser, ein Zeuge erinnert sich Jahre später gar nicht mehr, dann nämlich kann seine ursprüngliche Vernehmung bei der Polizei über die damaligen Vernehmungsbeamten eingeführt werden. Wenn ein Zeuge aber in der Hauptverhandlung eine abweichende Wahrnehmung schildert, kann auf seine damalige Aussage nur schwer eine Verurteilung gestützt werden. In Verhandlungen zu lang zurückliegenden Geschehnissen rächen sich alle Versäumnisse der Ermittlungsbehörden, also von Staatsanwaltschaft und Polizei. Jede mangelnde Dokumentation einer Vernehmung, jede unklare Belehrung, jede unsauber oder nicht gestellte Frage kann dann eine Zeugenaussage entwerten. Denn letztlich muss es dabei bleiben, dass im Zweifel für den Angeklagten und damit für einen Freispruch entschieden wird. Es ist wichtig zu erkennen, dass dieser Zweifelsgrundsatz ein fortschrittlicher ist, der, egal wie schwer es uns fällt, verteidigt werden muss. Es kann und darf nicht sein, dass ein Angeklagter verurteilt wird, wenn ernsthafte Zweifel an seiner Schuld bestehen. Es ist ein Merkmal autoritärer, undemokratischer Rechtssysteme, solche Zweifel beiseite zu schieben. Ein Urteil darf nicht die Fehler der Ermittlungsbehörden nachträglich vertuschen. Wenn eine Ermittlung, beispielsweise eine einzelne Zeugenbefragung, ein Wiedererkennen einmal durch Suggestion beeinflusst wurde, dann ist sie unwiederbringlich zerstört und damit wertlos.
Seitens der Anklage und der Nebenklage ist ja Revision beantragt worden. Würdest du dies als rein symbolischen Akt verstehen, oder besteht tatsächlich eine Chance, dass neu verhandelt wird? In welchen Fällen würde der BGH ein Urteil überhaupt beanstanden?
Bevor das schriftliche Urteil nicht vorliegt, kann diese Frage nicht ernsthaft beantwortet werden. Der BGH hebt das Urteil auf, wenn es auf einem Fehler beruht. Das kann die falsche rechtliche Bewertung sein oder ein Verfahrensfehler. Die Revision muss innerhalb einer Woche nach der mündlichen Urteilsbegründung eingelegt werden, zu einem Zeitpunkt, zu dem eine tiefgehende Beurteilung von möglichen Fehlern des Gerichts nur sehr schwer möglich ist, weil das schriftliche Urteil noch nicht vorliegt. Die Revisionseinlegung bedeutet also noch nichts. Nach Zustellung des schriftlichen Urteils muss die Revision innerhalb eines Monats begründet werden. Hier entscheidet sich, ob tatsächlich substantielle Fehler gerügt werden, ob die Verfahrensbeteiligten tatsächlich Energie in die Überprüfung des Urteils stecken.
Was würde eigentlich passieren, wenn nach einem rechtskräftigen Freispruch neue Beweise auftauchen würden, die den Freigesprochenen stark belasten?
Unter sehr eingeschränkten Möglichkeiten kann das Verfahren wieder aufgenommen werden. Wenn, wie vorliegend, ein Freispruch erfolgt ist, können allerdings „neue Beweise“ nicht zu einer Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten führen, sondern nur ein glaubhaftes Geständnis des Angeklagten oder beispielsweise der Nachweis, dass entlastende Beweismittel vorsätzlich falsch waren.
Für die Opfer des Anschlags muss der Freispruch ja wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben. Hat die Staatsanwaltschaft im Fall Wehrhahn zu hoch gepokert? Beziehungsweise: Hätte das Gericht die Klage überhaupt annehmen dürfen?
Es gibt Situationen, in denen die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweismittel eine Durchführung der Hauptverhandlung notwendig machen, obwohl von Anfang an klar ist, dass Zweifel an einer möglichen Verurteilung bestehen. Dann muss verhandelt werden. Für die Opfer des Anschlages wäre es sicher noch schlimmer gewesen, wenn erst gar nicht verhandelt worden wäre. Eine ähnliche Situation besteht zur Zeit beim Prozess gegen vermeintlich Verantwortliche für das Unglück auf der Love-Parade in Duisburg. Die Möglichkeit, dass dieses Verfahren endet, weil während der Hauptverhandlung Verjährung eintritt, ist hoch. Trotzdem wäre es wohl eine falsche Entscheidung gewesen, die Hauptverhandlung gar nicht zu versuchen.
In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich die Erzählung vom korrekten, engagierten, sich sogar aufopfernden Oberstaatsanwalt, von einem vom Prozess überforderten und die Komplexität des Sachverhalts nicht ausreichend durchdringenden Vorsitzenden Richter und von einer blassen Nebenklage durchgesetzt. Wie ist dazu deine Einschätzung?
Hier eine Einschätzung aus der Ferne abgeben zu wollen, ist etwas gewagt. In der Kritik des Urteils wird dargestellt, der Vorsitzende Richter, der die Verhandlung führte und die wesentlichen Befragungen durchführte, habe frühzeitig durch seine Fragetechnik und sein sonstiges Verhalten zu verstehen gegeben, dass er Zweifel an der Schuld des Angeklagten hat. Er habe Zeug_innen verunsichert, habe sich leichtfertig von dem Angeklagten täuschen lassen. Allerdings hat keiner der Prozessbeteiligten, weder die Staatsanwaltschaft, noch die Nebenklage, während der Hauptverhandlung einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden oder weitere beteiligte Richter gestellt, wie das zu erwarten wäre, wenn deutlich wird, dass sich ein Richter bereits frühzeitig in seiner Entscheidung festgelegt hat. Die Vorwürfe wirken deshalb insgesamt schwach. Erst eine Prüfung des schriftlichen Urteils wird eine abschließende Beurteilung möglich machen. Auffällig war allerdings auch, dass die Nebenklage sich in meiner Wahrnehmung ausschließlich auf die mögliche Verurteilung des Angeklagten konzentriert hat. Öffentlich wurden keine Beweisanträge, die die Fehler der Ermittlungsbehörden, institutionellen Rassismus, mögliche Verbindungen des Angeklagten in die Naziszene oder Aktivitäten des Verfassungsschutzes zum Ziel hatten. Damit wurde jede Chance vergeben, die Gründe, die dem angeblichen Versagen der Ermittlungsbehörden nach der Tat zu Grunde lagen, zu beleuchten. Eine Nebenklage, die sich ausschließlich der Anklage der Staatsanwaltschaft anschließt und keine weitergehenden Ziele ins Auge fasst, wird einem solchen Prozess kaum gerecht.
Vielen Dank für das Interview.