Zwischen Analysekategorie und Kampfbegriff
Zur problematischen Geschichte des Faschismusbegriffs
Die weltweite Verbreitung des Faschismusbegriffs seit 1922 gründet in historischer Erfahrung: Die kapitalistische Moderne hatte einen neuen, extrem gewalttätigen Typ politischer Ideologie, Bewegung, Praxis und Herrschaft hervorgebracht. Diesen begrifflich zu fassen, ist für emanzipatorische Kritik und Politik unerlässlich. Allerdings ist die Geschichte des Faschismusbegriffs auch von seiner immer weiteren Entgrenzung durch unreflektierte Polemik geprägt.
1919—1922: Ursprung in Italien
Der Faschismus wurde nach den 1919 gegründeten ultranationalistischen „Kampfbünden“ (fasci di combattimento) unter Benito Mussolini benannt. Faschismus heißt also „Bundismus“. In den fasci zeigte sich ein Kernelement des Faschismus: soldatisch-männliche Kampfbünde, die brutalen und systematischen Terror gegen Minderheiten und Linke ausüben. Die Bezeichnung „Faschismus“ verweist auf dieses paramilitärische Element und ist insofern treffend. Für den britisch-amerikanischen Soziologen und Historiker Michael Mann nimmt der faschistische Paramilitarismus auch den faschistischen Gesellschaftsentwurf vorweg: eine straff hierarchische und gleichwohl von Kameradschaft und Leistungsprinzip bestimmte Gemeinschaft, in der Führer und Geführte, Herrschende und Beherrschte eine kämpfende Einheit gegen Feinde und Fremde bilden.
1922—1945: Verbreitung und Ausweitung
Dass sich damals „Faschismus“ als Oberbegriff für allerlei nationalistische und antimarxistische Formationen durchsetzte, lag am Erfolg der italienischen Faschisten. Sie wurden zur Massenbewegung und 1922 von großbürgerlichen, adligen, militärischen und bürokratischen „Eliten“ an die Regierung gebracht. Fortan blieb das Bündnis zwischen „Eliten“ und faschisierter Masse der Schlüssel zum faschistischen Erfolg. Der italienische Faschismus faszinierte die gesamte politische Rechte weltweit. Fast überall entstanden Gruppierungen, die Elemente der Ideologie und Praxis vom fascismo übernahmen.
Bereits damals wurden zahlreiche Varianten unterschieden: Kirchennahe Bewegungen und Regime hießen „Klerikalfaschismus“. Mit „Monarchofaschismus“ waren Diktaturen in damaligen Monarchien wie Rumänien oder Bulgarien gemeint. Nach dem jeweiligen Führer wurden der Hitler-, Franco- oder Horthy-Faschismus in Deutschland, Spanien und Ungarn benannt. „Austrofaschismus“ hieß die Diktatur von Kurt Schuschnigg in Österreich (1934—1938).
All diese und andere wirkliche oder vermeintliche Faschismen waren nationalistisch, antimarxistisch und antidemokratisch. Doch gab es bei vielen von ihnen keine dynamische Massenbewegung mit eigener ideologischer Agenda wie in Italien und Deutschland. Manchmal existierten zwar Parteien mit Führer, uniformierten Verbänden, Massenaufmärschen usw., aber sie waren Veranstaltungen „von oben“ — kein eigener Machtfaktor, sondern Fortsatz des Staatsapparates. Anders als in Italien und Deutschland fehlte in diesen Fällen der „genuine Antrieb einiger zehntausend Fanatiker“, wie es Ernst Nolte in seinem 1963 erschienenen Werk „Der Faschismus in seiner Epoche“ (München 1984, S. 453 f.) formulierte.
Viele der als „faschistisch“ bezeichneten Formationen waren konservativ und religiös geprägt. Sie wollten nicht wie Italofaschismus und NS die gesamte Gesellschaft totalitär umgestalten. Zwar waren auch sie zum Terror fähig, aber es fehlte ihnen der Wille zur völligen Vernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Doch genau dies — entgrenzter Terror in Vernichtungsabsicht — kennzeichnete die Nazis, die italienischen Faschisten in ihrer Spätphase (1943—1945), die ungarischen Pfeilkreuzler, die rumänischen Legionäre, die kroatischen Ustascha-Milizen und auch die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) mit ihrer Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA).
