Faschismustheorie angewandt
Wer oder was ist heute faschistisch?
Mit dem Auftreten der ersten sich selbst als Faschisten bezeichnenden Rechten vor 100 Jahren entstanden auch die ersten Theorien über den Faschismus. Fast allen Faschismustheorien ist gemeinsam, dass sie den Faschismus als soziales Phänomen begreifen, das über die Grenzen von Mussolinis Italien hinausragt. Ob dieses Phänomen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortbesteht, ist hingegen umstrittener. Ein Diskussionsbeitrag.
Seit den 1990er Jahren hat sich eine Vergleichende Faschismusforschung entwickelt (vgl. Artikel auf S. 7 ff.), die wie der englische Historiker Roger Griffin den Faschismus nicht als Herrschaftsform, Werkzeug, Bewegung oder Epoche auffasst, sondern ihn als eigenständiges Gedankengebäude mit eigener Mentalität begreift. Dieser Ansatz und die sich aus ihm ergebenden Erkenntnisse bieten interessante Möglichkeiten für die Analyse heutiger rechter Bewegungen.
Ein gutes Anwendungsbeispiel lieferte der Münsteraner Soziologe Andreas Kemper. In einer Studie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung untersuchte er die Ideologie des AfD-Politikers Björn Höcke unter Zuhilfenahme der Griffin-Definition. Diese lautet: „Faschismus ist eine Form rechtsextremer Ideologie, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft, die alle anderen Loyalitäten übersteigt, verherrlicht. Er betont einen Mythos von nationaler oder rassischer Wiedergeburt nach einer Periode des Niedergangs oder des Zerfalls. Zu diesem Zweck ruft der Faschismus nach einer ‚spirituellen Revolution‘ gegen Zeichen moralischen Niedergangs wie Individualismus und Materialismus und zielt darauf, die organische Gemeinschaft von ‚andersartigen‘ Kräften und Gruppen, die ihn bedrohen, zu reinigen.“
Kemper kommt zu dem Schluss, Höckes Äußerungen erfüllten die Kriterien von Griffins Definition.
Ist die AfD faschistisch?
Wie ist eine Partei zu bewerten, in der ein maßgeblicher Politiker, dem nach Aussage des Junge-Freiheit-Chefredakteurs Dieter Stein „seine Anhänger huldigen (…) wie einem Erlöser“, ein Faschist ist? In der aber zugleich andere bedeutende Politiker*innen wie Alexander Gauland, Alice Weidel, Konrad Adam einflussreich sind, die das Prädikat faschistisch (noch) nicht verdienen, jemanden wie Höcke aber gewähren lassen?
Hier lohnt ein Blick auf die politische Form der AfD und auf ihre Praxis. Diese ist überhaupt nicht zu vergleichen mit der NSDAP oder dem Partito Nazionale Fascista von Benito Mussolini. Noch nicht einmal mit der neofaschistischen NPD, als diese noch erfolgreich war. Der AfD fehlt das Militärische, in der AfD gibt es noch innerparteiliche Demokratie. Bei aller Verehrung, die Höckes Anhänger für den Thüringer Politiker zeigen — die AfD ist keine Führerpartei.
Wenn heute von faschistischer Organisierung gesprochen werden kann, muss diese als soziale Bewegung gedacht werden: Für den Kampf um die Straße und die Massenmobilisierung sind PEGIDA, rechte Hooligan-Netzwerke und die „Identitären“ zuständig. Faschistische intellektuelle Zirkel, die in den frühen Stadien faschistischer Bewegungen immer bedeutend waren, sind das Milieu, das unter dem Namen „Neue Rechte“ firmiert. Die AfD kann als parlamentarischer Arm dieser sozialen Bewegung von rechts begriffen werden.
Ist Bolsonaro ein Faschist?
Viele Linke in Deutschland blicken zurzeit in Richtung Brasilien und fragen berechtigterweise: Ist Jair Bolsonaro ein Faschist? Steuert Brasilien auf einen Faschismus zu? Dass es sich bei dem ehemaligen Militär um einen gestandenen Rechtsradikalen handelt, dessen Regierung für gesellschaftliche Minderheiten und rassistisch diskriminierte Bevölkerungsgruppen nichts Gutes verheißt bzw. mörderische Folgen hat, steht außer Frage. Aber ein Faschist?
