„Ohne Polizei wärt ihr alle tot“
Der Prozess gegen zwei Mitglieder der „Aryans“ in Halle
Nach Angriffen am 1. Mai 2017 in Halle standen im Februar 2019 zwei hessische Mitglieder der „Aryans“ vor Gericht. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft löste dabei einiges Unverständnis aus, im Prozess blieben viele Fragen ungeklärt. Am Ende der Verhandlung standen lediglich Verurteilungen wegen (gefährlicher) Körperverletzung. Parallel wurde bekannt, dass die Bundesanwaltschaft wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.
Die Protagonisten, die unter dem Gruppennamen Aryans seit dem 1.Mai 2017 im Fokus stehen, sind bereits weitaus länger in der extremen Rechten organisiert. Einzelne hatten sich schon 2015 mit mehreren Naziskins vornehmlich aus NRW zusammengeschlossen und nahmen unter dem Label Division Braune Wölfe (DBW) an Kundgebungen und Demonstrationen teil, teilweise mit eigenem Transparent. Das Bild der DBW wirkte martialisch und aus der Zeit gefallen, ebenso wie später bei den Aryans, die erstmals im März 2017 in Leipzig bei einem Aufmarsch in einheitlicher Kleidung auftraten. Skinhead-Style der 90er Jahre, einige offenbar angetrunken und bei jedem Auftreten vor Gewaltaffinität strotzend. So auch am 1. Mai 2016 in Bochum: Hinter dem Transparent der DBW lief unter anderen der in Halle angeklagte Carsten Müller. Im Vorfeld war er offenbar bereits an Auseinandersetzungen beteiligt. Müller wirkte lädiert, aber zufrieden.
So lässt sich eine wesentlicher Teil der Welt der Aryans zusammenfassen: Sie besuchen Aufmärsche, sehen sich, wie im Prozess einer der Zeugen aussagte, als „Schutzgruppe“ und suchen nach Möglichkeit die Konfrontation. Dies ließ sich auch in Halle beobachten: Kaum kam die Gruppe in den Aryans-Pullovern am Aufmarsch-Treffpunkt an, schrien sie Gegendemonstrierende an und forderten unverblümt zum direkten Duell auf. Kurz konnten sie sogar, offenbar an der Polizei vorbei, einige Demonstrant_innen angreifen. Das ganze wirkte impulsiv, ohne Strategie oder Rücksicht auf Verluste. Die Gruppe wurde von der Polizei weg eskortiert, aber die Mitglieder wirkten zufrieden — eine kurze Schlägerei, die Anfahrt hatte sich für die Neonazis bis dahin offenbar gelohnt. In dieser Situation zeigte ein Mitglied der Gruppe selbstbewusst den „Hitlergruß“, der im Nachgang eine Geldstrafe nach sich zog.
Der geplante Aufmarsch in Halle wurde von Antifaschist_innen blockiert. Während „Autonome Nationalisten“ um das Antikapitalistische Kollektiv nach Apolda fuhren und dort eine Spontandemonstration versuchten, fuhren die Aryans weiter durch Halle. Im Prozess kam zur Sprache, dass sie auf der Suche nach Gegendemonstrierenden waren und zwischenzeitlich mit Autos Menschen jagten. Hierbei warf unter anderem die Angeklagte Martina Heinz einen Stein, wodurch ein Radfahrer verletzt wurde. Auf weitere Passant_innen wurden Flaschen und Steine geworfen, Gegendemonstrierenden wurde zugerufen: „Ohne Polizei wärt ihr alle tot!“. Letztendlich geriet eine Wandergruppe ins Blickfeld der Gruppe. Carsten Müller sprang aus dem Auto, mit wutverzerrtem Gesicht, bewaffnet mit einer Art Schlagstock — einem Starkstromkabel — schlug er auf Personen der Gruppe ein. Die Richterin sprach später von einem „Schlagwerkzeug, mit dem man auch Leute erschlagen kann“. Müller folgten laut verschiedenen Aussagen die Insass_innen beider Autos, insgesamt etwa zehn Personen. Fast alle trugen Pullover der Aryans.