Die Diktaturen von Schuschnigg in Österreich, Ion Victor Antonescu in Rumänien, Miklós Horthy…in Ungarn, António de Oliveira Salazar in Portugal und auch Francisco Franco in Spanien (nach dem Bürgerkrieg 1936—1939) hingegen kopierten bestimmte Formen aus Italien und Deutschland, doch Ideologie und Herrschaft blieben in einem autoritär-konservativen Rahmen. Die Regime dieser Art gingen wie Schuschnigg, Antonescu und Horthy gegen die radikaleren eigentlichen Faschisten in ihren Ländern vor, oder sie bemühten sich wie Franco, sie einzubinden, zu kontrollieren und schließlich zu neutralisieren. Nichtsdestotrotz unterstützten Horthy und Antonescu die nazistische Kriegspolitik und Judenverfolgung, und Franco ließ sich im spanischen Bürgerkrieg militärisch von den Nazis unterstützen.
Ungeachtet solcher Unterschiede wurde das Wort „Faschismus“ ab 1922 zur Sammelbezeichnung für alle möglichen Rechtsaußen-Formationen. Im kommunistischen Milieu wurde es zudem üblich, jegliche Form bürgerlicher Herrschaft als faschistisch zu denunzieren. Unter dem Einfluss des sowjetischen Diktators Josef Stalin verbreitete sich hier die Auffassung, dass der Faschismus lediglich eine autoritär verschärfte Form bürgerlicher Herrschaft, ein letztes Aufgebot gegen die vermeintlich nahe Weltrevolution sei. Die faschistische Gefahr wurde somit katastrophal unterschätzt. Die Entgrenzung des Faschismusbegriffs gipfelte Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre in der stalinistischen Doktrin des „Sozialfaschismus“, in der die Sozialdemokratie zum Hauptfeind erklärt wurde.
Ab 1945: „Neofaschismus“
Die Vorsilbe „neo“ markiert den Epochen-Bruch: Sich im Wissen um die Verbrechen und die katastrophale Niederlage des Faschismus erneut und bewusst für ihn zu entscheiden, offenbart besondere Bösartigkeit oder Verblendung. Außerdem betont das „neo“ die besondere Dimension der historischen faschistischen Verbrechen im Vergleich zur heutigen extremen Rechten. An den Neofaschist/-innen ist allerdings nur wenig wirklich neu. Bisher fehlt ihnen zwar die Macht ihrer historischen Vorbilder, doch sie vertreten die gleiche mörderische Ideologie.
1960—1980: Karriere als Kampfbegriff
In der Zeit des Kalten Krieges wurden zahlreiche antikommunistische, mit USA und NATO verbündete Diktaturen in weniger mächtigen Staaten von linker Seite als faschistisch bezeichnet. Die Regime dieser Art unterdrückten oppositionelle Bewegungen grausam und ermordeten jeweils tausende oder zehntausende Menschen. In manchen Fällen nahm der Terror genozidale Ausmaße an. Im Personal der antikommunistischen Diktaturen und Bürgerkriegstruppen des Kalten Krieges gab es bis in die Führung hinein nicht wenige offene Faschisten. Doch meistens fehlte eine faschistische Massenbewegung. Statt sich wie in Italien 1922 und Deutschland 1933 mit einer faschistischen Partei und ihrer Terror-Miliz zu verbünden, übernahmen ultrarechte Kreise aus Militär, Polizei und Geheimdiensten gleich selbst die Macht. Sie herrschten im Interesse privilegierter Schichten und mit Unterstützung durch die USA und andere westliche Staaten wie die BRD. Diesen Regimen fehlten der totalitäre Anspruch und die pseudo-antikapitalistische Demagogie, die für manche Faschismen vor 1945 kennzeichnend gewesen waren. Auch Antisemitismus und Rassismus spielten eine geringere Rolle. Außenpolitisch konnten diese Diktaturen nicht an den Imperialismus und Militarismus Nazideutschlands oder des faschistischen Italiens herankommen. Nichtsdestoweniger waren sie antikommunistisch, nationalistisch, antidemokratisch und extrem repressiv.