Gehen wir einmal die Kategorien des „faschistischen Minimums“ durch, das in den sechziger Jahren von Ernst Nolte bestimmt wurde. Für Nolte ist Faschismus durch Negationen geprägt: Faschismus sei antimarxistisch, antiliberal und antikonservativ.
Die Kategorie „Antimarxismus“ erfüllt Bolsonaro, sein Feindbild steht klar links. Hier zieht er alle Register, wenn er im klassischen faschistischen Slang davon spricht, mittels einer „Revolution“ das Land „von der schmutzigen Ideologie der Linken zu befreien“, da Brasilien „auf dem Weg zum Kommunismus“ gewesen sei. Er lässt keine Zweifel daran, dass er die Linke mit allen Mitteln bekämpfen möchte und dass er dabei auch vor tödlicher Gewalt nicht zurückschreckt.
Faschisten sehen sich immer als Revolutionäre, die nicht nur antimarxistisch bzw. antikommunistisch, sondern auch antiliberal und antikonservativ sind, da sie die alte Ordnung in bestimmten Punkten radikal überwinden wollen. Ob Bolsonaro bzw. die Partei Partido Social Cristão, auf deren Ticket er zur Präsidentschaftswahl antrat, als „antikonservativ“ zu bezeichnen sind, ist zu bezweifeln.
Die Kategorie „antiliberal“ trifft zumindest wirtschaftspolitisch nicht zu. Seinen Wirtschaftsminister Paulo Guedes stellte das Manager Magazin unter der Überschrift vor: „Dieser Chicago Boy will Brasiliens Rechtsruck managen“. Als „Chicago Boys“ werden die Schüler*innen der neoliberalen Denkschule der Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman bezeichnet. Bolsonaro gilt als „Kandidat der Märkte“, auch weil er im Wahlkampf auf Sozialstaatsversprechen ebenso verzichtete wie auf Ankündigungen von staatsinterventionistischen Eingriffen in die Wirtschaft. Das Versprechen, den Gegensatz von Kapital und Arbeit unter dem Banner der Nation bzw. der „Volksgemeinschaft“ zu versöhnen, zeichnete hingegen die faschistischen Parteien und Regierungspolitiken aus. Faschistische Bewegungen verfügten immer über eine antikapitalistische Rhetorik, auch wenn sie die Struktur kapitalistischer Herrschaft nicht antasteten.
Gesellschaftspolitisch hingegen ist Bolsonaro eindeutig ein „Antiliberaler“, was beispielsweise seine zahlreichen Ausbrüche gegen nicht-heterosexuelle Lebensweisen verdeutlichen.
Reaktionärer Technikbegriff
Der klassische Faschismus war avantgardístisch und begeistert von neuen Technologien — zumindest wenn diese der Kriegsbereitschaft dienten. Autos, Flugzeuge, komplexere Maschinen und Waffensysteme weckten Begeisterung im damals agrarisch geprägten Italien, und auch im Deutschland der späten zwanziger und dreißiger Jahre waren es noch recht neue Technologien. Von diesem technischen Utopismus und Zukunftsoptimismus sind Bolsonaro, Donald Trump oder die AfD weit entfernt. Diese zeichnet aus, dass sie alte Industrien erhalten wollen, anstatt neue Technologien voranzutreiben. Damit stehen sie — zumindest in der Industriepolitik sind sie klassische Reaktionäre — im Gegensatz zu den Faschisten der zwanziger und dreißiger Jahre.
Militärdiktatur = Faschismus?
Historisch zeichnete den Faschismus aus, dass sich seine Macht auf eine Parteiarmee wie die SA/SS oder die Fasci di Combattimento stützen konnte. Auch heute gehören zu jeder noch so kleinen neofaschistischen Partei ein „Ordnungsdienst“ oder eine Miliz, die paramilitärische Stärke demonstrieren soll. Ob die Milizen, die verdächtigt werden, die linke Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro ermordet zu haben, und die über eine persönliche Nähe zum Bolsonaro-Clan verfügen, als Teil einer Parteiarmee gelten können, ist zweifelhaft. Sie ähneln eher einer Mafia-Gruppierung.
