Tiefe moralische Verkommenheit
Der hessische Polizeiskandal am Beispiel zweier Polizisten aus Kirtorf
Rassistische Drohbriefe und Gesänge, „Reichsbürger“, Freundschaften mit Neonazis und Bewunderung der SS — das sind Schlagworte des Skandals um extrem rechte PolizeibeamtInnen in Hessen, der im Sommer 2018 aufkam und bis heute ständige Fortsetzung findet. Im März 2019 waren es 34 PolizistInnen, gegen die im Bundesland wegen „rechtsextremer Äußerungen oder Taten“ ermittelt wird. Vier weitere wurden bereits versetzt oder entlassen. Ermittelt wird auch gegen zwei Polizisten-Brüder aus Kirtorf in Mittelhessen. Es ist Freitag und endlich Feierabend. „Hoch die Hände, Wochenende“, heißt es in einem Post, den Marcel G. am 12. Oktober 2018 auf Facebook „liked“. Der Spruch steht über einem Schwarz-Weiß-Foto, das drei Personen mit erhobenen Händen zeigt, die von zwei Männern in Uniformen und mit Maschinenpistole über eine Wiese getrieben werden — russische Kriegsgefangene und Soldaten der Heeresgruppe Nord 1941 in Estland. Die Heeresgruppe Nord war ein Verband der Wehrmacht, der über das Baltikum nach Leningrad vorstieß und die russische Metropole von Herbst 1941 bis Januar 1944 belagerte. In der Stadt starben über eine Million Menschen.
Der Post stammt aus der Facebook-Gruppe „Traditionsbuchreihe“. Dort wünscht man den noch lebenden SS-Kameraden „noch viele Jahre in unseren Reihen“, und den Todestag des SS-Kriegsverbrechers Joachim Peiper, der von Unbekannten getötet wurde, kommentiert man mit den Worten „Kein Vergeben, kein Vergessen!“. Auch bei diesen Posts finden sich „Likes“ von Marcel G. Er macht aus seiner politischen Einstellung keinen Hehl. Auf seiner Facebook-Seite, die bis Januar 2019 online war, gab er sich als Anhänger der AfD zu erkennen. Als die Polizei im Dezember 2018 sein Haus durchsuchte, stieß sie auf ein „museal eingerichtetes Zimmer mit diversen NS-Devotionalien“. Zudem soll er in einem Chat von (mindestens) einem weiteren Polizisten Nachrichten mit „mutmaßlich volksverhetzenden Inhalten“ erhalten haben.
Marcel G. ist Polizeibeamter und lebt in Kirtorf im Vogelsberg-Kreis. Derzeit ist er vom Dienst suspendiert. Grund dafür ist ein Vorfall im Jahr 2017, bei dem er und sein Bruder Fabian G., ebenfalls Polizist, auf einer Kirmes rechte Parolen gerufen haben sollen. Das hätte für beide wohl keine größeren Konsequenzen gehabt, wenn die Geschichte nicht im Verlauf des hessischen Polizeiskandals öffentlich geworden wäre.
An der Person Marcel G. kann der Polizeiskandal veranschaulicht werden. Obwohl er wusste, dass gegen ihn ermittelt wird, setzte er weiterhin ungeniert seine „Likes“ bei den Posts der AfD, der SS-Fanseite und beim Bild der Kriegsgefangenen, die ihrem sicheren Tod entgegen gingen. Er offenbart eine tiefe moralische Verkommenheit und zugleich das Allmachts-Gebaren eines Vertreters der Staatsgewalt, der glaubt, das Recht und die Moral von Berufs wegen gepachtet zu haben und unantastbar zu sein. Seine politische Einstellung, die sicherlich vielen KollegInnen und seinen Vorgesetzten bekannt war beziehungsweise diesen auffallen musste, hatte für ihn bislang offensichtlich nie negative Konsequenzen gehabt.
Wieder im Blickpunkt: Kirtorf
Der Kirtorfer Bürgermeister Ulrich Künz, der im März 2019 nach 40 Amtsjahren abgelöst wurde, sagt über die Brüder G. nur Gutes. Schließlich war sein Sohn zusammen mit Fabian G. in der Jungen Union aktiv. Künz hat Erfahrung darin, Probleme mit Neonazis klein zu reden. Bereits Mitte der 2000er Jahre stand die Kleinstadt im Fokus der Öffentlichkeit. Die Neonazigruppe Berserker Kirtorf hatte in einem ehemaligen Schweinestall mitten im Ort ihren Treffpunkt eingerichtet, wo sich zu Konzerten bis zu 250 Neonazis trafen. Dem Journalisten Thomas Kuban gelang es im Juli 2004, ein Konzert versteckt zu filmen. Die Band Garde 18 und ihr Publikum sangen „Blut muss fließen, knüppelhageldick, wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik“. Die Bilder davon gingen durch die Medien. Danach erließen die Behörden Auflagen, die nur noch kleine Versammlungen im Schweinestall zuließen, und in Kirtorf kehrte trügerische Ruhe ein.
Unter Neonazis verstehen etliche Menschen im Ort eine Subkultur von tätowierten und betrunkenen Menschen, die im Schweinestall etwas von „Judenblut“ grölen. Mit dem Wegfall des Treffpunkts verschwanden demzufolge auch die Neonazis aus Kirtorf. Wer eine Familie und eine anständige Arbeit hat wie Marcel G. oder auch der langjährige Berserker-Anführer Glenn Engelbrecht, der mittlerweile vierfacher Vater ist, kann demnach also kein Neonazi sein.