Unmotiviert und verharmlosend
Im folgenden Verfahren gab die Staatsanwaltschaft ein fatales Bild ab. Während der Ermittlungen wurde die Wohnung von Müller im hessischen Linsengericht (bei Gelnhausen, Main-Kinzig-Kreis) durchsucht, mehrere Pistolen, Messer, Armbrüste, Schwarzpulver sowie mehrere Behälter mit Stahlkugeln wurden gefunden. Außerdem hieß es von Polizeiseite: „In nahezu jedem Raum […] befanden sich Nazi-Devotionalien“. Bereits zu diesem Zeitpunkt irritierten die Aussagen der zuständigen Staatsanwältin: „Die Ausgestaltung der eigenen vier Wände ist, sofern keine Außenwirkung eintritt, in der Bundesrepublik Deutschland jedem überlassen“. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass Müller die nationalsozialistischen Devotionalien öffentlich zeigen wollte. Sie resümierte: „Über Geschmack muss man bekanntlich nicht streiten“. Den Angriff der Aryans in Halle bezeichnete sie indes als „typisches Alltagsgeschäft“ und hatte zunächst nur am Amtsgericht Anklage erhoben, was das Strafmaß von vornherein auf zwei Jahre beschränkt hätte. Das Auftreten und die Angriffe der Gruppe gingen „nicht über das hinaus, was bedauerlicher Weise im Umfeld sogenannter politischer Veranstaltungen inzwischen üblich ist“, so ihre Bewertung. Die Anwälte der Nebenklage warfen ihr daraufhin vor, die neonazistische Gewalttat zu verharmlosen und zu bagatellisieren. Vor dem Hauptverfahren wurde sie schließlich ausgetauscht.
In der Hauptverhandlung kamen weitere Ungereimtheiten im Vorgehen der Ermittlungsbehörden zur Sprache: So wurden während der Hausdurchsuchung bei Müller fünf Smartphones von ihm und der zu dieser Zeit de facto bei ihm…wohnenden Mitangeklagten Heinz gefunden. Nachdem zwei Telefone von Martina Heinz ausgewertet waren und der Chatverlauf zwischen den beiden Angeklagten dokumentiert war, stoppte die Staatsanwältin die Auswertung der weiteren Telefone, da sie diese für unnötig hielt. Dass sich auf den Telefonen von Müller auch relevante Kommunikation mit weiteren beteiligten Gruppenmitgliedern befunden haben könnte, verkannte die Staatsanwältin. Möglicherweise verhinderte sie so sogar weitere Ermittlungen. Verstörend wirkt dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nur gegen die Hälfte der Personen, die in den beiden Autos saßen, ermittelt wurde. Von den fünf eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurden auch noch drei Verfahren eingestellt, da den Angeklagten keine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Von den eingangs eingeleiteten Ermittlungen wegen Landfriedensbruchs wurde bereits recht früh wieder Abstand genommen. Die Nebenklage hat nach Prozessende angekündigt, weitere mutmaßliche Angreifer anzuzeigen.
Es ist vor allem der engagierten Nebenklage zu verdanken, dass der Prozess letztendlich vor dem Landgericht verhandelt wurde und dass ein bedeutender Teil des Tatgeschehens aufgeklärt wurde. Sie drängte immer wieder darauf, die Gruppenstruktur der Aryans aufzudecken und versuchte, ebendiese zum Prozessbestandteil zu machen. Dahingegen verhielt sich der nun für das Verfahren zuständige Staatsanwalt auffallend passiv, wirkte unmotiviert und stellte nur vereinzelt Fragen. Überraschend kam daher sein Plädoyer, das detailreich den Tatablauf darstellte und eine klare rechtliche Bewertung lieferte. Auch in der Forderung nach dem Strafmaß für Carsten Müller wich er erheblich von der Bewertung seiner Vorgängerin ab. Hatte diese durch die Anklage vor dem Amtsgericht das Strafmaß faktisch auf zwei Jahre beschränkt, forderte ihr Kollege nun drei Jahre und acht Monate Haft. Müller wurde am Ende unter Berücksichtigung seiner Vorstrafen zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Seine Akte weist unter anderem Besitz von verbotenen Waffen (eine Armbrust mit Laserzielvorrichtung), fahrlässiges Führen einer Schusswaffe sowie Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen auf.