Bolsonaro war der Wunschkandidat des Militärs. Dies zeigten die spontanen Militärparaden nach Verkündung seines Sieges. Die Verehrung geht aber nicht nur in eine Richtung. Bolsonaro verehrt die bis 1985 dauernde(n) Militärdiktatur(en). Der Faschismusforscher Wolfgang Wippermann charakterisierte in seinem Buch „Faschismus — Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute“ das Regime von Getúlio Vargas als Diktatur, aber nicht als eine faschistische. Vargas habe auf den Aufbau einer faschistischen Massenpartei verzichtet und sich ausschließlich auf das Militär gestützt. Das Brasilien, wie es sich Bolsonaro vorstellt, ist vermutlich eher mit dem Chile unter Augusto Pinochet zu vergleichen. Dieses war trotz seiner terroristischen Methoden bei der Verfolgung politischer Gegner*innen ebenfalls eine Militärdiktatur und kein Faschismus — so zumindest die Mehrheitsmeinung unter Faschismustheoretiker*innen.
Faschismus im Nahen Osten?
Am Beispiel der lateinamerikanischen Diktaturen wird bereits eine grundlegende Frage an die Faschismustheorie deutlich: Kann ein europäisches Phänomen, das nach dem Ersten Weltkrieg entstand, als Theoriekategorie auf außereuropäische Bewegungen, Regime oder Staatsformen angewandt werden?
Theoretisch, aber auch vor dem Hintergrund der Legitimierung westlicher Außen- und Kriegspolitik, wurde diese Frage vor allem nach dem 11. September 2001 gestellt. Ist das, was Al-Qaida als Terror verbreitet, faschistisch zu nennen? Ist die damalige Herrschaft der Taliban, die Al-Qaida in Afghanistan Unterschlupf gewährten, eine Form des Faschismus? Was ist mit der seit der „islamischen Revolution“ im Iran herrschenden Ordnung des „Gottesstaates“? Ist dieses Regime als klerikaler Faschismus zu beschreiben? Oder passt auf diese unterschiedlichen islamistischen Bewegungen, die es zur staatlichen oder quasi-staatlichen Macht gebracht haben, die europäische Folie des „Faschismus“ als wissenschaftliche Kategorie überhaupt nicht?
Auch die Herrschaft der Baath-Partei des Diktators Saddam Hussein wurde schließlich als Faschismus bezeichnet. Diese war im Gegensatz zumindest in ihrer Anfangszeit als Vertreterin des panarabischen Nationalismus klar säkular orientiert und stand den islamistischen Strömungen unversöhnlich gegenüber. Für das Anwenden der Faschismustheorie bei der Analyse der Herrschaft Saddam Husseins und der Baath-Partei spricht einiges: der Name Baath — Partei der arabischen Wiedergeburt -, ihre Ideologie des panarabischen Nationalismus, die Form der diktatorischen Herrschaft und der Giftgas-Einsatz gegen kurdische Dörfer 1988 auf dem Staatsgebiet des Iraks.
In der politischen Praxis wird die Frage, ob bestimmte Strömungen des politischen Islams als Faschismus bezeichnet werden können, immer wieder bejaht. So zum Beispiel, wenn Vertreter*innen unterschiedlicher linker Strömungen wie traditionelle Antiimperalist*innen, die zu Baschar al-Assad (auch seine Staatspartei ist eine Baath-Partei) halten, Aktivist*innen aus der Rojava-Solidarität und Personen aus dem antideutschen Teil der Antifabewegung einhellig den Terror des IS und anderer Islamist*innen in Syrien als faschistisch bezeichnen. Ich hingegen fasse religiös-fundamentalistische Bewegungen nicht unter dem Begriff des Faschismus, weil in ihrer Ideologie die für den Faschismus zentralen Kategorien der Nation, des Volks bzw. der „Rasse“ keine Rolle spielen.
Fazit
Nicht jede rechte, autoritäre und antiemanzipatorische Bewegung oder Diktatur kann und sollte als faschistisch bezeichnet werden. Sich mit den verschiedenen Faschismustheorien zu beschäftigen und diese auch auf heutige politische Phänomene anzuwenden, ist jedoch ein Gewinn — sowohl für den eigenen Kopf als auch für die politische Praxis.