ignoto

Squadrismo

Wie die faschistischen Stoßtrupps die italienische Arbeiterbewegung zerschlugen

Als im November 1918 der Erste Weltkrieg endete, gehörte Italien zu den Siegern. Im „biennio rosso“, den „zwei roten Jahren“ 1919/20, fand die Arbeiterbewegung zu nie gekannter Stärke. Lohnerhöhungen wurden erkämpft und in der Industrie der Acht-Stunden-Tag durchgesetzt. Das Beispiel der Oktoberrevolution faszinierte nicht nur das städtische Proletariat, sondern auch die Landarbeiterschaft. „Fare come in Russia“ („Es wie in Russland machen“) wurde zum geflügelten Wort.

Als im November 1918 der Erste Weltkrieg endete, gehörte Italien zu den Siegern. Im „biennio rosso“, den „zwei roten Jahren“ 1919/20, fand die Arbeiterbewegung zu nie gekannter Stärke. Lohnerhöhungen wurden erkämpft und in der Industrie der Acht-Stunden-Tag durchgesetzt. Das Beispiel der Oktoberrevolution faszinierte nicht nur das städtische Proletariat, sondern auch die Landarbeiterschaft. „Fare come in Russia“ („Es wie in Russland machen“) wurde zum geflügelten Wort.

Allerdings blieb die politische Praxis hinter den revolutionären Parolen zurück — auch weil der Krieg nicht nur rote Massen in Bewegung gesetzt hatte. Die Mehrheit der Frontsoldaten waren Bauern gewesen, denen für die Zeit nach dem Krieg große Versprechungen gemacht worden waren, die nun von der bürgerlichen Regierung nicht gehalten wurden. Revolten mit Landbesetzungen waren die Folge. Betrogen fühlten sich aber auch viele Unteroffiziere und Offiziere, die nun nicht mehr gebraucht wurden. Die nationalistische Propaganda erklärte ihnen, sie seien Opfer der unfähigen liberalen Politiker, die aus Italiens glanzvollem militärischen Sieg am Verhandlungstisch einen „verstümmelten Sieg“ gemacht hätten. Der Dichter Gabriele D’Annunzio wurde zum Volkshelden, als er im September 1919 mit 1.000 meuternden Legionären der Armee das kroatische Rijeka (italienisch: Fiume) besetzte, um es heim ins Königreich zu holen.

Den enttäuschten Frontkämpfern und Nationalisten bot sich seit 1919 ein neuer organisatorischer Bezugspunkt: Am 23. März gründeten sich in der Mailänder Industrie- und Handelskammer die Fasci italiani di combattimento („Italienische Kampfbünde“). Ihr Programm enthielt eine Reihe sozialreformerischer Forderungen (Mindestlöhne, Mitbestimmung der Arbeitervertreter, progressive Vermögenssteuer, Beschlagnahme von 85 Prozent der Kriegsgewinne), mit denen die Massen gewonnen werden sollten. Auch den Bauern machten die Faschisten Versprechungen. Im Wahlprogramm von November 1919 wurden unter anderem die Beschlagnahme sämtlicher Kriegsgewinne und eine hohe Erbschaftssteuer gefordert — der reine Betrug, wie sich unmittelbar nach Amtsantritt der Regierung Benito Mussolini im Herbst 1922 herausstellte: Zu ihren ersten Taten gehörte die Abschaffung der Erbschaftssteuer und die Auflösung der Kommission zur Prüfung der Kriegsgewinne.

Kampfverbände gegen den „Bolschewismus“

Mussolini gab schon Ende 1921 den überwiegend demagogischen Charakter der faschistischen Frühprogramme zu. Um seine mächtigen bürgerlichen Bündnispartner zu beruhigen, bezeichnete er sie als taktische Mittel zur Bekämpfung des „Bolschewismus“. Gemeint war damit sowohl die revolutionäre als auch die reformistische Arbeiterbewegung. Um sie gewaltsam niederzuwerfen, organisierten die Faschisten schon kurz nach Gründung der Fasci die ersten „Squadre d’azione“ — paramilitärische Stoßtrupps. Diese vorwiegend aus ehemaligen, „zu allem entschlossenen“ Soldaten bestehenden Einheiten sollten jeweils nicht mehr als 50 Mitglieder haben. Der Historiker Sven Reichardt schreibt: „Während die größeren, meist städtischen Fasci die Squadren in eigenen Untergruppen organisierten, verlief sich auf dem Lande der Unterschied zwischen politischer Organisation und Kampfverband.“