Doch die Berserker Kirtorf bilde(te)n keine isolierte Szene, sondern waren und sind ins gesellschaftliche Leben integriert. Zu ihrer Hoch-Zeit in den 2000er Jahren war zu sehen, dass sich einige Personen, die den Vereinen und Dorfburschenschaften der Region angehörten, zu den Berserkern bekannten und mit ihnen feierten — und noch mehr erschienen in den Freundeslisten in den Sozialen Netzwerken. Auch Fabian G. befand sich 2008 im virtuellen Freundeskreis eines bekannten Berserkers.
Die Brüder G. bestreiten, jemals im Schweinestall gefeiert zu haben. Man kann ihnen das glauben. Doch sie halten keine erkennbare Distanz zu Engelbrecht, der mit der Zahl „88“ auf dem Kennzeichen seines Autos durch den Ort fährt und 2017 mit Personen des Combat 18-Netzwerkes zu einem Neonazi-Konzert in Thüringen erschien. Noch im Januar 2019 war Engelbrecht Facebook-Freund von Marcel G., Fabian G. schickte ihm bis ins Jahr 2018 jedes Jahr dort persönliche Glückwünsche zum Geburtstag. Dass Polizisten — und sei es virtuell — einen stadtbekannten Neonazi als „Freund“ anerkennen und ihm „Alles Gute“ wünschen, war für die Brüder und für viele ihrer Bekannten und KollegInnen offensichtlich niemals ein Problem.
Vertrauen in den Korpsgeist
Der CDU-Innenminister der schwarz-grünen Koalition Peter Beuth will kein strukturelles Problem bei der Polizei erkennen, für ihn sind das alles „Einzelfälle“. Dass eine eigens eingerichtete Sonderkommission des LKA mit Nachdruck gegen die eigenen KollegInnen ermittelt, glaubt niemand ernsthaft. Die betroffenen PolizistInnen scheinen darauf zu vertrauen, dass der Korpsgeist standhält.
JournalistInnen, die in Kirtorf auf Spurensuche waren, berichten, wie sie dort von der Polizei behindert wurden. Zwei Journalisten wurden einer längeren Kontrolle unterzogen und sahen sich dabei unverschämten Fragen ausgesetzt: Wohin sie denn wollten? Woher sie die Adressen der Brüder G. hätten? Eine Reporterin der Tageszeitung berichtet, sie habe mit den Brüdern ein Gespräch geführt, als zwei Polizeibeamte erschienen, sich einmischten und so das Gespräch beendeten. Dabei hatten sich die Brüder freiwillig mit der Journalistin unterhalten und ihr gegenüber nicht geäußert, dass sie sich belästigt fühlten. Als die Journalistin bei einem anderen suspendierten Polizisten erschien, forderte dieser sie auf, sofort zu gehen und kündigte ihr an: „Ich informiere das LKA.“ Ganz so, als ob er sich von den KollegInnen vom LKA Beistand gegen die Presse erhofft.
Keine langfristigen Konsequenzen zu befürchten
Beuth steht im hessischen Polizeiskandal enorm unter Druck, doch er wird von seiner Partei und dem grünen Koalitionspartner gestützt und versucht, das öffentliche Interesse auf andere Schauplätze zu lenken. Im Moment hat er neben linken Freiräumen vor allem ungehorsame Fußballfans im Visier. Durch Schikanen und grobe Prügel-Einsätze gegen Frankfurter Ultras brachte die Polizei in den vergangen Monaten die große Mehrheit der Eintracht-Fans gegen sich auf. In etlichen Stadien solidarisierten sich Fans und protestierten gegen Polizeiwillkür, Polizeigewalt und Innenminister Beuth. Die Ultras in Potsdam-Babelsberg brachten es am 22. Februar 2019 bei einem Fußballspiel mit ihrem Transparent auf den Punkt: „Kümmer dich mal um deine Nazibullen, du WindBEUTHel!“
Ein Großteil der PolizistInnen, die im Verlauf des hessischen Polizeiskandals suspendiert wurden, wird wohl in den Dienst zurückkehren. Manche werden eine Rüge erhalten, vielleicht sogar versetzt werden, doch nur wenige wird man strafrechtlich belangen und entlassen.
Die große Frage in den Medien ist derzeit, ob es rechte Netzwerke in der hessischen Polizei gibt. Viele Menschen, die rechte Sprüche, Demütigungen, Schikanen, Gewalt und die De-facto-Straffreiheit von PolizistInnen erfahren haben und weiter erfahren werden, nehmen den gesamten Polizeiapparat als ein rechtes Netzwerk wahr. Nicht nur ihnen ist klar, dass die bisher bekannt gewordenen 38 Fälle des hessischen Polizeiskandals nur die Spitze eines großen Eisbergs sind. Bei einer Podiumsdiskussion im Sommer 2018 in Frankfurt, bei der die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, Nancy Faeser (SPD) und NSU-Watch Hessen auftraten, berichtete eine Frankfurter Polizeibeamtin von ihren Überlegungen, den Dienst zu quittieren, weil sie den Rassismus der KollegInnen nicht mehr ertrage und ihre Beschwerden bei den Vorgesetzten ins Leere liefen.
Die Polizei ist freilich nicht homogen. Wohl gibt es in deren Reihen PolizistInnen, die nicht rechts eingestellt sind, jedoch auch eine unübersehbare Anzahl extrem Rechter bis hin zu Neonazis, die dort kaum etwas zu befürchten haben. Eine unabhängige Stelle, die Straftaten und extrem Rechte im Polizeidienst abseits der Dienstwege verfolgen kann, wäre ein erster kleiner Schritt. Doch die Polizei selbst spricht sich vehement gegen die Einrichtung einer solchen Stelle aus.