Das Internet ist an allem schuld?
Eine Einleitung in den Schwerpunkt
Nach mehr als zwölf Jahren wieder ein Schwerpunkt über das Internet und die extreme Rechte? Es wurde Zeit, denn seither hat sich das Internet und seine Nutzung stark gewandelt. Schon der Titel unserer Ausgabe #23 verdeutlicht dies: „Bits, Bytes, Neonazis?“ nannten wir den Schwerpunkt damals. Und obwohl auch 2006 schon in Gigabytes gerechnet wurde, war von „Big Data“ im allgemeinen Sprachgebrauch noch ebenso wenig die Rede wie von Facebook.
Das derzeit (noch?) erfolgreichste soziale Netzwerk öffnete sich erst im September 2006 für die Allgemeinheit. Das erste Smartphone, das iPhone von Apple, wurde Anfang 2007 auf den Markt gebracht. Zwar gab es auch Mitte der 2000er Jahre schon Social-Media-Plattformen und -Netzwerke, beispielsweise Myspace, StudiVZ oder auch YouTube, und Antifaschist_innen registrierten aufmerksam, wie diese Dienste von Neonazis genutzt wurden. Aber diese Plattformen waren nicht dermaßen stark in den Alltag von einer so großen Zahl von Menschen integriert, wie es Facebook, Twitter und Instagram heute sind.
Für die extreme Rechte ist das Internet alles andere als „Neuland“ — sie nutzt es seit langem als Kommunikationsmittel der politischen Propaganda, zur Mobilisierung zu Aktionen und der Organisierung von Sympathisant_innen und adaptiert die jeweiligen Veränderungen und neuen Möglichkeiten mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Unsere These ist, dass der aktuelle Rechtsruck auch mit der Art und Weise zusammenhängt, wie die extreme Rechte das „world wide web“ nutzt. Damit soll dem Internet nicht die Schuld für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung zugesprochen werden — die Lage ist komplexer. Die technischen und kulturellen Funktionsweisen der Social-Media-Plattformen tragen aber erheblich zum Erfolg der extremen Rechten im Netz bei. Deren Geschäftsmodelle und die daraus resultierende Aufmerksamkeitsökonomie begünstigen emotionalisierte, Angst und Abwehr verstärkende Inhalte und schaffen Echokammern, die Selbstbestätigung anstelle von Debatte fördern. Auch eine Ästhetisierung von Politik, wie sie für Teile der extremen Rechten prägend ist, wird durch Medien wie Instagram begünstigt.
Wie auf diese Entwicklung von antifaschistischer Seite reagiert werden sollte, dafür kennen wir auch kein Patentrezept. Es scheint, als seien die Social-Media-Plattformen ein schlechter Ort für Politiken, die sich Diskurs, Nachvollziehbarkeit und Rationalität zum Ideal nehmen. Dieses für die gesellschaftlichen Debatten so relevante Feld weitgehend kampflos der extremen Rechten zu überlassen, kann aber auch keine Option sein.
Den Schwerpunkt eröffnen Jörn Malik und Jan-Henning Schmitt mit einem Artikel, der umreißt, wie die extreme Rechte aktuell das Internet zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung und zur Organisierung nutzt.
Andrea Becker zeigt, wie extrem rechte AkteurInnen beispielsweise bei Twitter versuchen, ihre Inhalte im Kampf um die Aufmerksamkeit mit Hilfe der Algorithmen reichweitenstark zu platzieren.
Über das relativ neue Phänomen der extrem rechten YouTuber, von denen einige ein großes Publikum erreichen, schreibt Mark Breuer.
Anhand von Instagram zeigt Nora Hinze, wie die Identitäre Bewegung für Jugendliche attraktive und den Regeln des Mediums folgende Propaganda verbreitet. Ein Fokus liegt dabei auf den verbreiteten Geschlechterbildern.
Sonja Brasch und Sebastian Hell zeichnen nach, wie sich die Online-Medienarbeit von Neonazis professionalisiert und differenziert hat.