Etwa seit den sechziger Jahren wurde es linksradikale Mode, auch den demokratisch verfassten Kapitalismus als faschistisch zu denunzieren: Angeblich bedurfte der „Neue Faschismus“ keiner besonderen Ideologie und Massenbewegung, um sich im Staatsapparat und im staatlichen Handeln immer mehr zu verwirklichen.
Bei dieser Inflationierung des Faschismusbegriffs waren zwei Wörter besonders hilfreich. Das eine lautete „Faschisierung“ und meinte einen Prozess des Faschistisch-Werdens, das andere war „faschistoid“, also faschismusartig oder faschismusähnlich. Mit diesen Wörtern konnte jede Repression als faschistisch, faschistoid oder Ausdruck der Faschisierung gebrandmarkt werden. Ursprünglich berechtigter Hinweis auf autoritäre Tendenzen in den kapitalistischen Demokratien, verkam die Rede von der Faschisierung und vom Faschistoiden zur ultralinken Phrase, bei der nicht mehr genau angegeben werden musste, wer oder was inwieweit faschistisch geworden war. Den Staat oder den Kapitalismus insgesamt als faschistisch zu denunzieren, hatte aus linksradikaler Sicht auch den Vorteil, extreme Aktionsformen wie Attentate und Anschläge als antifaschistischen Kampf zu rechtfertigen.
Der jeden Rahmen sprengende Charakter der faschistischen Verbrechen hielt viele Linke nicht etwa davon ab, mit dem Faschismus-Vorwurf um sich zu werfen, sondern steigerte im Gegenteil die Verlockung, sich dieses ultimativen Kampfbegriffs zu bedienen. Der Faschismus wurde bagatellisiert.
Ab 1980: Die Lage in Deutschland
Neben dem polemischen Alltagsgebrauch des Faschismusbegriffs gab es immer auch eine linke Theorie-Diskussion auf hohem Niveau. Trotzdem war der Faschismusbegriff irgendwann Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre so abgenutzt und ausgedehnt, dass ihn zunehmend auch nicht-rechte Wissenschaftler/-innen mieden. Als sich in den 80er Jahren eine neue liberal-konservative Vorherrschaft anbahnte, kam der Faschismusbegriff im (west-) deutschen Wissenschaftsmainstream endgültig aus der Mode. Wer ihn dennoch verwendete, bekannte sich damit zu einer linken Gesinnung oder machte sich einer solchen verdächtig. Der Untergang der DDR und ihrer marxistisch-leninistischen Staatsideologie 1989 diskreditierte den stark marxistisch geprägten Faschismusbegriff weiter.
Im bundesdeutschen Mainstream wird der hiesige aktuelle Faschismus normalerweise „rechtsextrem“, „rechtsradikal“ oder auch „rechtspopulistisch“ genannt, während historisch meistens vom „Nationalsozialismus“ die Rede ist. Auch Teile des linken, antifaschistischen Milieus ziehen Bezeichnungen wie „extreme Rechte“ dem umstrittenen und vorbelasteten Faschismusbegriff vor. Dieser Begriff scheint vielen Antifaschist/-innen außerdem unbrauchbar, um die Einzigartigkeit des Nazismus und seiner Verbrechen zu erfassen.
Etwa seit der Jahrtausendwende wird der Faschismusbegriff aber wieder mehr benutzt und diskutiert. Ein Grund dafür ist der internationale Aufschwung neuer Faschismustheorien und vergleichender Faschismusforschung seit den neunziger Jahren. Ein weiterer Grund ist das weltweite Erstarken extrem rechter Kräfte, das eine Suche nach geeigneten Begriffen und Theorien auslöst.