Einen ersten Beweis ihrer Brauchbarkeit für die Herrschenden lieferten die faschistischen Stoßtrupps im November 1920 in Bologna, einer Hochburg der Sozialisten. Durch Schüsse in die Menge, die dem neugewählten Bürgermeister zujubelte, töteten die Faschisten neun Menschen und verletzten mehr als 100. Zusammen mit der staatlichen Militärpolizei Guardia regia beschossen sie das Rathaus, bis der Widerstand der Sozialisten zusammenbrach. Nach getaner Arbeit, für die sie von den Großgrundbesitzern der Provinz bezahlt wurden, trugen sie den Terror aufs Land. Die bewaffnete Staatsmacht sah tatenlos zu.

Antonio Gramsci (1891—1937) zählte in den 18 Monaten zwischen Januar 1920 und Juni 1921 4.000 Menschen, „Männer, Frauen, Kinder und Greise“, die „unter den Kugeln der öffentlichen Sicherheitsorgane und des Faschismus den Tod auf Straßen und Plätzen“ fanden. Hinzu kamen die Verwüstungen, derer sich die Faschisten offen rühmten. Nach einer „nicht erschöpfenden“ Aufstellung ihres parteioffiziellen Historikers Giorgio Alberto Chiurco zerstörten die Sturmtrupps allein im ersten Halbjahr 1921 25 Volkshäuser, 59 Arbeitskammern, 85 Genossenschaften, 43 Landarbeiterverbände, 51 politische Zirkel, 10 Druckereien und 6 Tageszeitungen.

Terror auf dem Land

Die faschistischen Überfälle auf die rote Landarbeiterschaft liefen immer wieder nach einem Schema ab, das der antifaschistische Schriftsteller Ignazio Silone (1900—1978) so beschrieb:

„a) die Grundbesitzer eines noch von den ‚Roten‘ beherrschten Dorfes wenden sich an den Fascio der nächstliegenden Ortschaft mit der Bitte um Intervention;

b) der Fascio bestimmt den Tag der Vergeltung, macht sich an die technische Vorbereitung der Expedition, an die Beschaffung der erforderlichen Waffen, des Petroleums, der Bomben und legt den interessierten Grundbesitzern die Rechnung vor;

c) die Polizei des Hauptortes, von den Faschisten und der Grundbesitzerorganisation benachrichtigt, wird noch vor der Ankunft der Faschisten in das betreffende Dorf dirigiert, ‚um den Zusammenstoß zu verhindern‘. Die Polizei führt eine Haussuchung im ‚roten‘ Verband durch, beschlagnahmt die Waffen, verhaftet die tapfersten Elemente, empfiehlt den Gemäßigten, beruhigend auf die anderen einzuwirken, und gibt die Versicherung ab, die Faschisten würden durch die öffentliche Macht zurückgeschlagen werden;

d) am Abend kommen die Faschisten (…) in Wagen angefahren. Unter polizeilichem Schutz ziehen sie durch das Dorf, begeben sich in das Rathaus und erklären dort ‚im Namen des wahrhaft italienischen Volkes‘ den aus Landarbeitern zusammengesetzten Gemeinderat als abgesetzt.“

Darauf folgten brutale Gewalttaten gegen vermeintlich „gefährliche Elemente“: Verabreichung von Rizinusöl, Prügel, Brandstiftungen, Vergewaltigungen. Der Gewalt der Faschisten hatte die Linke wenig entgegenzusetzen. Die „Verbindung von nichtlegaler Massengewalt und repressiver Aktion des traditionellen Staatsapparates“, schrieb der kommunistische Journalist und Politiker Giorgio Amendola (1907—1980), war für die Arbeiterschaft, die mit der Wirkung von Polizeiknüppeln vertraut war, eine neue, demoralisierende Erfahrung.

Antonio Gramsci warnte am 23. Juli 1921 in der kommunistischen Tageszeitung L‘ordine nuovo: „Von der herrschenden Klasse die Zerschlagung des Faschismus zu fordern, hieße so viel, wie ihren Selbstmord zu fordern.“ Er schrieb dies anlässlich einer außergewöhnlichen Polizeiaktion: In Sarzana (Ligurien) verhinderten Carabinieri eine faschistische „Strafexpedition“ und töteten 13 Faschisten. Der Vorfall zeigt, dass der Staat den faschistischen Terror durchaus hätte stoppen können — wenn die Herrschenden das gewollt hätten.