An der Urteilsbegründung kritisierte der Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen vor allem die festgestellte Tatmotivation. So soll Müller im Vorfeld des Aufmarsches eine Sektflasche gegen den Kopf bekommen haben. Hieraus wurden in der Urteilsbegründung die Tatmotive Frust (über den gescheiterten Aufmarsch) und Rache (für die Verletzung mit der Flasche) abgeleitet. Keine Beachtung schenkte das Gericht hingegen dem menschenverachtenden Antrieb der Angeklagten, politisch Andersdenkende einzuschüchtern und anzugreifen.
Die Polizei-Connection
Martina Heinz aus Ober-Ramstadt (Landkreis Darmstadt-Dieburg) erhielt eine Strafe von einem Jahr und zwei Wochen, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Im Prozess kam auch heraus, dass sie 2016 ihren Ex-Partner, der zu dieser Zeit bei der hessischen Polizei arbeitete, um Informationen über Personen gebeten hatte. Der Polizist besorgte die Informationen aus dem Dienstcomputer und gab sie an sie weiter. Nach Darstellung des hessischen Innenministeriums wollte der mittlerweile in ein anderes Bundesland versetzte Polizist Heinz vor Neonazis warnen. Doch die Motivation war offensichtlich eine andere, sie und Müller vermuteten, wie aus einem ausgewerteten Chat der beiden hervorgeht, einen Verräter in ihrem damaligen Umfeld. Die Abfrage über den Polizisten könnte also durchaus dazu gedient haben, Gewissheit über den vermeintlichen Verräter zu erlangen. In der Mitteilung des Innenministeriums wird insgesamt suggeriert, Martina Heinz habe zu dieser Zeit noch gar nichts mit der Neonaziszene zu tun gehabt. Doch bereits im Oktober 2014 nahm sie zunächst in Frankfurt an einem Aufmarsch von La Familia Süd teil, an dem neben diversen Hooligans auch bekannte Neonazis aus Hessen und Baden-Württemberg teilnahmen. 2015 beteiligte sie sich auch an einer Kundgebung des Frankfurter PEGIDA-Ablegers. Doch nicht nur diverse Aufmarschteilnahmen, auch das Facebook-Profil von Heinz zeigte zu dieser Zeit ihre Nähe zur NS-Ideologie. Beispielsweise postete sie ein NS-Poster mit der Aufforderung: „Deutsche Frau! halt dein Blut rein.“
Die Behauptung des hessischen Innenministeriums erscheint somit sehr fragil. Schließlich wurde bekannt, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung kein polizeiinternes Verfahren gegen den Polizisten angestrengt wurde. Die lapidare Erklärung: dieser sei zwischenzeitlich auf eigenen Wunsch in ein anderes Bundesland versetzt worden, ein Disziplinarverfahren sei somit nicht mehr möglich. Vor dem Amtsgericht Dieburg musste sich der Polizist am 21. März dennoch verantworten und wurde zur Zahlung von insgesamt 6.750 Euro Strafe verurteilt. Martina Heinz wurde wegen Anstiftung zu einer Zahlung von 1.875 Euro verurteilt. Außerdem soll nun doch wieder ein Disziplinarverfahren im Raum stehen, obwohl dies laut Innenministerium durch die Versetzung als nicht möglich galt.
Terroristische Vereinigung?
Während vor Gericht anfangs versucht wurde, eine organisierte Gruppenstruktur gänzlich zu leugnen, kristallisierte sich mit jedem weiteren Zeugen ein immer deutlicheres Bild einer selbsternannten „Schutzgruppe“ heraus, die regelmäßig bundesweit bei Aufmärschen auftrat. Als deren Rädelsführer wurde der angeklagte Müller bezeichnet, auf den auch der Vertrieb der Aryans-Pullover, so die Erkenntnisse im Prozess, zurückgeht. Noch während der Prozess lief, wurde außerdem bekannt, dass die Bundesanwaltschaft gegen fünf Personen der Aryans wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Unterdessen haben die beiden Verurteilten aus dem Prozess in Halle Rechtsmittel eingelegt und wollen das Urteil vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe überprüfen lassen.
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Im AIB 115 / 2.2017 erschien der Artikel „__Angriff auf Jugendliche am 1. Mai 2017 in Halle“ über die Aryans.